„The Work is mysterious and important”
von Georg Dickmann
19.8.2025

Severance als organisationssystemischer Albtraum

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Der berühmte Auftakt aus Kafkas Prozess beinhaltet eine Diagnose moderner Machtverhältnisse, die sich jeder personalen Logik entziehen –  Schuld ohne Ursache, Verfahren ohne Erklärung. Severance, die ästhetisch sterile Serie von Apple TV+, verleiht diesem Satz einen spätkapitalistischen Resonanzraum. So könnte Kafkas Auftakt im Sinne der Serie umgeschrieben werden: „Jemand musste Mark S. etwas empfohlen haben, denn ohne, dass er wirklich selbst etwas entschieden hätte, fand er sich eines Morgens gespalten wieder.“ Kein Gericht, keine Verhaftung – nur ein selbstunterschriebener Vertrag, ein Fahrstuhl und ein System. Wo Kafka die unsichtbare Gewalt des Gesetzes umkreist, bringt Severance die operative Macht moderner Organisationen auf den Bildschirm. Die institutionelle Wucht der Moderne – einst bürokratisch, formell, einschüchternd – ist in Severance einem sanften Vollzug gewichen. Was Kafka als geheimnisvolle Willkür moderner Bürokratieexzesse inszenierte, wird in Severance zu einem systemischen Kalkül der gegenwärtigen Unternehmenskultur.

Die ominöse Organisation Lumon Industries bietet ihren Kund:innen auf Basis einer nicht näher definierten Technologie, die mittels eines kleinen Geräts in das Gehirn eingesetzt wird, subjektive Spaltung als Dienstleistung an: Der Innie, ein Subjekt, das sich nur auf der Arbeit erlebt und der Outie, ein Privatsubjekt, das ausschließlich die Vorzüge der Freizeit genießen darf. Die Kund:innen müssen dadurch im wahrsten Sinne die Arbeit nicht nach Hause bringen. Beide Sphären kommen sich nicht in die Quere. Beide Subjekte leben strikt getrennt voneinander. Wir haben es also mit einer Anrufungsform der Organisation zu tun, die nicht mehr das menschliche Subjekt in seiner Integrität, sondern dessen funktionale Differenzierung zum Gegenstand hat. Lumon Industries ist somit keine Organisation im klassischen Sinne – sie ist ein Kommunikationssystem, das Menschen in ihrer operativen Verfügbarkeit begreift. Die Figuren sind entsprechend auch keine Subjekte, sondern ebenfalls Systeme. Es gibt keinen eigenen Willen und offenbar auch keinen Zweck; es gibt nur noch Kommunikationsprozesse, in denen Systeme mit Systemen interagieren.

Die Outies kommen mit dem Fahrstuhl zur Arbeit. Wenn sie ihre Etage erreicht haben, switchen sie in ihr Innie-Ich. Sie müssen dann nichts weiter tun, als an einem Computer Zahlen zu beobachten, um bestimmte Cluster – solche, die ihnen auf eine nicht weiter erklärte Weise Angst machen – in kleine digitale Boxen zu verschieben. In ihrer Form erinnert die Tätigkeit an ein Computerspiel: Aufgaben, Punkte, visuelle Reize, unklarer Zweck, aber vollständige Immersion. Die Räume in Severance entsprechen dem architektonischen Design einer Organisation, die sich durch radikale Abgrenzung und Unsichtbarmachung ihrer eigenen Struktur definiert. Die aseptischen Büroräume mit ihren weißen Wänden, den grünlich schimmernden Teppichen und der klinischen Leere erzeugen die seltsame Atmosphäre einer freundlichen Entfremdung – verkörpert in der immer sanft lächelnden Figur Mr. Milchick, die stets für die Reibungslosigkeit der Abläufe sorgt. Der Arbeitsraum ist unendlich verschachtelt, labyrinthisch-durchzogen von identischen Korridoren, in denen Orientierung unmöglich ist. Die Abteilung, in der Mark arbeitet, existiert neben anderen – doch wie viele es sind, wer darin noch aktiv ist, und was dort geschieht, bleibt im Dunkeln. So wird der Raum selbst zur Metapher für eine Organisation, die durch selektive Sichtbarkeit operiert. Was nicht zugänglich ist, existiert nur als Gerücht. Was sichtbar ist, wird kontrolliert.

