Cute
von Annekathrin Kohout
15.7.2025

Zur Aufwertung des Niedlichen in der Popkultur

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 21, Herbst 2022, S. 152-171]

Eines der bekanntesten Zitate von Elmyra Duff, einer Figur aus der von Warner Bros. produzierten Cartoon-Serie »Tiny Toon Adventures«, lautet: »I’m gonna hug you and kiss you and love you forever (and never use you up)«. Während sie das ausspricht, quetscht sie schonungslos ihr blaues Kätzchen Furrball, das sich dabei sichtlich unwohl, dem Ersticken nahe fühlt. Diese Szene, die sich als ›running gag‹ mit verschiedenen Haustieren in den »Tiny Toon«-Episoden mit Elmyra Duff wiederholt, illustriert eine spezifische Wirkung von Niedlichkeit, die in der Emotionsforschung etwas unbeholfen »Cute-Emotion«, »Cute-Affect«, »Kawaii-Feeling« (Nittono et al. 2012; Laohakangvalvit et al. 2016; Nittono 2016) oder mit Verweis auf die englische Vokalisierung »Aww-Effect« (Buckley 2016) oder »Aww-Factor« (Dale 2017) genannt wird. Eine Wirkung, die zu Distanzlosigkeit verleitet, ja auch zu Übergriffigkeit (wenn eine Großmutter die Enkelin in die Wangen kneift) bis hin zur sog. ›cute aggression‹, wie sie Elmyra an ihren Haustieren ausübt.

Die Suche nach einem Begriff für das Gefühl, das Niedlichkeit auslöst, ist recht neu. Zwar gibt es in den meisten Sprachen Begriffe für ›niedlich‹ und ›Niedlichkeit‹, neben dem englischen ›cute‹ sind auch das japanische ›kawaii‹ oder französische ›mignon‹ hinreichend bekannt, aber es gibt bislang keine Wörter, die jene Emotion, die bei der Wahrnehmung der Niedlichkeits-Ästhetik auftritt, angemessen zum Ausdruck bringen (Buckley 2016). Am ehesten darf das japanische ›Moe‹ als ein Begriff gelten, der die vom Niedlichen ausgelösten Gefühle zu bezeichnen versucht. Der Kulturwissenschaftler Hiroki Azuma, der durch seine Arbeit zur Otaku-Kultur – der japanischen Nerd- und Fankultur – auch im englischsprachigen Raum Bekanntheit erlangt hat, lässt in seinem Buch »Otaku: Japan’s Database Animals« unter ›Moe‹ ein bestimmtes Gefühl der Zuneigung fallen, das man gegenüber Anime-Charakteren empfindet. Geknüpft ist es an eine sehr spezifische Gestaltung der Figuren, die dieses Gefühl auslöst oder sogar triggert. Azuma nennt verschiedene Beispiele, etwa wenn bei den Figuren einzelne Strähnen vom Gesamthaar wie eine kleine Antenne abstehen, ihre Haare zu kleinen Bällchen geformt sind (wie bei Sailor Moon), die Lichtpunkte in den großen Augen ganz leicht flimmern – oder wenn sie erröten (Azuma 2001: 43).

Die Auseinandersetzung mit der Ästhetik des Niedlichen besitzt insgesamt keine lange zurückreichende Tradition. ›Niedlich‹ oder auch ›süß‹ wurden in der philosophischen Ästhetik oder in der Phänomenologie nur selten als Begriffe angeführt, geschweige denn, dass ihnen wie etwa dem Schönen oder dem Erhabenen ganze Abhandlungen gewidmet worden wären. In den Fokus der Kulturwissenschaften sind das englische ›cute‹, das japanische ›kawaii‹ ebenso wie das deutsche ›süß‹ und ›niedlich‹ erst im Zuge der Auseinandersetzung mit der Konsumkultur geraten. Zuvor wurde das Niedliche neben dem »Angenehmen, Reizenden, […] Behaglichen, Gemütlichen« (Giesz 1971: 7) weitgehend unter ›Kitsch‹ subsumiert. Seit den 1990er Jahren gibt es vereinzelte Bestrebungen, sich mit Niedlichkeit als einer relevanten gegenwartsästhetischen Kategorie zu beschäftigen. Einige Positionen – insbesondere die von Daniel Harris und Sianne Ngai – haben große Resonanz gefunden und das akademische Sprechen und Nachdenken über ›Cuteness‹ stark geprägt.

