Populäre Ästhetik?
von Thomas Hecken
22.7.2025

Kaspar Maases Buch »Schönes alltäglich erleben.«

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 123-129]

Die lange wirksame Einschätzung von universitärer und ›bildungsbürgerlicher‹ Seite zu populären Artefakten ist nach wie vor sehr geläufig und besitzt immer noch einige Kraft: Um (gute) Kunst handle es sich nicht, weil die populären Werke ›kommerziell‹ seien und dem schlechten Geschmack der ›Masse‹ oder des ›Mainstreams‹ entgegenkämen. Mit Begriffen wie ›seicht‹, ›eingängig‹, ›banal‹, ›gefällig‹, ›oberflächlich‹ werden solche populären Artefakte abwertend und ausgrenzend charakterisiert. Diese Einschätzung begegnet einem in vielen Abhandlungen zu den Künsten, einige davon mit Klassikerrang. Für Hegel etwa liegt eine »nicht unabhängige, nicht freie, sondern dienende Kunst« vor, wenn »die Kunst als ein flüchtiges Spiel gebraucht« wird, um »dem Vergnügen und der Unterhaltung zu dienen, unsere Umgebung zu verzieren, dem Äußeren der Lebensverhältnisse Gefälligkeit zu geben und durch Schmuck andere Gegenstände herauszuheben.« Nur die davon »freie Kunst« ist nach Hegels Auffassung die »schöne«, »wahrhafte Kunst«, nicht aber ihr dekorativer, gefälliger, schmückender und/oder unterhaltender, angenehmer Konterpart.

Hegel erachtet für seine Ausführungen den Titel »Philosophie der schönen Kunst« als angemessen. »Ästhetik« hingegen sei »unpassend«, denn damit würde richtigerweise die »Wissenschaft des Sinnes, des Empfindens« bezeichnet. Auch viele Ansätze solcher Ästhetik haben aber unterhaltenden, vergnüglichen, gefälligen, populären (bzw. somit als ›populär‹ identifizierten) Artefakten und ihren Rezeptionen selten Unterstützung geboten. Zwei wichtige Einsätze der Ästhetik – die teilweise Rettung des sinnlich Besonderen vor der Abstraktion, vor dem Begriff sowie die damit verbundene Betonung des regel- und interesselosen ästhetischen Urteils – sind sehr häufig benutzt worden, um (sogenannte) populäre Artefakte abzuwerten: Sie begünstigten oder erzwängen wegen ihrer schematisierten Form und reizvollen Gestalt Standardisierung und Distanzlosigkeit.

Kaspar Maase tritt in seinem neuen Buch gleichwohl im Namen ästhetischer Theorie an, um über das Alltäglich-Populäre unter dem Titel des »Schönen« nachzudenken. Noch stärker als zu Hegels Zeiten ist allerdings erklärungsbedürftig, was überhaupt darunter zu verstehen ist. Schon Hegel beharrte trotz seiner fundamentalen Einwände nicht auf dem Titel »Philosophie der schönen Kunst«, sondern ließ es »bei dem Namen Ästhetik bewenden«, weil er »einstweilen so in die gemeine Sprache übergegangen« sei. Daran hat sich bis heute nichts geändert, auch wenn man anfügen muss, dass der Begriff in der Alltagssprache kaum Verwendung findet; wird er dort hin und wieder gebraucht, führt er in Form des Adjektivs ›ästhetisch‹ die Bedeutung ›schön, nicht vulgär‹ mit sich. Im Feuilleton wiederum dient er in ähnlicher Manier hauptsächlich dazu, Hochwertigkeit anzuzeigen, die des eigenen Artikels und oft auch die des Gegenstands (z.B.: ›Coppolas Ästhetik‹). In den Wissenschaften trifft man auf ein breites Repertoire, mal fällt unter ›Ästhetik‹ nur die Analyse der kunstkritischen Äußerungen Dritter, mal Überlegungen zur menschlichen Wahrnehmung allgemein, mal systematische Angaben zur Klassifikation der Künste; oft heißt es auch im universitären Zusammenhang ›Ästhetik‹, wenn bloß ein (noch) vornehmeres Synonym für ›Gestaltung‹ oder ›Darstellungsform‹ gefunden werden soll.