Lumon Industries als soziales System

Die Serie stellt damit eine grundlegende Frage moderner Gesellschaftswissenschaften: Wie viel vom Menschen braucht eine Organisation eigentlich? Und sie beantwortet diese Frage radikal zynisch: fast nichts. Denn betrachtet man Severance durch die Linse des Soziologen Niklas Luhmann wird die Serie zu einem ästhetischen Reflexionsraum über das Funktionieren, Scheitern und Überschießen moderner Organisationen und ihrer funktional-nüchternen Kommunikationsformen. Organisationen, so Luhmann, sind kommunikative Systeme, die sich über Entscheidungen reproduzieren. Sie existieren nicht, weil Menschen in ihnen arbeiten, sondern weil sie sich durch eine fortlaufende Kette entscheidbarer Entscheidungsprämissen strukturieren.

Die Trennung zwischen Innie und Outie in Severance treibt diese Einsicht auf die Spitze. Die Organisation ignoriert die personale Identität, sie interessiert sich allein für das, was kommunizierbar und entscheidbar ist. Die chirurgische Auftrennung des Subjekts ist damit eine präzise Metapher für das, was jede Organisation täglich leistet – nämlich die funktionale Abschottung von Umwelt. Dirk Baecker hat dieses Prinzip auch als „postheroisches Management“ bezeichnet: Organisationen funktionieren nicht über Menschen, sondern über Entscheidungen, die mit Kommunikationswegen verknüpft werden. Die Outies wissen nicht, was ihre Innies tun – und es interessiert auch niemanden, solange die Arbeit effizient ist, funktioniert und zu Ergebnissen führt. Was die Ergebnisse jedoch sind, bleibt im Dunkeln. Man könnte sagen: Die Organisation weiß nicht, was sie nicht weiß.

Diese zirkuläre Hermetik, die Luhmann bekanntermaßen als „Autopoiesis“ bezeichnet, heißt hier einerseits ein selektives Weltverhältnis herzustellen und andererseits Bindungen zur Arbeit zu kreieren, ohne dabei wirklich die Frage zu beantworten, warum. Als Helly R. aufbegehrt, den reibungslosen Arbeitsablauf irritiert und sagt „The work is bullshit“, entgegnet Mark ihr resolut: „The Work is mysterious and important“. Neben der impliziten und Anspielung auf David Graebers „Bullshitjobs“, reduziert hier die Organisation nicht nur Komplexität, sie produziert auch kontrolliertes Nichtwissen – und dieses Nichtwissen wird operationalisiert. Der Satz verweist so auf eine Leerformel, die Bindung stiftet, ohne dabei tatsächlich Information zu liefern. Arbeit, die man nicht versteht, wird als bedeutend empfunden – gerade weil sie unverständlich bleibt. Die Formel dient dadurch der Affektbindung, nicht der Information. Sie stiftet Zugehörigkeit, nicht Erkenntnis. Und sie erinnert stark an das, was Gilles Deleuze in seinem späten Text Postskriptum über die Kontrollgesellschaften auch als Logik der Kontrolle beschreibt: Zirkulation ohne Ziel, Prozesse ohne Ende, Bedeutung ohne Inhalt.

Die formale und informale Seite von Organisationen

Paradoxerweise sind Organisationen Luhmann zu Folge niemals nur formale Gebilde. Sie bestehen immer auch aus informalen Praxen, weil Kommunikation sich niemals restlos programmieren lässt. In Severance begegnen wir einer Organisation, die versucht, genau das zu tun: absolute Form, maximale Kontrolle. Vom sterilen Bürodesign bis zur ritualisierten „Waffle Party“ – alles ist codiert, jedes Verhalten formalisiert. Doch genau dadurch offenbart sich die Schwäche der Organisation. Denn unter der Oberfläche entsteht, was Luhmann informale Kommunikation nennt: Blicke, Flüstern, Pausengespräche, kleine Widerstände und Irritationen. Nach und nach schaffen sich Mark, Helly, Dylan und Irving einen Resonanzraum jenseits der Vorschrift.

