Informieren, kolportieren, Intelligenzquotient nicht überschreiten
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 88-91]
Das semantische Spektrum des englischen Lexems ›intelligence‹ reicht von der einfachen Nachricht oder Information über die im deutschen Sprachgebrauch dominierende Kognitionsleistung bis zur ja nie genau spezifizierbaren Arbeit von Geheimdiensten und Spionen. Das Merkmalsbündel bezeichnet zugleich eine begriffliche Menge, die man unter das Signum der Nachrichten-Apps stellen könnte. Die Rede ist also von Anwendungen, die uns informieren, Daten kolportieren und dabei versuchen, den Intelligenzquotienten ihrer User nicht zu überschreiten. Die im lateinischen Ursprung des Wortes angelegte ›Wahl-zwischen‹ (›inter-legere‹) grundiert in jedem Fall die Beschäftigung, aber dazu später.
Wir wollen zunächst den militärischen und also nachrichtendienstlichen Ursprung aller Formen ›smarter‹ Technologie ignorieren und uns, wie es sich für eine Handykolumne gehört, der zivilen Nutzung zuwenden. Wenn man ganz ehrlich ist, hat das Mobiltelefon als solches mit Einführung des Short-Message-Service seinen Höhepunkt in Sachen Nutzwert erreicht. Bereits die kürzlich als Non-Fungible-Token versteigerte erste SMS verbindet auf kongeniale Weise menschliche Wärme und digitale Effizienz: »Merry Christmas« schrieb Ingenieur Neil Papworth 1992 an einen Kollegen. Und kaum waren diese Worte getickert, ging ein Stern am Himmel auf, der soziale Interaktion fortan auf ein derart rudimentäres Kommunikationsmodell verpflichtete, dass es Luhmann die Schamesröte ins Gesicht trieb. Und wer dächte nicht an die prophetischen Worte aus der Offenbarung des Heiligen Niklas (Soz 4,1) – »Erst dadurch, daß diese Anregung aufgegriffen, daß die Erregung prozessiert wird, kommt Kommunikation zustande« – wenn der eigene Homescreen wieder von Pseudomitteilungen aus der Familien-WhatsApp-Gruppe überquillt?
Überhaupt Instant-Messaging. Die simkartengebundene SMS wird bald von Diensten abgelöst, die den Kanal via ›client‹ und ›server‹ permanent offenhalten: 1996 startet ICQ, 2005 ist mit dem Blackberry Messenger die erste mobile Anwendung verfügbar. Es gab mal eine Zeit, erzählen wir unseren Kindern, in der das Blackberry am Gürtel einer ganzen Kaste von Kapitalisten als Erkennungszeichen diente. Damals war das hektische Fummeln auf einer viel zu kleinen Tastatur noch wohl gelittene Begleiterscheinung der Zukunftsteilhabe und entbarg jeder Blick auf den ›Knochen‹ kollabierende Kurse oder nicht minder schwindelerregende Gewinne. Nur wenig später kam allerdings die Frage auf, was die schöne neue Welt eigentlich mit den so entstandenen Daten anstellt. Nicht zuletzt mit dem ›sexting‹ (also dem schamlosen und/oder erpresserischen Versenden erotischer Kurzmitteilungen) (nicht mit ›cyberflashing‹ zu verwechseln) steht die Datensicherheit ganz oben im Regal der virtuellen Gefahrenstoffe.
Tatsächlich werden noch immer und zunehmend Accounts gehackt, etwa indem man unbedarfte User verleitet, eine bestimmte Num**mer* anzurufen, was in Sachen Cloud und e-Commerce natürlich unangenehm werden kann. Manchmal poppt auch nur eine Werbung für Rasenmäher auf, weil man kurz vorher an Rasenmäher gedacht hat. Die anfangs als USP der Instant Messenger gelaunchte ›end-to-end-encryption‹ ist also vom Standpunkt ›intelligence‹ total insufficient. Aber vielleicht führt die ›big-data-angst‹ dazu, dass nur ein Bruchteil der unnötigen, weil verwackelten, mittendrin abbrechenden, intime Details zur Schau stellenden Videoanrufe, der laberig-redundanten Sprachnachrichten und nicht enden wollenden Emoji-Kaskaden vermieden werden, was dann auch ein Gutes hätte.