Maase möchte keine philosophische Ästhetik vorlegen, er verweist wiederholt auf den »empirisch-kulturwissenschaftlichen« Ansatz seines Unterfangens. Dies hält ihn jedoch nicht davon ab, den Abstand zu zielgerichteter, zweckhafter Wahrnehmung (S. 54) und zum »rein sinnlichen Wahrnehmen« (S. 127) zu betonen und so durchaus im Rahmen gewohnter philosophischer Ästhetik zu verbleiben. Es hindert ihn ebenfalls nicht daran, von Begriffsbestimmung zu Begriffsbestimmung fortzuschreiten. Seine eigenen Überlegungen sind weit davon entfernt, Popularität erlangen zu können, dafür fällt sein Beitrag zu scholastisch aus. Im Mittelpunkt steht bei ihm die Kategorie »ästhetisch«, zudem »ästhetisches Erleben«. Mit »ästhetisch« spricht er nicht jede sinnliche Wahrnehmung an, sondern nur diejenigen, die »untrennbar verknüpft« seien mit der »Aktivierung von Empfindungsvermögen (für Gefühle und Stimmungen) und Vorstellungskraft (Erinnerungen, Phantasien)« (S. 53) und die insofern eine »reflexive Dimension« besäßen, als das Subjekt »das Wahrnehmen wahrnehmen und affektiv bewerten« würde.

Diese komplexeren »Formen intensiverer sinnlicher Wahrnehmung« lässt Maase allerdings keineswegs vollständig in hoher Aufmerksamkeit und Konzentration aufgehen (S. 127). Für ihn zählt auch und gerade die zerstreute Wahrnehmung zum Ästhetischen. Sie alle könnten zu jenem »positivem ästhetischen Erleben« beitragen, das für Maase in erster Linie in jenen »angenehmen Gefühlen« besteht, »die man mit Schönheit oder alltagsnäher mit Schönem verbindet« bzw. – so fügt Maase im Bewusstsein hinzu, dass der Begriff des ›Schönen‹ heutzutage für manche keinen guten Klang mehr besitzt – mit jenen »positiven Effekten, die dem ›Schönen‹ anderer Gruppen entsprechen«, etwa belebenden, erregenden Empfindungen (S. 62).

An dieser Stelle ist es spätestens geboten, die Frage zu stellen, was der Sinn dieser Ausführungen sein mag. Man folgt Maase sehr gerne bei seinen erhellenden und in ihrer Zusammenstellung originellen Lektüren u.a. pragmatistischer, evolutionsbiologischer und sozialphilosophischer Beiträge, die seine Lesart des Ästhetischen unterstützen. Man kann sich ebenfalls durchgehend an seiner ebenso souveränen wie moderaten Schreib- und Darstellungsweise erfreuen. Auch könnte man sich von Maases Thesen anregen lassen, darüber nachzudenken, ob es nicht angemessener wäre, die Bestimmung unterschiedlicher Wahrnehmungsmodi den Naturwissenschaften zu überlassen (lässt sich tatsächlich ein Trennstrich ziehen zwischen so etwas wie ›reiner‹ bzw. ›stumpfer‹ Wahrnehmung und »ästhetischer«, »reflexiver«, mit Emotionen, Erinnerungen, Einbildungen verknüpfter Wahrnehmung; macht zielgerichtetes Handeln und der Gebrauch abstrakter Kategorien es wirklich unmöglich, die einzelnen, besonders die nicht funktionalen Ausprägungen eines Gegenstands oder Ereignisses wahrzunehmen?). All dies kann aber nicht den Eindruck beseitigen, dass Maases Grundeinschätzungen äußerst vertraut klingen. Wer würde schon bestreiten, dass die sinnliche Wahrnehmung reizvoller Phänomene oftmals befriedigend und ein alltäglicher Vorgang ist, nicht zuletzt in einer über längere Strecken auch einmal keineswegs hoch aufmerksamen Art und Weise?

