Eine kulturhistorische Notiz zu Masken- und Kostümbällen
Gehst du zum Arbeiten in den Garten, ziehst du dafür ausgelegte Kleidung an; fährst du zum Einkaufen in die Stadt, ziehst du dich um; abends geht‘s zu einer Hochzeitsfeier, und auch dazu liegt ein eigenes Outfit bereit. Die Beerdigung, der Besuch beim Notar oder beim Arzt, ein Abendessen in einem Restaurant – immer wird die Kleidung abgestimmt auf den Anlass. Wer die Kluft der Gartenarbeit einschließlich der Gummistiefel bei allen anderen Anlässen anbehielte, würde nicht nur auffallen, sondern sich wohl auch unwohl fühlen, weil die Kleidung das wohl wichtigste Medium der Anschmiegung von Person und alltäglicher Ordnung ist. Auch davon sprach Erving Goffman, als er den Alltag in Akte eines permanenten Theaterspiels zerlegte.
In all diesen Kleidungswechseln bleibt aber die Einheit der Person unter der sich verändernden äußeren Erscheinung erhalten, selbst dann, wenn die sozialen Rollen gewechselt werden. Natürlich könnte man auch dieses Spiel mit den Anpassungen von Kleidung und sozialem (und institutionellem) Kontext schon als ein „Spiel mit Maskierungen“ ansehen.[1] Allerdings verändert sich der Blick, wenn man sich auf den Maskenball konzentriert: Nun geht es nicht darum, mit der Kleidung Anpassungen an die sich verändernde Alltagswelt und ihre Bedingungen vorzunehmen, sondern die körperliche Identität der Person unter der Maske unkenntlich zu machen, sie zu verbergen. In aller Regel wird zu diesem Zweck auf Ansichtsstereotypen historischer Figuren zurückgegriffen.[2]
Begonnen hat die Konvention der Maskenbälle wohl im venezianischen Karneval des 12. Jahrhunderts (carnevale di Venezia). Oft verbunden mit Feuerwerken, Tierschauen, Marionetten-Aufführungen, akrobatischen Darstellungen u.a.m. feierte das gemeine Volk gemeinsam mit Adelsmitgliedern; Wein floss in Strömen. Die Kleiderordnung der Zeit schrieb vor, dass vor allem Halbmasken getragen wurden, die nur einen Teil oder eine Hälfte des Gesichtes bedeckten, wie sie als Sprechmaske im Theater gebräuchlich war. Darum auch wanderten diverse Figurenmasken (zanni) aus der commedia dell’arte in den Kanon der Masken ein (wie der Harlekin, der dottore, der pagliacco oder die Colombina).
Der Kanon ist bis heute veränderlich, wurde immer wieder ausgebaut und im Zuge der Internationalisierung der Maskenbälle um neue Figuren erweitert. Vor allem in der Barockzeit traten zeitgenössische Uniformen, Festgewänder, Kopfbedeckungen zum Fundus der Kostümball-Kostüme hinzu, der aber bis ins 19. Jahrhundert an Bedeutung verlor, bis er in Operetten und vermehrt auch in Veranstaltungen in Europa neue Bedeutung erlangte. Die Freiräume zur individuellen Ausgestaltung der Maske wurden allerdings massiv erweitert. Neue visuelle Prägnanz bekamen diese Bälle auch im Kino. Man denke an die Festszenen in Federico Fellinis Il Casanova di Federico Fellini (Fellinis Casanova, Italien 1976) oder Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (Großbritannien/USA 1999).[3]
Die Erneuerung des venezianischen Kostümfundus ist bis heute nicht abgeschlossen. Nicht nur, dass der (Kostüm-)Karneval seit 1979 ein jährliches venezianisches Stadtfest ist, sondern dass das Format in anderen Städten und von privaten Finanziers getragen viele Nachahmer gefunden hat. Dabei trat auch die erkennbare Tradition der Formenwelt des italienischen Karnevals zurück, wurde zu einem allgemeineren Konzept des Kostümballs verbreitert und popularisiert. Man kann die breite Kommerzialisierung dieser Art des Karnevals auch an den diversen heute verbreiteten Katalogen aktueller Masken für historische Maskenbälle ablesen (meist sortiert nach dem Geschlecht der Träger). Viele Impulse kamen in den letzten vierzig Jahren aus dem Milieu des Steampunk-Designs, das seine Kreativität immer wieder aus der Modernisierung und manchmal Uminterpretation älterer Vorbilder gewann. Und es traten andere Formate des Maskenballs neben die Tradition – so die Themen- und Mottopartys, Bälle außerhalb der Karnevalszeit (wie die Halloween-Partys) u.ä. Im späten 19. Jahrhundert entstand sogar das Format des „Lumpenballs“, bei dem zerschlissene, abgetragene Kleidung getragen wurde. Allen gemeinsam: die Gäste des Festes treten im Kostüm auf.[4]
