Eventkultur
Einen Besuch auf der jährlich in Long Beach, Kalifornien, stattfindenden Trendmesse ComplexCon kann man sich in etwa so vorstellen wie einen begehbaren Roman von Joshua Groß: Rapper, Influencer und selbsternannte NFT-Connaisseure kommen hier für ein schrilles, mehrtägiges Shoppingevent zusammen, um laut Homepage auszuloten, »whatʼs now and next in pop culture«. Neben den gewöhnlichen Festivalbesucherïnnen waren im November 2021 u.a. A$AP Rocky, Lil Yachty sowie Fashion-Designerin und Kim-Kardashian-BFF Kristen Noel Crawley anzutreffen. Bereits im Rahmen der präpandemischen Ausgabe konnte die Zeit zwischen den »biggest style drops« mit dem Besuch von Hüpfburgen, original NBA-Basketballfeldern und Streetfood-Trucks überbrückt werden. Überhaupt scheint auf der ComplexCon ganz das ›Spiel‹ im Vordergrund zu stehen, eine der traditionsreichsten ästhetischen Kategorien, die hier allerdings weniger an Kant und Schiller erinnert, sondern im Sinne der durchcutifizierten Gegenwart zu verstehen ist.
Eine gewisse Playfulness ist bereits dem topologischen Ort der Veranstaltung eingeschrieben. Durch ihre räumliche Nähe zu Malibu – die Küstenstadt befindet sich nur 48 Autominuten entfernt – weckt Long Beach unter Umständen nicht nur Assoziationen zu camptauglichen, epilierten Rettungsschwimmern, sondern auch zu Videogames wie »GTA V«, in dem das fiktive Los Angeles eines Paralleluniversums parodiert wird. Popkulturell übercodierte US-amerikanische Küstenstädte finden derzeit auch im Kontext eines Gegenwartskomplexes besondere Beachtung, der die aktuelle deutschsprachige Literaturproduktion wie -kritik gleichermaßen heimsucht: Neben Joshua Groß’ »Flexen in Miami« (2020) oder Juan S. Guses »Miami Punk« (2019) ist vor allem an den Sammelband »Mindstate Malibu« (2018) zu denken, in dem die titelgebende Stadt das angemessen abzubilden scheint, was man als unsere postdigitale Gegenwart beschreiben könnte. Malibu steht hier stellvertretend für eine Realität, die »überreal, affirmativ und surreal« geworden ist – Prädikate, die auch für posthumane, ephemere Pop-Spektakel der Gegenwart zutreffen, man erinnere sich etwa an den Auftritt eines 2Pac-Shakur-Hologramms, das bereits 2012 unweit von Long Beach auf dem Coachella Valley Arts and Music Festival gemeinsam mit Dr. Dre und Snoop Dogg eine leicht unheimliche Version von »Hail Mary« performte.
Vor dieser Gemengelage scheint es nur naheliegend, dass eine Schwesterveranstaltung der ComplexCon seit 2020 im sog. Metaverse angesiedelt ist. Auf der im Mai 2022 gelaunchten ComplexLand 3.0, die mit einem psychedelisch fluoreszierenden Gamedesign in Astro-Blue und Purple aufwartet, stehen laut Homepage »Two unforgettable days of shopping, drops, talks, performances and reconnecting safely« an. Die Übersiedlung ins Digitale sei nicht nur pandemischen Zuständen geschuldet, vielmehr solle die immersive Erfahrung ganz den Bedürfnissen einer »fully digital generation« nachkommen, all jenen, deren »virtual identities« hier »just as much as their physical identities« gewertschätzt würden. Im Zentrum des Events stehen aber natürlich weniger identitätspolitische Anliegen der Gen Z als die Erschließung eines neuen Produktsegments. In Gamer-Lingo, die es mittlerweile auch in den Wortschatz von Generationen geschafft hat, die eher VCR- als VR-sozialisiert sind, heißt es da, es handele sich um die »first commerce based Metaverse experience that bridges the IRL with the URL«.