Hier wie dort geht es um Aufmerksamkeitsökonomie, welche in einer klassischen Demokratie von den klassischen Medien bespielt wird. In der ersten Abteilung des deutschen Pressekodex heißt es klipp und klar: »Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.« Dies gilt auch, möchte man hinzufügen, wenn die Schlagzeile ein handfestes Desiderat formuliert (etwa: »Wie man Desinformation erkennt« oder »Kommt die Herbstwelle schon im Sommer?«, SZPlus.de, 3.6.2022), dessen Füllung dann zumeist eine Paywall hemmt. Die aus Sicht der Zeitungsverlage verständlichen, schlichter ökonomischer Bedrängnis folgenden Gebühren für digitale Angebote werfen aber bisweilen die Frage auf, welche Informationen die mündige Bürgerin unterrichten und somit frei zugänglich sein müssten – und welche vom Standpunkt des Grundgesetzes aus gesehen verzichtbare Hintergründe liefern (»Warum Giraffen einen so langen Hals haben«, ebd.). Da es ziemlich ins Geld geht, alle Qualitätsmedien zu abonnieren, gerät die Nachrichtensichtung unterwegs häufig aus Geiz und Bequemlichkeit zum bloßen Headline-Surfing, was dem Anspruch und Selbstverständnis der jeweiligen Organe keinesfalls entsprechen dürfte.
Schuld daran ist, neben dem Bossa Nova, natürlich die sensationsheischende Clickbait-Hölle im Rest des Netzes. Wenn es in der elften Abteilung des zitierten Pressekodex heißt: »Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird«, beschreibt dies relativ präzise, was man machen kann, um Aufmerksamkeit zu erhalten. Womit wir beim Microblogging und den kürzlich ebenfalls in der »Süddeutschen« lancierten 184 Arten sich zu irren wären: »154. Illusory-Truth-Effekt: Phänomen, bei dem sich wiederholende Aussagen eher als richtig eingeschätzt werden als einmalige Aussagen.« (»SZ«, 28.5.2022, 34f.)
Wer mal sehen möchte, wie sich Qualitätsmedien richtig ranschmeißen, kann den tiktok-Kanal der »Zeit« aufrufen. In kurzen Qualitätsvideos werden hier die drängenden Fragen der Menschheit (etwa »Wie lange dauert Sex durchschnittlich?« oder »Wie erkennt man gute Eier?«) von jungen ›Newsfluencerinnen‹ (dies eine Wortschöpfung von mir) (ja?) bündig erklärt. Die »FAZ« hat auch einen tiktok-Kanal, aber da ist natürlich nichts los. Ob »official _bildnews« tatsächlich kein offizieller Account der »Bild« ist, wie das Fehlen des blauen Hakens suggeriert, lässt sich aufgrund des offiziösen Charmes der Zeitung nicht abschließend klären. Man erhält jedenfalls auch hier kurze Videos, die im weitesten Sinne Nachrichten verbreiten (»Flugzeug brennt« oder »Massenvergewaltigung in Hamburg«, Zugriff am 7.6.2022). Die Beiträge zeigen insgesamt, dass die Teilhabe an der res publica auch niedrigschwellig funktionieren kann.
Der Elefant im diskursiven Raum des Microbloggings ist natürlich Twitter. Im Kontrast zum Sozialen Netzwerk Facebook, welches das dreigliedrige Kommunikationsmodell strapaziert, wird auf Twitter die hohe Kunst der Mitteilung mit diffusem Adressaten gepflegt. Ist das Facebook eine neuartige Form des Poesiealbums, ersetzt Twitter in gewisser Hinsicht die am heimischen Schreibtisch zusammengetackerte Schülerzeitung. Will heißen, der Informationsgehalt der jeweiligen Nachricht speist sich allein aus dem Mitteilungsbedürfnis des Senders. Denn genauso wie man die Redakteure der Schülerzeitung für ihr Engagement lobt, nicht für investigative Berichte, interpretiert Twitter das namensgebende Gezwitscher der Vögel naiverweise als ›chatter‹, und ignoriert damit dessen eigentliche Funktion: Revierkampf, Balz. Dass wild gewordene Dickhäuter die Zwitschermaschine gelegentlich kapern, um auf dem Schulhof harte Realpolitik zu betreiben, ist absehbare Folge dieser begrifflichen Ungenauigkeit.