Für ein pophistorisches Verständnis der Entwicklungen vor allem des 20. Jahrhunderts tritt aber ein anderes Charakteristikum in den Vordergrund: die allmähliche Veränderung der maskenhaften Figurenvorstellungen, die auf elementare Prozesse des populären Wissens hindeuten. Neue Modellfiguren treten den angestammten Figuren des venezianischen Karnevals zur Seite, viele von ihnen tragen Spuren der Geschichte ihrer Popularisierung. Figuren wie der Pirat (und die Piratin), die spanische Flamenco-Tänzerin (man denkt unwillkürlich an die Carmen aus Bizets Oper), die tanzende Zigeunerin (nach dem Bild der Esmeralda aus Victor Hugos Notre-Dame de Paris [1831]), die Figur des Rebellen und des Kampfes gegen die Mächtigen (wie die Zorro-Figur [1919]), des Musketiers aus der Zeit des Sonnenkönigs (als Romanfiguren erstpopularisiert in einem Roman Alexandre Dumas‘, 1844; seit 2003 mindestens fünfzig Verfilmungen).
Auch der Torero aus dem spanischen Figurenkreis oder die Fülle von Orientalia sollten nicht vergessen werden. Besondere Beachtung verdienen die Kopfbedeckungen, vom Turban der Maharadschas bis zum orientalisch-türkischen Fes – aus Filz gefertigt, mit Quaste –, vom Dreispitz bis zum Kirgisenhut. Andere Figuren aus populären Medien kamen dazu – die Charleston-Tänzerin etwa (aus den 1920er Jahren), die sombrerobewehrten Mexikaner aus unzähligen Western, die Sheriffs und Cowboys aus dem sagenhaften amerikanischen Westen. Manche tauchten als Modelle auf und verschwanden wieder (wie die czardas-tanzende Ungarin aus Filmen noch der 1950er Jahre) oder die blumenbekränzten Hula-Tänzerinnen aus Hawaii oder Tahiti.
Alle hier nur en passant erwähnten Beispiele zeigen, dass die maskierte Person, männlich wie weiblich, sich in eine „sprechende Maske“ hüllt. Zwar verschwindet das bürgerliche Ich unter der Verkleidung; ob sie sich darunter zu verbergen sucht, wie oft unterstellt wird, ist zweifelhaft. Durchaus treffend heißt es einmal in Schwarzwaldmädel (BRD 1950, Hans Deppe): „Nirgends kann man die Menschen so leicht durchschauen wie auf einem Maskenball – jeder kommt so, wie er gern sein möchte!“ Kommt also in der Kostümierung ein Wunsch-Ich zum Vorschein? Geht es um einen Kontrast zwischen den beiden Schichten des Kostüms, verbirgt sich das verkleidende Ich gar nicht, sondern zeigt sich besonders deutlich?
Interessant mag dabei sein, dass auch Elemente der traditionellen Kultur, die ihre Alltagsgeltung verloren haben, als Vorstellung von Kostümierungen weiterleben. In dem schon erwähnten Film Schwarzwaldmädel nach der Operette von Leon Jessel (1917) fragt der Maler Hans Hauser (gespielt von Rudolf Prack) die junge Bärbele Riederle (Sonja Ziemann), woher sie das „Kostüm“ habe. Sie trägt aber die regionale Tracht und insistiert, ihr Kostüm sei ebenso „echt“ wie die Äpfel, die sie herumträgt. Beides komme aus dem Schwarzwald – so, wie heute Umzüge oder Feste von Bewohnern des Spreewalds in den alten Trachten als folkloristische Unternehmungen wahrgenommen werden, nicht aber als Zeugnisse lebendiger Alltagskultur.[5] Die Modernisierung der Kleidungsordnungen ist bereits im ersten Heimatfilm des BRD-Kinos so weit fortgeschritten, dass zumindest für den Maler aus Trachten Kostüme geworden sind.