Diese informale Sphäre ist nicht einfach ein „menschlicher Rest“, sondern systemisch sogar notwendig für das Funktionieren von Systemen. Dirk Baecker formuliert es so: „Organisationen sind Orte des strukturierten Nichtwissens.“ Das bedeutet: Sie brauchen Spielräume, um mit dem Unentscheidbaren umgehen zu können. Dabei verweist Luhmann an mehreren Stellen darauf – insbesondere in Organisation und Entscheidung –, dass Organisationen notwendigerweise auch illegale oder inoffizielle Praktiken zulassen müssen, um funktionsfähig zu bleiben. Denn eine vollständige Formierung aller Kommunikation würde das System ersticken. „Ein Minimum an Illegalität ist funktional“, so lautet die oft zitierte Paradoxie. In Severance ist diese Zone der Illegalität nicht nur gegeben, sondern produktiv. Die emotionalen Bande zwischen den Figuren, heimliche Beziehungen, neugierige Blicke in gesperrte Archive – all das ist im organisationalen Code nicht vorgesehen, aber für die Aufrechterhaltung (und letztlich die Störung) des Systems entscheidend. Wo zu viel Form herrscht, wird Informalität zur subversiven Kraft. Sie ist das systemimmanente Ventil, ohne das Organisation in ihre eigene Steifheit kollabiert.

Luhmanns Konzept der symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien erlaubt es, den kulturellen Überbau von Organisationen nicht als bloße Dekoration, sondern als strukturierende Kommunikationseinheit zu verstehen. Bei Lumon ist das besonders sichtbar: Der Kult um Kier Eagan, dem Gründervater und so etwas wie eine ideologische Erlöserfigur, ersetzt rationale Orientierung durch quasireligiöse und sektenhafte Bindung. Die Mitarbeiter arbeiten nicht, weil sie verstehen, was sie tun, sondern weil sie glauben, dass es richtig ist. Diese symbolische Ordnung stiftet Sinn in einem Sinnvakuum. Die „Wahrheit“ der Organisation wird durch seltsame Rituale, kitschige und nichtssagende Zitate und Artefakte stabilisiert. Wie in einem religiösen System entsteht ein Rahmen, der nicht infrage gestellt werden darf, weil er die Kommunikationsgrundlage selbst bildet. Lumon ist damit ein Beispiel für das, was Baecker als „Organisation der Unwahrscheinlichkeit“ bezeichnet: Eine Ordnung, die sich nur durch permanente Reproduktion ihrer Selbstverständlichkeit aufrechterhalten kann.

Systemirritationen im Operationsraum

Helly R. ist auf der informalen Seite eine der spannendsten Figuren der Serie. Sie ist nicht einfach ein rebellischer Charakter, sondern eine strukturelle Irritation. Als neue Mitarbeiterin bringt sie die Rekrutierungsfunktion der Organisation mit sich – doch anstatt sich in das System einzufügen, verweigert sie sich ihm. Ihre Ablehnung stellt die grundlegende Unterscheidung der Organisation in Frage: zwischen Innen und Außen, Teil und Umwelt, Kommunikation und Subjekt. Helly R. ist eine operative Unwahrscheinlichkeit, die nicht eingeordnet werden kann, ohne die Organisation selbst infrage zu stellen. Irving dagegen ist das Beispiel für die innere Erosion systemischer Glaubenssätze. Er glaubt an das System, an Kier, an Ordnung – doch seine Beobachtungen konvergieren nicht mehr mit den internen Kommunikationen. Sein Zweifel ist nicht subjektiv, sondern strukturell: Die Organisation kann nicht mehr für ihn sorgen, weil ihre symbolische Ordnung brüchig wird. Baecker würde sagen: Irving erfährt die Organisation nicht mehr als Kontext von Entscheidungen, sondern als Umwelt.

