Musik-Streamingdienste
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 42-47]
Leise erklingt beim Verfassen des Artikels im Hintergrund das Nylonsaiten-Gezupfe der Apple-Music-Playlist »Bossa Nova Essentials«. Es legt sich wie Balsam über das Nervenkostüm des durch seine befristete Anstellung notorisch besorgten Autors, von den portugiesischen Lyrics werden nur Bruchstücke verstanden und dringen kaum ins Bewusstsein. Unser Autor erkennt, dass die ehemalig als progressiv wahrgenommene Arbeit von Astrud Gilberto, Antônio Carlos Jobim und Stan Getz im Reich der Fahrstuhlmusik angekommen ist. Er hat im Moment gar keine Lust, Plattencover zu studieren, die Harmoniewechsel, Melodien und Stimmentimbres zu reflektieren, die Eigenheiten der Produktion zu goutieren – immer öfter wählt er eine Playlist lediglich wegen ihrer Funktionalität aus. Sie korrespondiere bitte mit seiner Stimmung oder versetze ihn in eine bestimmte Gemütslage. Er braucht Musik, die beim Arbeiten nicht stört oder vielmehr: die ihn auf angenehmste Weise in den Arbeitsflow kommen lässt. Die »Bossa Nova Essentials« bieten ihm all das. Es handelt sich um eine herkömmliche, wenn auch sehr umfangreiche genrespezifische Compilation. Doch hat sich der Kontext, in dem sie gehört wird, grundlegend geändert. Folgt man der Rhetorik des Apple-Music-Werbetextes, scheint es nicht nur darum zu gehen, das Genre Bossa Nova zu repräsentieren. Der Musik-Konsum verfolgt auch den Zweck, sich in einem tropisch-entspannten und doch kultivierten Klima zu wähnen: »Ocean breezes. Beachside cafes. Polish, style and sophistication«, der Bossa-Sound evoziere »an easy life, well-lived«.
Deutlicher hervorgehoben wird die Funktionalität der gestreamten Musik in der Beschreibung der Playlist »Living in the Library«: »Nothing helps focus the mind better than a concentrated dose of hypnotic, low-key grooves.« Auch über die Apple-Playlist »Study Beats« heißt es: »These slinky, downtempo grooves are excellent mood-setters; they also happen to make wonderful study aides. Consider them the sonic equivalent of a good desk lamp and a comfy chair.« Die Präsenz solcher Playlisten auf Apple Music bedingt, dass der Suchbegriff »Focus« nicht mehr zur gleichnamigen niederländischen Prog-Rock-Band um den Flötisten Thijs van Leer und den Gitarristen Jan Akkerman führt, sondern in eine Welt des funktionalen Streamings. Sie fächert sich auf in »Morning Focus«, »Pure Focus«, »Deep Focus« und stellt Playlisten wie »Relaxing Classics« und »Homeschooling Instrumentals« bereit. Es entsteht ein neues Genre der Produktivitäts- und Achtsamkeitsmusik jenseits der gängigen Genres.
An die Stelle der historisch gewachsenen Genres tritt nun also die stimmungsbasierte und zweckorientierte Rubrizierung, und mit ihr rückt das Image der einzelnen Musikerinnen und Musiker in den Hintergrund. Diedrich Diederichsen erachtete in seiner 2014 veröffentlichten Studie »Über Pop-Musik« noch das Interesse an ebendiesem als konstitutiv für den Pop-Konsum: »Der Pop-Rezipient wird von einer unstillbaren Neugier nach der Identität seines doch namentlich und mythologisch bekannten Gegenübers angetrieben. Was ist das für ein Typ, für eine Person, wie ist der oder die drauf, welche Haltung vertritt sie, welche Pose hat sie generiert?« Die Verlagerung in Richtung Funktionalität scheint das Interesse an diesen Fragen relativiert zu haben. »It turns out that playlists have spawned a new type of music listener, one who thinks less about the artist or album they are seeking out, and instead connects with emotions, moods and activities, where they just pick a playlist and let it roll«, bemerkt die Musikjournalistin Liz Pelly in einem Artikel in »The Baffler« vom Dezember 2017. Die Art der Rezeption ähnelt nun eher dem Wohnen in einem Smart Home: man lehnt sich zurück, während sich die Umgebung anpasst. Dieser automatisierte Konsum steht dem aktiven und diskursiven Plattenauflegen entgegen. »In the background« – dies sei ein passender Zusatztitel für den Großteil der Spotify-Playlisten, so Liz Pelly. Die Musik läuft einfach immer weiter, es gibt kein Ende des Albums und schon gar keinen Tonträgerwechsel, kein Umdrehen, die Musik verstummt allenfalls, wenn der Akku leer ist.
