Die neue Attraktivität einer Region
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 63-66]
Im Frühjahr 2022 gab das wertvollste Unternehmen der Welt seinem prestigereichsten Produkt ein weiteres, besonders exklusives Statusmerkmal: Apple warb für das iPhone 13 Pro mit dem Slogan »Jetzt in Alpingrün«. Dass die dunkelgrüne Farbschattierung dem besonders hochpreisigen Pro-Modell vorbehalten blieb, lässt nur einen Schluss zu: Die kalifornischen Marketingexperten dürften zu der Überzeugung gekommen sein, dass gerade kein Farbton begehrenswerter ist als eben ein mit dem Alpinen assoziiertes Grün. Wer hier auf klassische Bergbrauchtum-Klischees verweisende Bedenken anmeldet, wird bei einem Parcours durch kulturelle Tendenzen der Gegenwart rasch eines Besseren belehrt. Fast scheint es, als verschöbe sich das lange Zeit dominierende Interesse an Design im ›skandinavischen Stil‹ in den Süden. Natürlich existieren, wie immer bei Trends, Gleichzeitigkeiten und Gegenläufigkeiten. Und es lässt sich auch manche Parallele zwischen Nord und Süd beobachten, beispielsweise das in der nordischen Nova Regio-Küche ebenso wie in der aktuellen alpenländischen Küche vorhandene Interesse an Fermentierung und Nadelholzaromen. Aber dennoch: eine Verschiebung ist unübersehbar. Die Farbe Jagdgrün, würzig duftende Zirbenholzschnitze und feste Lodenstoffe fühlten sich auch außerhalb des Alpenraums nie zuvor so sehr nach Gegenwart an.
Trendscouts hätten schon vor längerer Zeit hellhörig werden können, als Tyler Brûlés Magazin »Monocle« begann, im Winter die Zeitung »Monocle Alpino« herauszubringen und eine »Alpine Collection« genannte Kosmetikreihe an den Start brachte, deren Produkte nach Südtiroler Tanne duften. Unübersehbar wurde der Shift, als Brûlé ein gänzlich neues Magazin ersann, das sich vor allem an eine weibliche Leserschaft richtet. »Konfekt«, im Pandemiewinter 2020/21 erstmals lanciert, kommt fokussierter daher als das Muttermagazin »Monocle«. Das neue Journal sei »anchored in central Europe, both in geography and spirit«, hieß es im Editorial programmatisch. In einem Interview mit der »Welt« konkretisierte der Herausgeber die Zielgruppe: »Es geht um Leute, die in Berlin, St. Gallen oder Innsbruck interessante Dinge tun, nicht in London oder Paris.« Brûlé selbst, lange Zeit dafür bekannt, eine schwedische Insel zu besitzen, verriet nebenbei, sein Privateiland verkauft und durch ein Ferienhaus in Südtirol ersetzt zu haben. Als Wohnort gibt er neuerdings nicht mehr London, sondern Zürich an.
Die Schweiz ist auch Sitz der Nischenparfummarke Odur, romanisch für ›Duft‹. Sie verkauft Parfums mit Namen wie Calma, Pina und Terra, die gerade nicht aus urbanen Zentren wie Paris stammen, »sondern aus den imposanten Bergen und Tälern des Schweizer Bündnerlands«. Ähnlich positioniert sich die Münchener Naturkosmetikmarke Green + The Gent, deren Produkte auf regionale Zutaten wie Holunder, Hopfen und Efeu setzen. Als Pionierin alpiner Kosmetik darf jedoch Susanne Kaufmann aus dem Bregenzerwald gelten. Ihre Website zeigt Panoramafotografien imposanter Berglandschaften und wirbt für Hautpflegeprodukte mit »hochwirksamen Inhaltsstoffen aus der Alpenregion«. Zu den Klassikern des Sortiments zählt z.B. das Latschenkieferbad, dessen transparente Glasflasche laut Produktbeschreibung »einen von Hand geschnittenen Kiefernzweig aus dem Wald hinter unserer Produktionsstätte« enthält – so findet das Alpenländische auch in Shanghai und New York den Weg in die Badewanne.
Während sich Nadelholzdüfte, darunter auch derjenige der seit einiger Zeit im Bereich der Raumparfüms beliebten, ebenfalls aus dem Alpenraum stammenden Zirbe, unkompliziert mit montanfernen Stilvorlieben vereinen lassen, sieht es im Bereich der Kleidung anders aus. Stoffe wie der Loden und Schnitte, wie man sie von traditionellen Trachten kennt, sind ein klar alpines Statement – und haben es trotzdem geschafft, ihren Herkunftsraum zu verlassen und außerhalb der Alpenregion Anklang zu finden. Das Kunststück, Traditionskleidung aus Vorarlberg modisch attraktiv zu machen, gelingt dem Designer-Duo Christian und Manuel Weber, die mit ihrer Marke Weber+Weber Sartoria vor allem in der DACH-Region, aber auch in England erfolgreich sind. 2015 mit gerade einmal 60 verkauften Teilen gestartet, beliefert die sog. Slow-Fashion-Marke mittlerweile rund 160 Einzelhandelskunden. Der Trick ihrer Neuinterpretationen österreichischer Traditionsgarderobe besteht darin, das Robuste raffiniert erscheinen zu lassen und das Rustikale als mit einem urbanen und mobilen Lebensstil vereinbar. Zu diesem Zweck entwickeln Weber und Weber beispielsweise Walkware auf eine Weise weiter, die den Stoffen das Steife nimmt. Stilistisch verbindet das Duo körpernahe Schnitte mit Traditionselementen wie Stehkragen und Hornknöpfen. Die Stücke werden im Alpenraum gefertigt und tragen Bezeichnungen wie »Austrian Blazer«, »Heritage Blazer« oder »Vintage Fresco Gilet«. Noch traditionsbetonter kommt die Zweitmarke josef & anna daher, die nach Manuel Webers Großeltern benannt ist. Sie lebten als Bergbauern in Kärnten. Als »kernig elegant« bezeichnen die Designer diese Linie, die sich als »tiefe Verbeugung vor der Schönheit der alpenländischen Bekleidungskultur« versteht.