Maases Einsatz muss darum anders begründet sein. Er dürfte darin liegen, dass es sich bei ›Ästhetik‹ vor allem in akademischen Kreisen um ein Hochwert-Wort handelt. Das hat nicht nur, aber sicherlich zu großen Teilen mit der Nähe von ›Ästhetik‹ zu ›Kunst‹, dem sogar oftmals noch positiver besetzten Begriff, zu tun. Unter dem Schutz der ›Ästhetik‹ können deshalb auch avancierte Projekte und Thesen klingen, als besäßen sie von vornherein Berechtigung, Sinn und Würde. Tatsächlich verfolgt Maase ein ambitioniertes Ziel. Mit klaren Worten schreibt er gegen die Auffassung an, »Massenkünste«, »Texte und Praktiken der kommerziellen Populärkultur« seien nicht als (wertvolle) »ästhetische Phänomene« zu betrachten (S. 12). Mit seiner eigenen Bestimmung des Ästhetischen lässt sich diese popularitätsfeindliche Position zweifellos revidieren. Hegel hatte also von seinem Standpunkt aus recht, die Verknüpfung von Ästhetik und Kunstbetrachtung kritisch zu betrachten, denn die Reflexionen über Sinneswahrnehmungen und Empfindungen versperren nicht von vornherein den Weg, Kunstklassifikationen und -bewertungen u.a. im Hinblick auf die »Empfindungen des Angenehmen« vorzunehmen, wie Hegel in seinen Vorlesungen missbilligend zur Entstehung der Ästhetik Mitte des 18. Jahrhunderts ausführt.

Genau diesen von Hegel als unangemessen bezeichneten Weg beschreitet Maase. Was aufseiten der Ästhetik nicht weiter auffällige Hinweise zu einer mit positiven Wertungen und Empfindungen verbundenen Sinneswahrnehmung sind, besitzt aufseiten der Kunst einige Brisanz, zumindest unter denjenigen, die Begriffe wie ›Kunst‹ und ›Ästhetik‹ oft und gerne gebrauchen (also bei Geisteswissenschaftlern, Feuilletonisten, Redakteuren öffentlich-rechtlicher Kulturprogramme, Museumskuratoren etc.). Mit Ausführungen zur Ästhetik lässt sich eine nachhaltige Veränderung der Maßstäbe zur Bewertung von Kunstwerken anzielen.

Folgt man Maase, ist das »ästhetische Erleben« im Leben der allermeisten Menschen (zumindest in ihrer Freizeit) an der Tagesordnung. Mit »ästhetisch« lassen sich dann neben der »intensiveren« Wahrnehmung von Gärten, Sonnenuntergängen, Sportveranstaltungen, Spaziergängen, Bewegungsfolgen, ansprechend gestalteten Autos, Fahrrädern, Vorhängen etc. sicherlich die allermeisten Produkte des »Mainstreams« sowie ihre mehr oder minder zerstreuten, freudvollen Wahrnehmungen ansprechen. Kunst besitze für solcherart »ästhetisches Erleben« eine wichtige Rolle, hält Maase fest, weil sie für die Erfahrung »besonders reicher und starker Eindrücke konzipiert« würde. Im befriedigenden »ästhetischen Erlebnis« bestehe der entscheidende Grund für die Popularität der »Massenkünste«; Musik sei die entsprechend »meistgenutzte populäre Kunst«, Werbefilme, Historienromane, Computerspiele etc. zählten mit gewissem Abstand ebenfalls dazu (S. 60f.).

Begriffe wie »Mainstream« und »Massenkünste« sind für Maase in diesem Zusammenhang wichtig, weil er mit seinen Überlegungen zum Ästhetischen dezidiert populäre Phänomene hervorheben möchte – und keineswegs nur solche Werke, die lediglich bei einem sich selbst als ›hip‹ einstufenden Publikum Resonanz finden, das es längst geschafft hat, seine Favoriten (von Velvet Underground über Nan Goldin, Takashi Murakami, Christian Kracht, Martin Margiela bis hin zu Peaches und Sophie) als avancierte, (post-)moderne Künstler zu etablieren. Zum »ästhetischen Erleben« im Sinne Maases dürften im (erweiterten) Bereich der Künste wohl auch oder gerade Adele, Shein, die Kardashians, ZDF-Fernsehserien, Schlager, Krimis usw. beitragen.

Natürlich reicht solch eine begriffliche Setzung von ›ästhetisch‹ keineswegs aus, um die Gegner des Populären zu überzeugen. Selbst wenn sie mit Maase in den Refrain einstimmen sollten, dass zum Ästhetischen nicht bloß die kontemplative Wahrnehmung gehöre, könnten sie immer noch unproblematisch Abwertungen vornehmen. Sie könnten z.B. die zerstreute Wahrnehmung als mindere, defizitäre ästhetische Wahrnehmung einstufen – und sie könnten vor allem die Klassifikation der Künste sowie das Urteil über Kunstwerke vom Befund über sinnliches Gefallen lösen. Populäre Artefakte wären für sie weiterhin schlechte oder gar keine Kunstwerke, selbst wenn sie teilweise nicht anzweifelten, dass sie zu ästhetischen Erlebnissen beitrügen.