Mit diesem Rezeptionsmodus steht ein Verlust der »nerdigen Andacht« zur Debatte, den Felix Johannes Enzian schon vor zehn Jahren im Zusammenhang mit einem Verlust des Albumformats durch »virtuelle Reizüberflutung« diskutierte (»FAZ« v. 24.9.2012). Auch unser Autor kam ins Grübeln, als er kürzlich zur Abendstunde das neue Album von Kurt Vile hörte, einschlief, und am nächsten Morgen beindruckt feststellte, dass immer noch Musik im Stil von Kurt Vile zu hören war. Apple Music hatte die ganze Nacht Musik abgespielt, die so ähnlich klang wie das, was man davor gehört hatte. Die Anekdote verweist auf die regressive und resignative Hingabe an die unendlich wabernden Soundscapes, die dem begrenzten Album-Format wie auch einem Kanon (wie er sich etwa im Kontext der »Spex« herausbildete) entgegenstehen. Wozu braucht man noch Pop-Diskurs, wenn der auf der Vorliebe für Kurt Vile basierende Musikgeschmack schon in der Apple-Playlist »Dad Rock« (»Musik-Leidenschaft von Männern in den besten Jahren«) präfiguriert ist? Eine Recherche à la Diederichsen mit der Leitfrage ›was sind das für Typen?‹ erübrigt sich, wo der Pop-Diskurs den Algorithmen und den Content managenden Kräften der Streamingdienste überlassen wird. Die Passivität des Streamings erscheint gar als Facette der neoliberalen Marktdynamik, wenn die Musikfans zu reinen Konsumenten werden, sich überhaupt nicht mehr in ein bestimmtes Interessensgebiet einarbeiten müssen, vielleicht auch zu erschöpft sind, um dies zu tun, in ihrer Passivität aber doch reichlich ›Plays‹ abrufen. Die mit den Playlists verknüpfte Erschöpfung bemerkt auch Liz Pelly: »These algorithmically designed playlists […] have seized on an audience of distracted, perhaps overworked, or anxious listeners whose stress-filled clicks now generate anesthetized, algorithmically designed playlists.«
Der Diskurs scheint in weite Ferne gerückt zu sein. Obgleich mehr Geld denn je für Musik ausgegeben wird – nicht nur für Streamings, auch für Vinyl – gibt es kaum eine interessante Musikzeitschrift, die überlebt hat, und für den Besuch eines kanonbildenden Plattenladens muss man sich in ein anderes Stadtgebiet bewegen. Apple Music bringt den Diskurs wiederum stimmungsbasiert ins Spiel, indem die Rubriken auf aktuelle politische Ereignisse angepasst werden. Zur Zeit des Ukraine-Kriegs findet sich die Liste »Frieden auf Erden« mit den Beatles (»Let it Be«), Bob Marley (»Three Little Birds«), Coldplay (»Paradise«), den Jackson 5 (»I’ll Be There«) und Sting (»I hope the Russians love their children, too«). Alternativ stehen die Listen »Hoffnung«, »Gelassenheit«, »Friedlich« und »Sieh’s positiv« bereit. Der paradigmatische ›Fokus‹ wird auch im Umgang mit den weltpolitischen Ereignissen auf das Selbst gelenkt und in einen Achtsamkeitsdiskurs eingebettet. Dies korrespondiert insgesamt mit einem Trend zum individuellen, introspektiven Musikkonsum, der sich auch schon vor der Pandemie abzeichnete. Das »Wir« der Jugendbewegungen ist passé, wie der sprechende Titel der Apple-Playlist »I miss Brit Pop« verrät, der in der ersten Person Singular sehnsüchtig auf Zeiten verweist, in denen es anders war. Auch die Konjunktur sogenannter ›Laber-Podcasts‹ nach dem Vorbild von Jan Böhmermanns und Olli Schulz’ »Fest & Flauschig« kann mit einem Bedürfnis nach Geselligkeit erklärt werden. Das Hintergrundgeplauder der beiden Entertainer bildet hier das Pendant zur Focus-Playlist.