Aber nicht nur Textilien und Düfte greifen neuerdings auf die Materialien des Alpenraums zurück. Nadelholz aus Südtirol bildet auch die Grundlage für den jüngsten Möbelentwurf des Berliner Designers Konstantin Grcic. Zwei Jahre soll er an dem ultraschlichten Sitzmöbel »Bench« gefeilt haben, bestehend aus einem Massivholzbalken, dessen herunterklappbare Enden sich mit einer neuartigen Steckverbindung fixieren lassen. Gefertigt wird das minimalistische Möbelstück vom Südtiroler Hersteller Plank. »Man muss«, kommentierte Grcic seine Arbeit, »nicht immer etwas Neues erfinden.«
Wer Natur und Landschaft der Alpen nicht nur als Möbelmaterial und Duftgrundlage schätzt, sondern sie sich sogar einverleiben möchte, findet dazu auch außerhalb des Alpenraums immer mehr Produkte. Zum Beispiel in Form des Hasliberger Heuschnapses, eines Kräuterlikörs, der den Weg aus der Innerschweiz in großstädtische Szenebars gefunden hat. Oder als Schokolade der Marke Tiroler Edle, deren mit Galtürer Enzian, Grauviehbutter, Ötztaler Preiselbeeren, Schüttelbrot und Zirbe verfeinerte Tafeln auf die interessierte Nachfrage internationaler Kakaokenner treffen. Darüber hinaus erfreut sich die alpenländische Küche – weit über das notorische Wiener Schnitzel hinaus – in Berlin und andernorts schon seit einigen Jahren wachsender Beliebtheit. »Am alpinen Wesen wird die Kochkunst genesen« überschrieb der Gastronomiekritiker Jürgen Dollase einen Beitrag auf seinem Blog, der durchaus nicht nur ironisch gemeint war. Den kulinarischen Konzepten zahlreicher Lokale des Alpenraums attestierte Dollase auch auf andere Regionen übertragbare »gute Ideen«. Sie böten »Anregungen« über die Alpenregion hinaus. In dieses Bild passt es, dass der Südtiroler Koch Norbert Niederkofler mit seiner radikal regionalen Küche im Restaurant St. Hubertus nicht nur die höchstmögliche Zahl an Michelin-Sternen erkochte, sondern neben den ohnehin schwer zu erlangenden drei »normalen« Sternen überdies mit dem »grünen« Michelin-Stern für nachhaltiges Wirtschaften ausgezeichnet wurde. Mit seiner dem Motto »Cook the Mountain« folgenden Küche gelang es Niederkofler geradezu, eine Matrix für zeitgemäße und zukunftsfähige Gastronomie zu entwickeln – ausgehend vom Alpinen.
Gerade die ökologische Dimension ist es, die die wachsende Attraktivität des Alpenländischen zu erklären hilft. Freilich nicht nur, insofern Berglandschaften Designern Impulse liefern, kulinarisches Erleben erweitern und eskapistische Träume anregen. Durch den Klimawandel ist der Alpenraum ganz real zu einem Refugium geworden, das durch seine Höhenlage Dinge erlaubt, die andernorts bereits schwierig werden. »Unser wichtigstes Kapital sind unsere Lagen zwischen 220-900 Meter«, lautet der Werbeslogan der Kellerei Kurtatsch aus Südtirol. Die für ein Weingut europaweit einzigartige Spanne zwischen den Lagen zeigt: Es wird mittlerweile nicht nur auf tieferliegenden, warmen Hängen hochwertiger Wein angebaut. Vielmehr sind es gerade die vormals zu kühlen Höhenlagen, auf denen unter veränderten Klimabedingungen attraktive Weine entstehen. Während andernorts die Temperaturen unterdessen so hoch sind, dass viele Weine breit und alkoholisch schmecken, gehen alpenländische Winzer in die Höhe, um weiterhin feinnervige und elegante Gewächse anbieten zu können. »100 Meter machen zwischen 0,5 und 1,5 Grad Celsius Unterschied«, schätzt der Winzer Andreas Kofler und sagt: »Wir haben bei uns im Betrieb zum Beispiel unter 450 Meter keinen Weißburgunder mehr.« Der kürzlich verstorbene Südtiroler Winzer Franziskus Haas pflanzte traditionelle Rebsorten wie Pinot Noir sogar bis zu einer früher undenkbaren Höhe von 1350 Metern. Die Alpen als Fluchtraum des Klimawandels – ein Grund, der ihrer Popularität einen bitteren Beigeschmack verleiht.