Das Gewohnte wird zum Fremden, zu einem Heimisch-Exotischen, das ähnlich entfernt vom Alltag ist wie der Pirat, die Haremsdame oder der Harlekin. Das Folklorisierte ist das Fremdgewordene. Und es bedarf eines Rahmens wie des Kostümfestes, um wiederaufgeführt zu werden, vielleicht mit dem Anspruch der historischen Treue der Neuaufführung. „Echt“ ist das Vergangene dabei aber nicht geworden. Und doch bleibt eine Differenz: Wer sich als Pirat zum Maskenball begibt, zieht nicht nur das Kostüm des Freibeuters an, sondern streift sich auch die aus Geschichten gewonnenen Charakteristiken des „Piraten“ über; aber diese „gewusste Figur“ fehlt in den Trachten-Verkleidungen, deren Bedeutungen in diffusem Dunkel verbleiben.
Anmerkungen
[1] Gerade in dieser Hinsicht ist die finale Modenschau mit nackten Models in Robert Altmans Film Prêt-à-Porter (USA 1994) als definitive Reduktion des Masken-Aspekts der Mode zu verstehen, als Sicht auf den Körper unter allen Verkleidungen.
[2] Gerade die Annahme, dass das Kostüm bzw. die Maske das einzige Kleidungsstück ist, das alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Ethnie, Klasse oder Sexualität irgendwann in ihrem Leben tragen können, ist Bedingung dafür, dass es ein Symbol der Flucht und des Protests werden kann. Sicherlich: Es steht für eine Vision von Fantasie und Spaß, ist fest dem Festlichen assoziiert; aber es konfrontiert den Kostümträger auch mit der Realität kultureller Stereotypen. Vgl. zu dieser These Wild, Benjamin Linley: Carnival to Catwalk. Global Reflections on Fancy Dress Costume. London/New York: Bloomsbury Visual Arts 2020.
[3] Auf Einflüsse aus Oper (etwa Giuseppe Verdis Un ballo in maschera (Ein Maskenball, 1859, nach einem Drama von Eugène Scribe [Gustave III. ou Le bal masqué] sowie einer Oper von Daniel-François-Esprit Auber [Gustave III. ou Le bal masqué, dt.: Gustav oder Der Maskenball, 1833] oder der Operette (wie in Johann Strauß‘ Die Fledermaus, 1874, mindestens zwölfmal verfilmt) kann hier nicht weiter eingegangen werden.
[4] Eine der wenigen Untersuchungen, die das Gesamt der performativen, theatralischen, zirzensischen und festlichen Maskeraden seit dem 19. Jahrhundert nachzeichnet, ist Popenhagen, Ron J.: Modernist Disguise. Masquerade in Modern Performance and Visual Culture. Edinburgh: Edinburgh University Press 2021.
[5] Tatsächlich besucht Bärbel Riederle einen Kostümball. Anders verfahren andere Filme: In Wilm ten Haafs TV-Adaption der Operette von Leon Jessel (BRD 1961) handelt es sich um eine schlichte „Trachtenschau“; in der Adaption von Wolfgang Liebeneiner (BRD 1973) wie schon in dem Stummfilm von Arthur Wellin (Deutschland 1920) wird lediglich das alljährliche Cäcilienfest gefeiert – wie schon in Jessels Operette (1917). (Die beiden anderen Verfilmungen [1929, 1933] konnten nicht autopsiert werden.) Auch Brigitte Hecks Artikel: Das „Schwarzwaldmädel“. Rückblicke und Ausblicke auf eine Erfolgs-Geschichte. In: Badische Heimat, 3, 2005, S. 341-348, erwähnt den so anderen Anfang der 1950er Adaption nicht.