Der introspektive Musikkonsum der Streaming-Welt bringt einige Veränderungen in der Musikproduktion mit sich. Oberstes Ziel ist es, Musik zu produzieren, die möglichst häufig mindestens 30 Sekunden lang gehört wird – erst dann gilt ein Song bei Spotify als abgerufen, die Tantiemen werden ausgezahlt, und dies auch nur, wenn der Computer nicht stummgeschaltet ist. Entsprechend muss die Produktion des Songs auf die Click-Ökonomie der Rezipierenden ausgerichtet sein. Zunächst gilt es, die Rezipierenden mindestens 30 Sekunden lang zu ›halten‹, deswegen beginnen mittlerweile viele Songs mit dem Refrain und die Stimme setzt früher ein. Zudem wird die einstige Standard-Länge einer Radio-Single (3.30 Min.) immer häufiger unterschritten, weil kürzere Songs einen höheren Wiederspielwert haben und so öfter abgerufen werden, was zu höheren Chartplatzierungen führt. Die Musikerin Balbina kritisiert in einem Beitrag der Sendung »Tracks« auf dem Sender arte, dass im Spotify-Kontext »für den algorithmischen Bedarf produziert« werde. Begünstigt werde Musik, die konform ist mit einem bestimmten Genre.
Erfolgreich werden Songs auf Spotify im Sinne einer Playlisten-orientierten Musik: Streaming-Hits stehen nicht unbedingt strahlend als Solitär im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, sondern finden ihren Weg auf massenhaft abonnierte Playlisten, wo sie dann massenhaft – durchaus auch ›im Hintergrund‹ – abgespielt werden. Es mutet paradox an, dass die erfolgreichsten Songs eher ruhig sind und sich auch inhaltlich mehr an das Individuum denn an die Crowd richten. Der Musik-Konsum in Isolation zeigt sich auf Spotify durch eine Nachfrage nach ›intimen‹ Momenten in der Musik, die nun auch verstärkt über Kopfhörer konsumiert wird. In einem »Pitchfork«-Artikel mit dem Titel »Uncovering How Streaming Is Changing the Sound of Pop« vom 25.9.2017 gibt der Autor Mark Hogan Statements anonymer Songwriter und Produzenten wieder, die er im Rahmen seiner Recherche befragt hat. Demnach führe die oben beschriebene Entwicklung zu eher gemurmelten denn expressiven Gesangsperformances. In der Produktion werde darauf geachtet, dass der Gesangsvortrag sich ›näher am Ohr‹ anfühlen soll. Tritt an die Stelle von ästhetischer Erfahrung im Konsum von Pop-Musik eine zweckgebundene, fast schon therapeutische Komponente, die in Richtung ASMR tendiert? Dieser Pop als Entspannungsübung folgt freilich auch einer Strategie: Durch die Platzierung auf den einschlägigen Playlists, die ›im Hintergrund‹ laufen, werden ›passive‹ Clicks generiert.
Liz Pelly spricht in einem weiteren Spotify-kritischen Artikel (»The Baffler«, veröffentlicht am 11.12.2018) von einem neuen, eng mit Spotify assoziierten Genre des »muted, mid-tempo, melancholy pop« im Stil von Lana del Rey und Billie Eilish. Eine Strategie des Konzerns bestehe darin, bestimmte stimmungsbasierte Genres samt einschlägiger Acts zu etablieren und an die Plattform zu binden. Dabei werden exklusive Spotify-Formate geschaffen (wie die Reihe »Spotify Singles – Recorded at Spotify Studios«) und Kollaborationen von Acts angeregt, die häufig in bestimmten stimmungsbasierten Playlists mit bis zu 4 Millionen Followern auftauchen wie etwa »Chill Hits«, »Chill Tracks« oder »Sad Songs«. Die von Balbina angedeutete Konformität lässt sich hier anhand des homogenen Klangbildes nachvollziehen. Hört man sich die in dem Pelly-Artikel erwähnte Single »Psychopath« (2018) von Charlotte Lawrence, Nina Nesbitt und Sasha Alex Sloan an sowie die darauf folgenden automatisch zugespielten Songs, wird man die immergleichen Zutaten bemerken: eine traurige weibliche Gesangsstimme mit dezentem Einsatz von Autotune, mittleres Tempo (Drumcomputer mit HiHats in Sechzehntelnoten), (E-)Piano, Synth-Bass und mehrstimmigen Gesang. Pelly spricht von »Spotify-Core« als Musik, die gemacht sei für »data-driven systems of mood-enhancing background music«. Spotify liebe Chill-Playlisten, so Pelly, den diese seien »the purest distillation of [Spotify’s] ambition to turn all music into emotional wallpaper. They’re also tied to what algorithm manipulates best: mood and affect.« Pelly befürchtet die Usurpation des Pop-Diskurses, des Musikjournalismus, der innovativen Label-Arbeit durch eine totalitäre Playlisten-Logik, die auf der Erkenntnis basiert, dass sich mit Stimmungen und Affekten schlicht mehr Clicks abrufen lassen. Dies führe zu einer ›generischen‹ Ästhetik, die sich nicht zuletzt im Spotify-Bildmaterial erkennen lasse: »Note how the generically designed, nearly stock photo images attached to these playlists rely on the selfsame clickbait-y tactics of content farms, which are famous for attacking a reader’s basest human moods and instincts.« Die Chill-Out-Listen versprechen einerseits Entschleunigung, kommen aber selbst optimiert daher und lassen innerhalb der Songs wenig Freiraum für Extravagantes.