Zu seinen Hochzeiten hat Donald Trump 34 Tweets pro Tag abgesetzt, wie die Webseite statista.com feststellt. Die naheliegende Frage, ob man als Abonnent des Trump-Feeds nicht ohnehin schon indoktriniert sei, die Menge an ›fake news‹ also nur in immer größere Kloaken plumpse, wurde am 6. Januar 2021 obsolet, als es @realdonaldtrump schaffte, den aufgebrachten Prepper-Mob bis ins Kapitol zu lotsen. Wie sehr ihn die darauffolgende Sperrung seines Twitter-Accounts ärgerte, lässt sich unter anderem an der Gründung seiner neuen Schülerzeitung Truth Social ablesen, die aber nur noch im Lehrerzimmer ausliegt und nicht mehr in den Klassen verteilt wird. #nonmention.
Neuer Schülersprecher wollte zwischenzeitlich nach eigenem Bekunden Elon Musk werden, der mit FinTech, Elektro-Autos, Raketen und Haar-Transplantationen zu Wohlstand gekommen ist und sich im Frühjahr 2022 anschickte, den Laden für 44 Fantastilliarden zu kaufen. Musk versprach, den Dienst in den Dienst der freien Meinungsäußerung zu stellen, und demonstrierte auch gleich, was er darunter versteht: Manipulationen des Marktes durch Kolportage. Zweifellos eignet sich kaum ein Massenmedium so gut wie Twitter, um halb spekulativen Aussagen den Status performativer Akte zu verleihen. Denn die Märkte selbst sind durch Spekulationen entstanden und mittlerweile so nervös, dass die Äußerung der Eventualität eines Ereignisses und das Ereignis selbst synonym werden. Ähnlich wie mit seiner etwas scheinheiligen Frage nach der Zahl der Fakes und Bots im Twitterversum hatte Musk bereits im letzten Jahr den Wert von Kryptowährungen beeinflusst, was ihm, wie Spiegel-Online (6.6.2021) berichtete, die Kritik der Hackervereinigung Anonymous einbrachte.
Während also die rechtschaffenen Kriminellen dem moralisch eher flexiblen Entrepreneur vorwerfen, dass grüne Technologien wie Tesla, Inc. sich nicht durch Steuergutschriften, minderjährige Lithium-Kumpel und Bitcoin-Lotto finanzieren sollten, gründete Eugen Rochko in Jena Mastodon, einen als dezentrales Netzwerk organisierten Microblogging-Dienst, der sich zwischenzeitlich als Alternative zu Twitter etabliert hat. Ohne irrlichternden CEO, so die Idee, läuft die Schülerzeitung nicht Gefahr, zur Interessenvertretung zu verkommen. Leider verhindert die rhizomatische Struktur der Seite es aber auch, wirksam gegen rechtsradikale Netzwerke wie Gab vorzugehen, dessen User, einem bereits im Juli 2019 erschienenen Artikel der Website The Verge zufolge, Mastodon als Plattform gekapert haben: »While Gab has no official political affiliation, it’s known as a haven for far-right or explicitly fascist users too extreme for bigger networks. Its hands-off moderation approach is antithetical to many supporters of Mastodon, whose creator has officially stated he’s ›completely opposed to Gab’s project and philosophy.‹« (Adi Robertson, the verge, 12.7.2019)
Hier also stehen wir mit dem Spatz in der Hand. Versuche, kalkuliert eskalierenden Lügnern wie Donald Trump das Medium zu entziehen, werden (u.a. von Elon Musk) als Zensur gebrandmarkt, wohingegen die egalitäre Schwarmintelligenz sich von ein paar Nazis desavouieren lassen muss. »Intelligenz«, schreibt Luhmann, »ist die Bezeichnung dafür, daß man nicht beobachten kann, wie es zustande kommt, daß das selbstreferentielle System im Kontakt mit sich selbst die eine und nicht die andere Problemlösung wählt.« (Soz III,2) Nachrichten-Apps scheinen zunehmend selbst zum Medium des richtigen oder falschen Lebens zu werden; ihre Form, die Nachricht, tut da eigentlich nichts zur Sache. Merry Christmas.