Dabei spielt die affizierende und als unmittelbar empfundene Wirkung niedlicher Dinge insbesondere bei der konsumkritischen Betrachtung eine große Rolle, weil ›Cute-Emotions‹ oder ›Kawaii-Effects‹ oftmals gezielt zum Einsatz gebracht werden, um etwas zu vermarkten und zu verkaufen. In der gegenwärtigen Konsumkultur, insbesondere auch im digitalen Raum, spielen niedliche und süße Formen der (Selbst-)Darstellung deshalb nicht zufällig eine so große Rolle. Selfies unter weichzeichnenden, rosig machenden Filtern, Tiervideos oder auch Emojis und Sticker, die der Kulturwissenschaftler Joel Gn sogar als »Language of Cuteness« bezeichnete, bedienen sich der Niedlichkeitsformen. In ihrer rundlichen, bunten, liebenswerten und unbedrohlichen Gestaltung wirken Emojis selbst dann noch freundlich und sympathisch, wenn der durch die Botschaft vermittelte Inhalt negativ ist: »Stylistically, the rounded, brightly-coloured and caricatured form of the emoji character is one of fun and affection«. Als Grund für die niedliche Gestaltung der Emojis gibt Gn an: »the use of emoji in messaging platforms is a development that humanises the device and conditions our affections«. Erst Emojis hätten die computerbasierte Kommunikation benutzerfreundlich gemacht und damit wesentlichen Anteil an deren Etablierung besessen. Niedlichkeit ermögliche »emoji characters to be attractive to users«.

Niedliche Emojis regen zu Interaktionen an, weil sie als angenehm wahrgenommen werden und in ihrer Einfachheit weder Zugangsbeschränkungen noch Hemmschwellen zur Verwendung besitzen. Mit ihnen sind positive Gefühle verbunden. Das bestätigen auch empirische Studien zum steigenden Konsum niedlicher Bilder und Videos im Netz: Sie helfen nachweislich dabei, Stress abzubauen, machen fröhlich und erzeugen zudem den Wunsch, die Fröhlichkeit mit anderen zu teilen. Die Medienwissenschaftlerin Jessica Myrick beschreibt das Anschauen süßer Inhalte im Netz daher als »digital pet therapy« (Myrick 2015). Niedlichkeit ist ein positiver Stimulus und wirkt als eine Art »cognitive priming«: Es fördert ein Gefühl von unbeschwerter Verspieltheit (Nenkov/Scott 2014). Selbstredend dürfte auch die eingangs beschriebene immersive Wirkung des Niedlichen, die Unmittelbarkeit und manchmal so empfundene Unabwendbarkeit des »Aww-Effekts« für die Popularität des Niedlichen verantwortlich sein. Simon May nannte Niedlichkeit einen »valiant little survivor« (May 2019: 151), weil der »Aww-Faktor« seit dem von Konrad Lorenz identifizierten »Kindchenschema« wiederholt auch als ein evolutionsbiologischer Effekt gedacht wurde: Menschen- oder Tierkinder seien niedlich, damit sie Fürsorge- und Beschützerinstinkte auslösen.

Im Social Web dient die Ästhetik ebenfalls dem Überleben, wenn auch nicht durch die Provokation von Mutterinstinkten, sondern durch möglichst viele Likes und Interaktionen; in der sog. Aufmerksamkeitsökonomie tragen sie auf diese Weise zum Fortbestand bei. In Social-Media-Kommunikationen, die nicht selten durch ›hate speech‹ gekennzeichnet sind, bildet das Süße und Niedliche nicht zuletzt einen auffälligen Kontrast und verfügt sicherlich zumindest bei denjenigen, die oft Abneigung und Missgunst erleiden müssen, über eine ablenkende, wenn nicht ausgleichende oder stärkende Wirkung. Cuteness kann darum mit ›empowernder‹ Funktion zum Einsatz kommen, als explizite Strategie der gegenseitigen Bekräftigung in gesellschaftlichen Gruppen, die Diskriminierungserfahrungen erleiden müssen. Dies ist zwar naheliegend, als etabliertes und anerkanntes kulturelles Phänomen dennoch neuartig – führte doch gerade die immersive, stark affirmative, auf Distanzlosigkeit beruhende Wirkung des Niedlichen zuvor regelmäßig zu seiner kulturellen Abwertung, die eine selbstbewusste, ermächtigende Aneignung immer wieder verhindert hat.