Das Metaverse – ein klingender Begriff, der irgendwie sexier anmutet als das leicht retrofuturistische, an muffige Diskettenlaufwerke erinnernde Cyberspace, aber in etwa dasselbe meint – hat sich spätestens seit der Umbenennung von Facebook in die Meta-Gruppe zu einem marktfähigen Buzzword entwickelt. Dabei sind Grundzüge des Projekts, eine Art begehbares Internet, in dessen Entwicklung Zuckerberg bereits zehn Milliarden Dollar investiert haben soll, längst bekannt, zum Beispiel von Formaten wie dem knapp zwanzig Jahre alten »Second Life« oder von Spieleherstellern wie Roblox oder Epic Games. In Epics »Fortnite« können Jugendliche schon jetzt gemeinsam abhängen, Konzerte besuchen oder sich von Toni-Kroos-Zombies mit der Schrotflinte ins Avatar-Gesicht schießen lassen. In Abgrenzung zu solchen Games soll das Metaverse jedoch »the ultimate promise of the internet – to be together with anyone« (so Zuckerberg in einem Werbevideo für Meta) auf ein ›next level‹ heben: Während der Shooter »Fortnite« noch – ganz im Sinne der Idee eines Web 2.0 – einen Raum mit begrenzter Spielerïnnenkapazität darstellt, den man temporär betritt, ist das Metaverse als permanenter Realitätslayer gedacht, der die Grenzen zur offline-Lebenswelt zunehmend verwischt. Diese Erfahrung soll nicht nur durch Augmented-Reality-Brillen sichtbar, sondern auch erfahrbar gemacht werden, deshalb arbeitet Meta bereits an der Entwicklung eines Ganzkörperanzugs, der »physical touch« simulieren soll.
Der real-dystopische Charakter des Projekts wird zusätzlich durch ein Markenmonopol gefestigt, das Zugangsrechte zu digitalen Grundstücken reguliert, die unter verschiedenen Investoren aufgeteilt werden. Ein bezeichnender Kontrast zu jenem hierarchiefreien, von seinen Nutzern selbst hervorgebrachten Medienenvironment, das John Perry Barlow in der »Declaration of the Independence of Cyberspace« 1996 mit einem »medialen Kaffeehaus« verglich, »einer virtuellen Piazza, die wie die mediterrane ihre zentripetalen Kräfte entfaltet«. Die Charakterisierung des Metaversums als »late capitalist technocratic nightmare« (so Keza MacDonald am 25.1.2022 auf der Homepage des »Guardian«) drängt sich im Vergleich dazu förmlich auf.
Die kulturpessimistische Kritik an neuen Medien, so befremdlich sie auch scheinen mögen, ist natürlich ebenso wenig neu wie Erkenntnisse über den sozialen Aspekt des Gamings oder die Fallstricke des (Plattform-)Kapitalismus. »Fortnite« etwa treibt nicht nur die Gamifizierung der Lebenswelt voran, sondern stellt neben E-Rollern wohl auch die größte Gefahrenquelle für die elterlichen Paypal-Accounts dar (Millennials können eventuell mit Erfahrungen an unfreiwillig abgeschlossene Jamba-Sparabos in den frühen Nullern ›relaten‹). Dass individuelle finanzielle Verluste jedoch das wohl kleinste Übel darstellen, macht eine Kritik deutlich, die vor allem den materialistischen Überbau des Metaverse anvisiert. Ähnlich wie das Mining von Kryptowährung in sibirischen Serverfarmen oder energieaufwendige Netflix-Server-Kapazitäten sind auch die Produktionsbedingungen der digitalen Spielwiese nicht gerade ressourcenschonend. Dieser Aspekt ist mittlerweile u.a. mit einem leicht megalomanischen Silicon-Valley-Mindset assoziiert, das sich in libidinös-infantilen Raumfahrttourismus-Projekten von Multimillionären widerspiegelt.
Elon Musk, dem passenderweise der Crazy Frog seine jüngste Eskapade – überschrieben mit »Space Y?« – widmete, diffamierte übrigens Zuckerbergs Metaverse-Euphorie in einem Twitter-Post und bezog sich indirekt auf eine Kategorie, die Richard Hamilton bereits Mitte der 1950er Jahre als Inbegriff der massenproduzierten, kapitalistischen, technologisch avancierten »pop art« positiv herausstellte und von der US-amerikanischen Kulturwissenschaftlerin Sianne Ngai hingegen in der Nachfolge der Kritischen Theorie paradigmatisch für die heutige zeitgenössische Warenform im Turbokapitalismus gelesen wird: das »gimmick«, eine bloße Spielerei, die gleichzeitig für eine Produktionsdynamik steht, die »overperforming« und zugleich »underdeveloped« erscheint.
Im Falle der ComplexLand 3.0 mutet die immersive Shopping-Experience tatsächlich wenig spektakulär und recht unterentwickelt an: Das Spielfeld in psychedelischen Farbverläufen, die warme Affektschauer der letzten MDMA- oder LSD-Mikrodosierung triggern könnten, ist zunächst von einem limitierenden Abgrund umgeben. Gerade noch mit niedlichen Bunny-Beanie- und Burger-Sneakern ausgestattet, schlurft der Avatar (Sanskrit für ›herabgefahren‹) leicht gelangweilt aussehend mit hängenden Schultern über den virtuellen Marktplatz. Zwischen Halfpipe und Basketballfeld lassen sich Container einzelner Brands besuchen.