Auch der Publikationsrhythmus der Streamingdienste gehorcht mehr als das ›alte‹ Musikgeschäft der Marktlogik, werden doch in immer kürzerem Abstand Singles und Alben (manche Acts veröffentlichen drei Alben im Jahr) herausgebracht, statt mit einem ausgefeilten Album den großen künstlerischen Wurf zu landen. Dieser Modus in der Produktion wird von Spotify-Gründer Daniel Ek in seinem YouTube-Statement »Stream On« ausdrücklich befürwortet – er nütze der Musikindustrie, den Fans und den Acts gleichermaßen. Für letztere entsteht so der Druck, durch geschickte Platzierungen auf Playlisten zu landen, um möglichst häufig gestreamt zu werden. Größere Plattenfirmen hingegen beschäftigen gezielt Songwriter-Teams, die sozusagen anonym ›generische‹ Musik auf Masse für die einschlägigen Playlists produzieren.
Im alten Musikmarkt galt es noch als ›Urban Legend‹, dass Plattenfirmen hin und wieder Bestände ihrer eigenen Produkte aufkauften, um Chart-Platzierungen zu erlangen. Mittlerweile gibt es ganz neue Möglichkeiten des ›Nachhelfens‹: Besonders dreist, aber letztlich konsequent im Umgang mit der Spotify-Logik, rief Justin Bieber seine Fans auf, die Single »Yummy« auf Platz 1 zu hieven, indem sie Playlisten einzig mit diesem Song erstellen und diese – auch nachts – in Dauerschleife laufen lassen sollten (gerne auch leise, aber nicht auf »mute«). Die in einem TV-Beitrag von »Tracks« porträtierte Fan-Initiative BTS Army verfolgt ein ähnliches Ziel. Als internationale Gemeinschaft soll der von den Mitgliedern verehrten K-Pop-Band BTS durch strategische Likes, Clicks, Kommentare und dem Teilen von Playlisten größere Bekanntheit verschafft werden. Die Fans ersetzen so die professionelle PR-Abteilung. Wichtig sei es, so die interviewten BTS-Fans, relevante Kommentare zu posten, um nicht als Bot gewertet zu werden. Die Army macht sich die Arbeit, weil sie eine Diskrepanz sieht zwischen Größe und Zusammenhalt der Fan-Community und der Präsenz im Mainstream des Streaming-Universums. Bemerkenswert erscheint hier das Bedürfnis, ›Mainstream‹ sein zu wollen, das sich vom Mainstream der Minderheiten in den 1980er und 1990er Jahre unterscheidet.
Gegen die in diesem Artikel vorgebrachten Bedenken steht das Narrativ der Demokratisierung von Pop-Musik und der Stärkung des Long Tail. Durch die neuen Streamingdienste lernen wir womöglich Songs und Acts kennen, die ohne Algorithmus im Verborgenen geblieben wären oder die ohne die neuen, niedrigschwelligen Distributionskanäle keine Veröffentlichung vorgelegt hätten. Die Spotify-Führungskraft Jeremy Erlich betont in einem Interview mit dem »flowjournal«, dass es in letzter Zeit viele Hits ohne großen PR-Aufwand gab, die sich nur aufgrund ihrer Qualität durchsetzen konnten: »They organically raised their hand and rose to the top«. Als Beispiel nennt er die Songs von Tones And I oder von Arizona Zervas. Für diejenigen Acts, die keine solchen Smash-Hits zustande bringen können oder wollen, stellt sich allerdings die letztlich existenzielle Frage, wie lukrativ das Streaming-Universum für sie ist. Um eine etwas ernüchternde Hausnummer zu nennen: Auf Spotify erhält der Inhaber der Verwertungsrechte, also die Plattenfirma, für eine Million ›Plays‹, die auch erst einmal erreicht sein wollen, ca. 3500 €.