 

Niedlichkeit als eine Ästhetik der ›niederen‹ Kultur von und für Frauen

Da Niedlichkeit im Anschluss an die kulturwissenschaftlichen Studien von Sianne Ngai und Daniel Miller oftmals als »Konsumästhetik par excellence« (Richard/Gunkel/Müller 2020: 15) angesehen wird, überrascht es nicht, dass sie ins Fadenkreuz der Kulturkritik gerät. Dass die Abwertung des Niedlichen aber viel weiter in die Vergangenheit zurückgeht und gewissermaßen mit der Wiederentdeckung des Erhabenen/Sublimen in der Philosophie der Neuzeit zusammenfällt, hat Niels Penke begriffsgeschichtlich herausgearbeitet. Wurde noch Anfang des 18. Jahrhunderts das Wort ›niedlich‹ vor allem als Synonym zu ›leckerhafftig‹ und auf Speisen bezogen gebraucht, etwa wenn es in Speranders »A la Mode-Lexikon« 1727 unter dem Lemma ›Delicat‹ auftaucht (zit. n. Penke i.E.), hatte sich bereits wenige Jahrzehnte später das semantische Spektrum vergrößert; der Bezugnahme auf Speisen kam nun keine übergeordnete Bedeutung mehr zu. Um 1800 fallen in den Wörterbüchern jene Zuschreibungen des Niedlichen zusammen, die als Trias bis in die Gegenwart fortbestehen: Kleinheit, Weiblichkeit und Objekthaftigkeit. Allerdings wird das Niedliche noch primär der visuellen Wahrnehmung zugeordnet und (aus heutiger Sicht: überraschenderweise) nicht der haptischen. Man schaut es an, quetscht es aber (noch) nicht. Diese drei Charakteristika werden der ›niederen‹ Kultur zugesprochen. Das setzt sich schließlich in der Kunstwissenschaft im »Schema Kitsch/Kunst« (Giesz 1971: 7) fort: »Wenn man aber so genau nicht sagen kann, was Kitsch sein soll, so kann man vielleicht sagen, was er nicht ist oder nicht sein soll: Kitsch ist nicht Kunst, Kitsch ist geradezu der Gegenbegriff zu Kunst« (Braungart 2002: 2).

Dabei wird die Kleinheit des Niedlichen als »inferiore ›weibliche‹ Qualität« im Vergleich zur (männlichen) Größe des Erhabenen entworfen – eine semantische Konstruktion, an der »[ü]ber Jahrhunderte Männer […] gearbeitet haben« (Penke i.E.) und in der sich die vorherrschende Vorstellung bestätigt: die Frau als das ›schwache‹ Geschlecht. Als eine im Vergleich zum Erhabenen minderwertige Ästhetik wird das Niedliche zunehmend zur profanen Ästhetik von und für Frauen, die der hochkulturellen Erhabenheit (der Männer) gegenübersteht: »Ohne aber dem andern Geschlechte im Geringsten zu nahe zu treten, können wir mit Recht behaupten, daß diese Art von Geschmack sich am Besten für die Frauen schickt; und wenn diese sich über niedliche Gegenstände freuen, so freut sich gewiß jeder verständige Mann mit. Denn dieses Geschlecht ist ja vorzüglich bestimmt, für Alles Sinn zu haben, was schön und niedlich ist, weil eben dieses mit der Liebe zu den Kindern genau zusammenhängt«, schreibt Ernst Plattner 1836 in seinen »Vorlesungen über Ästhetik« (zit. n. Penke i.E.). Dieser Kurzschluss von Niedlichkeit als kleiner und daher ›niederer‹ Kultur, von Konsum und Weiblichkeit setzt sich schließlich im 20. Jahrhundert in der Figur des Mädchens bzw. Girls ebenso wie in der Kritik daran fort, ja verstetigt und verfestigt sich. Das hat schließlich Thomas Hecken in der Zuspitzung »Pop ist offensichtlich ein Mädchen« deutlich gemacht (Hecken 2011: 141). Der Kampf zwischen High und Low, Kunst und Massenkultur ist auch ein Geschlechterkampf.