Die Aufmachung der Shops präsentiert sich nicht nur in einer glitch-, sondern vor allem cute-Ästhetik, die bekanntlich zum Einverleiben anstiften soll und sich auch im Design der hier zum Verkauf stehenden Produkte niederschlägt: Neben Spielfiguren von Superplastic in Form fröhlicher Kawaii-Sushi-Rolls und lächelndem Softeis zieren auch die T-Shirts von Vandy beliebte Snacks wie Onion Rings, Cheese Puffs oder Lucky Charms. Produkte aus dem comfy-food-Sektor haben im Rap längst einen Paradigmenwechsel herbeigeführt: Wurden in der Vergangenheit oftmals Kooperationen mit Luxusmarken zur Vermittlung eines modernen Ständebewusstseins eingegangen, zeugen heute eher ambitionierte Cereals-Projekte oder andere Vermarktungen weedkompatibler Munchies von echtem ›drip‹ (einem Begriff, der sich mit Zuckerguss assoziieren lässt und laut Urban Dictionary »immense swag« meint). Vorreiter ist nicht zuletzt Travis Scott, der im Jahr 2020 gemeinsam mit McDonaldʼs ein Happy Meal auf den US-amerikanischen Markt brachte, bestehend aus einem »quarter pounder« mit »bacon«, »french fries« mit »barbecue sauce« und einer Spielfigur des Rappers, der nebenbei auch als ›skin‹ auf »Fortnite« zu erwerben ist.
Im ComplexLand geht es süß weiter: Hinter einem Torbogen aus Einhörnern präsentiert die Klamottenmarke Fruit Loots mit ihrer »welcome to camp pride series« eine marktförmige Diversity mit erbaulichen T-Shirt-Slogans (nicht nur) für die queere community: »Donʼt worry be campy (Zwinkersmiley)«. Problematischer als solches Rainbow-Washing erscheint das Blue-Washing des nahegelegenen UPS-Small-Business-Village. Hierunter versteht man eine Form des Marketings, in der öffentlichkeitswirksame Charity-Projekte größere Übel ausbeuterischer Konzerne verschleiern sollen. Vor einem animierten UPS-Wagen können z.B. Produkte von »Proudly Unstoppable« erworben werden, eine auf Twitter beworbene Kollaboration von UPS mit kleinen Gewerben, »which is designed to shine a light on minority-owned small businesses«.
»And of course anything you buy here we’ll deliver IRL to your door«, versichert der zugehörige Avatar im ComplexLand. Ein Banner im Hintergrund macht klar, dass es hier um »Circulation« gehe, sowohl um erfolgreiches Netzwerken als auch um die Distribution von Informationen und Gütern, die vom Metaverse ins Real Life überführt werden sollen. IRL werden die im ComplexLand erworbenen ›Pieces‹ selbstverständlich nicht von Avataren in Haute-Couture-Sneakern, sondern von Paketlieferantïnnen in brauner UPS-Kluft bis vor die Wohnungstür getragen – prekär Beschäftigte, die nicht selten selbst der ein oder anderen Minderheit angehören und während der Pandemie wohl besonders sichtbar wurden. Das Logistikunternehmen UPS, das in diesem Zeitraum nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA zahlreiche Leute entließ, ist generell für die Zermürbung von Gewerkschaften bekannt – oder in einer anderen Welt dafür, dass es im Februar 2022 seine »Be Unstoppable«-Collection auf der New Yorker Fashion Week launchte. ›There is no alternative‹, denkt man sich hier leise und erinnert sich an den Fun Fact, dass ausgerechnet Margaret Thatcher an der Entwicklung des Softeis beteiligt gewesen sein soll.
Prekäre Dienstleister des Distributionssektors sind in ComplexLand ebenfalls durch eine weitere Berufsgruppe repräsentiert, rasch ist ein Pizzabote in Cyberpunk-Outfit (vor einem dazugehörigen, an ein Hoverboard erinnerndes Pizza-Hut-Mobil) anzutreffen. Der Pizzaboy, eine in der Popkultur vielzitierte Figur, verweist hier nicht zuletzt auf die namensgebende literarische Vorlage des Metaverse. Neal Stephensons anarchokapitalistische Dystopie »Snow Crash« von 1992 beschreibt ein durchprivatisiertes fiktives Los Angeles in einer nicht allzu fernen Zukunft, in dem Pizzaboy Hiro unter ausbeuterischen Bedingungen Pizza für seinen Mafiaonkel Enzo ausliefert und daneben in eine matrixhafte Parallelwelt namens Metaverse pendelt. Gemeinsam mit einem Crypto-Entrepeneur der ersten Stunde, Peter Vessenes, arbeitet Stephenson derzeit übrigens an der Realisierung seiner Romanidee, einer offenen »metaverse-focused blockchain« namens Lamina1, die wie so viele visionäre Ideen der Crypto-Ära mit hirnschmelzendem Heroismus angekündigt wird.