Auch Maase wird sich dessen bewusst sein – jedenfalls bringt er noch einige anders gelagerte Stützargumente ins Spiel. Er verweist darauf, dass auch die anerkannten klassischen und modernen Künste oft zerstreut und/oder auf der Suche nach Genuss, lebensweltlicher Bestätigung und Identifikationsmöglichkeiten rezipiert würden; er tritt im Zeichen des Nachprüfbaren und Wirklichen dafür ein, die Erlebnisse der »Mainstream«-Rezipienten anzuerkennen (die Rede von ›schaler, flüchtiger Befriedigung‹ oder der Erfüllung von ›Scheinbedürfnissen‹ besitzt für ihn offenkundig keine Bedeutung); nicht zuletzt weist er darauf hin, dass es sehr fragwürdig sei, die Maßstäbe einer »Expertinnensicht«, die Komplexität und Innovation fordere, ins Zentrum der Kunstbewertung und der Auszeichnung ›ästhetischer Erfahrungen‹ zu stellen.

Es ist nicht auszuschließen, dass diese Hinweise Wirkung zeitigen und zur Legitimation und Hochwertung populärer Artefakte hinleiten. Für die Anhänger einer ›nicht populären Ästhetik und Kunst‹ dürften sie aber eher einen Grund zum Widerspruch darstellen, besteht ihr Anliegen doch oftmals genau darin, die aus ihrer Sicht schlechte Wirklichkeit ästhetisch zu bessern. Dass sie sich in der Minderheit befinden, macht ihre Sache für sie nicht fragwürdig, sondern dringend. Der Verweis auf die Häufigkeit, mit der in der Gegenwart »Massenkünste« mit positiven »Erlebnissen« einhergingen, wird sie höchstwahrscheinlich gerade darin bestärken, an ihrem exklusiveren ›Ästhetik‹-Verständnis festzuhalten, das ›entautomatisierte Wahrnehmung‹ und/oder ›interesseloses Wohlgefallen‹ privilegiert und einfordert.

Eine Alternative bestünde darin, bei Fragen der Kunst mit dem Vokabular der philosophischen oder kulturwissenschaftlichen Ästhetik und ihren Mutmaßungen über Vorgänge menschlicher Sinneswahrnehmung nachhaltig zu brechen. An ihre Stelle könnten detaillierte Beschreibungen und Analysen von Romanen, Filmen, Designs, Tänzen, Musikstücken, Spektakeln, Performances etc. treten, die auch bei populären Artefakten mit der gleichen Energie durchgeführt würden wie bei nicht populären. Auch – oder vielleicht gerade – so könnte tendenziell der Eindruck revidiert werden, populäre Artefakte seien wertlos. Man müsste dafür allerdings die immer noch gut befestigte Grenze überschreiten, die darin besteht, bei populären Artefakten eine eingehende Beschäftigung mit Worten wie ›simpel‹, ›schematisch‹, ›reißerisch‹ zu unterbinden.

Maase möchte jedoch genau von einer kunstwissenschaftlichen Betrachtung mit ihren zahlreichen Kategorien zur Form- und Werkanalyse wegkommen. Er plädiert stattdessen im Gefolge der Akteur-Netzwerk-Theorie für Untersuchungen der »Ko-laboration« verschiedenster »Akteure« und »Mediatoren« (S. 166f.). Anfügen muss man allerdings, dass er selber solch eine Untersuchung nicht durchführt, sondern sie nur begründet und fordert. Es handelt sich bei Maases Buch deshalb um einen vorzüglichen Beitrag zur Ästhetik – oder anders pointiert: um einen ausgezeichneten, in vielen Schattierungen hoch originellen Beitrag im Rahmen gewohnter ästhetischer Theorien, die Begriffserläuterungen vor allem mit Annahmen über Wahrnehmungsprozesse und den Status von Kunstwerken verweben. Ein Hegelianer wird Maases Werk wohl nicht schätzen, ungeachtet dessen steht aber fest: Selten ist im Ausgang des Axioms mehr oder minder zerstreuter, angenehmer Wahrnehmungen und Empfindungen ein so großer Reichtum an Kategorien und Hypothesen entfaltet worden, die alltäglichen »ästhetischen Erlebnissen« und dem »Mainstream« zugutekommen sollen.

 

> Kaspar Maase: Schönes alltäglich erleben. Über die Ästhetisierung der Kultur. Bielefeld 2022.

 

 

 

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