So überrascht es wenig, dass das Niedliche mit der Metaphorik der ›Entmännlichung‹ verbunden ist. Kleine, gefällige, niedliche Kunst wird als eine Verweiblichung der Kultur angesehen: ein Motiv, das bis heute fortbesteht und nicht nur im westeuropäischen oder US-amerikanischen Raum wirkt, sondern genauso in Einschätzungen über das japanische Kawaii zu finden ist. So bemüht auch der Künstler Takashi Murakami für die Charakterisierung der in Japan (und mittlerweile weltweit) beliebten Ästhetik des Kawaii diese Metaphorik, wenn er den ›Kult der Cuteness‹ als Symptom einer »kulturellen Impotenz« beschreibt. Auch bei Murakami wird ein Spannungsfeld aufgemacht, an dessen einem Pol die männlich gedachte ›potente‹ avantgardistische Hochkultur steht und an dem anderen die niedliche ›impotente‹ Popkultur (Murakami 2005: 138).

 

Niedlichkeitskritik als Populärkulturkritik

Die jüngeren Überlegungen zur Ästhetik des ›Niedlichen‹ stehen oftmals noch im Banne der ›männlichen‹ Setzungen der Begriffsgeschichte. Die gegenwärtige Kritik ›niedlicher Ästhetik‹ weist darum große Überschneidungen mit der Populärkultur- und Konsumkritik auf. Schon in Daniel Harris’ »Cute, Quaint, Hungry and Romantic. The Aesthetics of Consumerism« Anfang der 1990er Jahre werden die üblichen Argumente der allgemeinen Kritik an der Konsum- und Popkultur konsequent auf die Ästhetik der Cuteness übertragen: beginnend bei der Oberflächlichkeit und Äußerlichkeit des Niedlichen – »emptied of all internal life« – über deren Standardisierung, Schematisierung und Künstlichkeit – »glaring artificiality«, »heavily mannered« – bis hin zur Feststellung, dass das Niedliche keine zeitlose, universelle Erscheinung von Reinheit, Instinkt, Spontanität sei, sondern nur sie nur vortäusche (Harris 1992: 177).

An diese Charakterisierung sowie an die programmatische Gegenüberstellung des ›niederen‹ Niedlichen einerseits und der ›hohen‹ Kunst andererseits schließt auch Sianne Ngai an: Das Niedliche sei »undeniably trivial«, besonders »in contrast to the moral and theological resonances of the beautiful and the sublime« (Ngai 2012: 18). Diese Opposition setze sich im 20. Jahrhundert fort: Während man sich die Avantgarde scharf und spitz, hart und schneidend vorstelle, seien niedliche Objekte ohne nennenswerte Kanten, sondern »soft, round, and deeply associated with the infantile and the feminine«. Wie Harris weist auch Ngai darauf hin, dass das Niedliche ungeformt sei und in seiner stilistischen Vereinfachung als »a sort of primitivism« angesehen werden könne (Ngai 2005: 814f.), womit sie auf formal-künstlerischer Ebene erneut an die Unterscheidung zwischen ›low‹ und ›high‹ erinnert, die in der Bildenden Kunst etwa zwischen ›primitiver‹ bzw. naiver und moderner Malerei gemacht wurde: »Die Maler des Naiven bilden keine Richtung innerhalb der modernen Kunst; ihre wunderlich einfältigen Gebilde stehen außerhalb der geistigen Auseinandersetzung der Berufskünstler«, heißt es in einer Klassiker-Monografie zur Naiven Kunst (Oto Bihalji-Merin 1971: 9).