Das Franchise-Unternehmen Pizza Hut aus Kansas weiß natürlich um solche Referenzen und auch um die eigene, marktförmige Camp-Fähigkeit, die zumindest teilweise auf die spezielle, einem Ganoven-Hut nachempfundene ›red roof‹-Architektur zurückzuführen ist. Zu dem architektonischen Sonderfall, der als »something of a strange object […] swiftly reflecting shifts in popular taste« bereits kulturwissenschaftliche Abhandlungen beschäftigte (in diesem Fall Philipp Langdons »Orange Roofs, Golden Arches. The Architecture of American Chain Restaurants« aus dem Jahr 1986), gibt es ein frühes Pendant, das auch in Susan Sontags 1964 veröffentlichtem Essay »Notes on ›Camp‹« Erwähnung findet: The Brown Derby, ein Diner in Melonenform auf dem Wilshire Boulevard in Los Angeles (mittlerweile von Disney aufgekauft). Bei aller Camp-Affinität hat Pizza Hut seine Geschäftsidee vor dem Hintergrund futuristisch anmutender Marktbedingungen nun aktualisiert: »I’ve seen the Future and it’s Pizza!«, raunt der Pizzaboy-Avatar, nach einem Click kann man die zugehörigen Pizza Hut-NFTs erwerben.
Wie zu erwarten, sind in ComplexLand Non Fungible Tokens allgegenwärtig und deuten auf einen wahren »NFT Goldrush« hin. In einer über dem Spielfeld schwebenden Galerie kann in NFTs schlecht gerenderter Streetart oder Skateboard fahrender Ratten (etwa der Marke Pacsun) investiert werden. Im Gegensatz zur Kryptowährung, die bereits qua Wortursprung auf eine unheimliche Qualität hinweist, erscheinen die farbenfrohen NFTs – obgleich es sich ebenfalls um Zertifikate handelt, die mit unklarer agency auf mysteriösen Blockchains herumgeistern – wie so vieles in Complex Land als ›snackable content‹.
Dass dieser mit echter Kulinarik leider nicht viel gemein hat, wird in der generellen Konsumdynamik spürbar: Seltsam unbefriedigt stellt sich in der immersiven Shopping-Experience der fade Nachgeschmack ein, dass zwar ein diffuser Appetit geweckt, aber nicht befriedigt wurde. Neben dem Mangel an gustatorischen und haptischen Erfahrungen erscheint auch die soziale Dimension des Complex Land ausbaufähig. So löst die Interaktion der Avatare, die sich während missglückter Chat-Versuche aus hohlen Augen anstarren und auch bei ihrer Ausstattung nur über wenig Gestaltungsspielraum verfügen, vor allem einen, ebenfalls internettypischen Affekt aus: boredom. Das Spannendste an der ComplexCon – wie an so ziemlich jeder Convention – lässt sich nicht so einfach ins Digitale überführen: die Besucherïnnen, die mit ihren bunten Dreads, funkelnden Grillz und wavy Geschäftsideen wohl am meisten Aufschluss über unsere bewegte Gegenwart und deren als ambivalent zu bewertenden Communities geben.
Ob das Online-Shopping-Event als ›epic fail‹ einzustufen ist, sei aber dahingestellt, einräumen muss man, dass das Potenzial des Metaverse an dieser Stelle höchstwahrscheinlich noch nicht ergründet ist – hier steckt es wohl noch in den Burgerschuhen. In der Hoffnung, nicht versehentlich sehr viel Geld für virtuelle Bekleidung ausgegeben zu haben, verlässt man ComplexLand, begleitet von einem mulmigen Gefühl ob der zurückgelegten digitalen Spuren, die nun für immer den Algorithmus infiziert haben. In solchen Fragen kann man hoffentlich auf Angehörige der Gen Z bauen, die bekanntlich in Sachen Medienkompetenz und – Vorsicht – Metareflexionslevel den Boomern und Millennials einiges voraus sind.
Wie ein Leben im Metaverse mit all seinen fluide postdigitalen Identitäten irgendwann aussehen könnte, steht bislang nur in Fiktionen, besonders schön im Roman »Die Realität kommt« (2022) von Rudi Nuss: »Das Interface lag weit verteilt in der Landschaft, durch Schlehdornsträucher glitchten ab und an Daten längst vergangener Userx, Messages und Posts von wirren Sexts voller Typos über rassistische Shitposts und in Gewässern gelöstem Discourse bis hin zu irrelevanten, vergessenen Cartoonserien, Amateurporn zarter Otter und flauschiger Dykes; alles in stetiger Mutation, kleine Wesen aus Daten, lebendige Polygone, neue Tiere.«