Wer das systemtheoretische Einmaleins einigermaßen kennt, der  weiß, dass die Unterscheidung von System und Umwelt immer nur im System stattfinden kann. So sind auch Hellys Versuche aus der Organisation zu fliehen, vergeblich. Aus systemtheoretischer Perspektive ist ihr Widerstand nicht externalisierbar – er bleibt innerhalb der Operationen des Systems. Denn wie bereits betont, unterscheiden sich Organisationen von ihrer Umwelt durch operative Geschlossenheit. Sie verarbeiten alles, was auf sie einwirkt, in ihren eigenen Strukturen. Hellys Ablehnung wird dadurch nicht zur Auflösung der Mitgliedschaft, sondern zur Bestätigung ihrer Einbindung. Jeder Versuch, die Grenze zu überschreiten, führt zurück ins System – eine visuelle Allegorie dieser Formulierung bietet die berühmte Szene, in der Helly immer wieder in denselben Korridor zurückgeführt wird. Widerstand wird somit nicht gewaltsam unterdrückt, sondern funktional absorbiert. Der Wunsch, nicht Teil zu sein, hat keinen Ort im System und macht in dieser Logik folglich auch keinen Sinn. Was bleibt, ist eine paradoxe Gefangenschaft: Die Grenze, die überwunden werden soll, ist selbst eine Operation des Systems. Oder wie der Mathematiker Spencer Brown schreibt, der mit seinem Differenzkalkül die Systemtheorie maßgeblich beeinflusst hat: “To cross the boundary is to re-enter the form.”

Spaltung oder Verschränkung?

Doch warum wählt die Serie ausgerechnet den Weg der radikalen Spaltung von Arbeit und Leben – während in der gegenwärtigen Realität genau das Gegenteil der Fall zu sein scheint? Homeoffice, Work-Life-Integration, emotionale Bindung an die Firma, ständige Erreichbarkeit, noch schnell vor dem Schlafengehen im Bett die Mail beantworten: Alles Symptome eine Hybridisierung von Arbeit und Privatsphäre. Unsere Subjektivierung durch die gegenwärtigen Arbeitsprozesse hat dazu geführt, dass die Zeit im Privaten längst nicht mehr draußen bleibt, sondern zur abschöpfbaren Ressource geworden ist. In dieser Situation erscheint die Trennung, die Severance vollzieht, fast wie eine groteske Umkehrung des realen Problems – als würde sie in dystopischer Zuspitzung ein Bedürfnis nach Schutz, nach Abgrenzung, nach Entlastung ernst nehmen, das in der Realität unerfüllt bleibt.

Luc Boltanski und Ève Chiapello haben in Der neue Geist des Kapitalismus eindringlich gezeigt, wie die Kritik an Entfremdung und Bürokratie in den 1970er Jahren von den kapitalistischen Organisationen selbst integriert wurde: Nicht mehr Hierarchie, sondern Kreativität, Selbstbestimmung und geteilte Narrative versprechen heute Zugehörigkeit. Doch dieses Versprechen hat seinen Preis. Die Organisation fordert nicht weniger, sondern mehr – mehr Persönlichkeit, mehr Initiative, mehr Identifikation. Die Trennung, die Severance also vollzieht, kann so auch als paradoxe Reaktion auf ein System gelesen werden, das jede Grenze längst absorbiert hat.

Vielleicht, so ließe sich schließen, ist die totale Spaltung in der Serie gerade deshalb notwendig, weil die gegenwärtige Realität keine mehr kennt. Die radikale Grenze wird zum letzten Ort von Freiheit. Doch auch diese Freiheit hat einen kalten Unterton. Sie entwirft eine Welt, in der das Menschliche nur noch als Umwelt des Systems erscheint. Niklas Luhmanns Organisationstheorie zeigt genau diese strukturelle Unheimlichkeit: Organisationen bestehen nicht aus Menschen, sondern aus Kommunikation, Anschlusskommunikation und Entscheidungen. Severance übersetzt diese Logik ins Bild, wenn es das Subjekt in zwei operative Einheiten zerlegt, die als Funktionsträger systemisch anschlussfähig bleiben, aber nichts mehr voneinander wissen. Was wie Befreiung wirkt, ist in Wahrheit der perfide Anschluss ans System. Die Serie ist somit kein Kommentar zur Zukunft der Arbeit – sondern eine systemtheoretische Fiktion ihrer Gegenwart, in der die Versprechen von Freiheit, Sinn und Integration sich in funktionale Subroutinen auflösen. Was bleibt, ist ein System, das elegant funktioniert; und das Menschliche im System als Umwelt behandelt. Nicht weil es böse wäre, sondern weil es anders gar nicht kann. Die Idee der Work-Life-Balance erweist sich in Severance als vollendete Farce – endlich perfektioniert und effizient: ein Leben für die Arbeit, das andere ohne Erinnerung daran.

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