Ngai erklärt sich dann auch den Aufstieg dieser ›schwachen und trivialen‹ ästhetischen Kategorie mit der »destabilization« des modernen, autonomen Kunstbegriffs (»the idea of art as unalienated labor«). Während Kunstwerke intensive (»the idea […] of art as shock or radical surprise«) und universelle Erfahrungen ermöglichten, sei die Wahrnehmung des Niedlichen »less intense« und mit einem schnellen Gewöhnungseffekt verbunden (Ngai 2012: 21). Das steht auf den ersten Blick im Widerspruch zum eingangs skizzierten »Aww-Effect« des Niedlichen, der gerade die Intensität der Wirkung betont. Wenn die Diagnose aber mit der einer »kurzen Halbwertszeit« einhergeht – und wenn außerdem ein Mangel attestiert wird, »der sich durch den Konsum jener Objekte nicht nachhaltig stillen lässt« (Richard 2020: 18) –, dann wird die Niedlichkeitskritik erneut mit einem bekannten kulturkritischen Argument kurzgeschlossen: Beim Populären handle es sich um einen stumpfen Reiz, der nur primitive Instinkte wecke, wohingegen innerhalb der ›hohen Kultur‹ der Intellekt angesprochen werde und ›echte‹ ästhetische Erfahrungen gemacht würden.

Das Reizvolle, Verführerische (und deshalb Manipulative) als ein populäres Prinzip ist bei der Charakterisierung des Niedlichen erneut weiblich konnotiert. Erst als ›niedliches‹ Mädchen zum kleinen, ›schwachen‹ Geschlecht gemacht, das gemessen am großen männlichen Prinzip der Erhabenheit minderwertig ausfällt, wird dem selbstermächtigten Niedlichen schließlich u.a. in Gestalt des Girls die manipulative ›Cuteness‹ zum Vorwurf gemacht. Etymologisch von ahd. suoʒi (8. Jh.) herstammend, schwankte die Bedeutung von ›süß‹ schon im Mittelalter zwischen der christlichen Verwendung der Süße Gottes im Sinne einer nicht-metaphorischen Semantik der Gnade und der Süße des Teufels als verführerischer Weltsünde (Ohly 1989). Auch im Englischen wurde ›cute‹ von ›acute‹ abgeleitet, das eine besonders clevere, aber auch hinterlistige Person bezeichnet. Zum einen manipulierbar zu sein und durch fremdbestimmte Niedlichkeit infantilisiert zu werden, zum anderen durch selbstbestimmte Niedlichkeit als manipulativ und verführerisch zu gelten – das sind die beiden Seiten der Cuteness-Medaille, die lange vor allem für Frauen vorgesehen war.

Die fremdbestimmte Niedlichkeit wurde vielfach entlarvt und kritisiert. »Cuteness … is not something we find in our children but something we do to them«; das Niedliche ästhetisiere Hilflosigkeit und sei deshalb sadistisch und entmenschlichend, heißt es bei Daniel Harris. Niedlichkeit sei ein Mittel der Entmachtung, lasse es doch die so Bezeichneten dümmer und verletzlicher erscheinen, als sie eigentlich sind. Diese Verletzlichkeit diene wiederum dazu, jemanden oder etwas zu bemitleiden, um sich selbst großherzig fühlen zu können. Deshalb sei die fremdbestimmte Niedlichkeit auch als Ausdruck von Narzissmus verstehen. Mehr noch: Da mit dem Niedlichen meistens eine Anthropomorphisierung einhergehe – insbesondere bei Konsumprodukten –, müsse es sogar als »massive human chauvinism« angesehen werden, weil das Anderssein regelrecht ausgelöscht werde (Harris 1992: 179).

Die Ästhetik des Niedlichen wird entsprechend als Ausdruck einer komplizierten Machtbeziehung zwischen dem (männlichen) Subjekt und dem als ›süß‹ bezeichneten (weiblichen) Objekt angesehen (so etwa Birgit Richard in Anlehnung an Ngai). Die Objekthaftigkeit von Frauen, die von Männersubjekten besessen, kontrolliert und patriarchal dominiert würden, trete in der Charakterisierung als ›niedlich‹ oder ›süß‹ besonders deutlich zutage. Zudem veranlasse das männliche Subjekt das weibliche Objekt zur Selbstinfantilisierung, zu einer körperlichen und sprachlichen Verkleinerung – das wiederum erhalte die gewollte Asymmetrie des Machtverhältnisses aufrecht (Richard/Gunkel/Müller 2020: 15). Jüngst hat auch die Autorin Ann-Kristin Tlusty eine feministische Kritik an der »süßen Frau« formuliert: »Die süße Frau hat gelernt, sich selbst als Objekt zu betrachten. Sie unterliegt einem permanenten Blick von außen, den sie übernimmt, auf sich richtet, durch den sie sich prüft« (Tlusty 2021: 66). Hier wird indirekt der von Laura Mulvey so genannte »male gaze« angesprochen und mit der verbreiteten Diagnose verknüpft, dieser sei unüberwindbar, gewissermaßen ein Kulturschicksal. Silvia Bovenschen hat diesen Befund kritisch mit der Geschichte vom Igel und dem Hasen verglichen: Was man auch tut, der Igel ist immer zuerst da (Bovenschen 1979: 139). Diese Diagnose deutet jede Aneignung, jede Selbstermächtigung durch z.B. Niedlichkeit zwangsläufig zur Selbstinfantilisierung um.

 

Die Macht niedlicher Mädchen in der Popmusik

Die feministische Kritik an der Niedlichkeit als einer weiblich konnotierten Ästhetik gerät (gewollt oder ungewollt) oft auch zu einer Kritik an jenen Frauen, die sich niedlich gebärden. Das wird besonders bei diversen niedlichen Mädchenfiguren (und den Reaktionen darauf) deutlich, vom ›Süßen Mädel‹ des Wiener Fin de Siècle über Stars wie Shirley Temple bis hin zum heute noch existierenden ›Girl‹. Blickt man in die jüngere Popmusikgeschichte, denkt man schnell an die Spice Girls, die nichts Geringeres als damals vorherrschende Rollenbilder für junge Frauen repräsentieren sollten. Eine davon war Emma Bunton als sog. »Baby Spice«, die stets zwei Zöpfchen und weiße oder rosafarbene Kleider trug, womit Unschuld zum Ausdruck gebracht werden sollte. Überhaupt artikulierte Baby Spice in ihrer Gesamtinszenierung (und dem Spitznamen damit gerecht werdend) performativ Kindlichkeit: Sie machte leichte X-Beine oder spielte mit einzelnen Strähnen ihrer Haare. Gesten, die für Unerfahrenheit und Unsicherheit stehen – und damit verständlicherweise nicht nur ›niedlich‹ gefunden, sondern ebenfalls als (Selbst-)Infantilisierung eingestuft wurden. Auch für Stars wie Britney Spears wurde das niedliche Mädchen-Image zum Verhängnis. Solche in den späten 1990er Jahren als ›brave Mädchen von nebenan‹ auf dem Musikmarkt positionierten und teilweise wie Spielzeugpuppen vermarkteten Superstars, denen Sätze wie »I was born to make you happy« von meist männlichen Autoren in den Mund gelegt wurden, konnten immer nur für kurze Zeit als glaubwürdig empfunden werden, sehr schnell aber machte man ihnen diese Inszenierung als Manipulation zum Vorwurf. Das war wenig überraschend, ist doch das Sprechen über Cuteness generell dominiert von dem ebenfalls konsumkritischen Vorwurf, manipulativ, verführerisch, reizend zu sein und – wie schon gezeigt wurde – nur oberflächlich zu wirken. Deshalb steht auch die oft sexuelle Aufladung der Girl-Inszenierung aus dieser Sicht keinesfalls im Widerspruch zur Niedlichkeit, sondern verstärkt diese sogar (und umgekehrt).

Die Selbstbeschreibung als ›süßes Mädel‹ oder ›Cute Girl‹ stellt aus anderer Perspektive aber gerade den feministischen – meist popfeministischen – Versuch dar, sich entweder von tradierten Frauenrollen wie der der Hausfrau und Mutter abzugrenzen oder sich des ›male gaze‹ zu ermächtigen. Bei Cyndi Laupers Musikvideo zu »Girls Just Wanna Have Fun« zeigt sich das Girl zwar selbstbewusst unbeschwert-kindlich, aber keinesfalls unschuldig. Trotzig und frech steht ihre bunt-punkige Süßwarenwelt der miefigen und freudlosen Umgebung der Eltern gegenüber. Gerade durch diesen Zusammenprall, durch die sichtliche Abgrenzung von der Elterngeneration, zeigen sich die Mädchen in dem Musikvideo als unabhängig – und nicht als Spielzeug. 1983, als »Girls Just Wanna Have Fun« erschien, konnte die selbstbewusste Cuteness der Girls allerdings noch sehr viel selbstverständlicher als »unusual«, wie es im Titel des Albums (»She’s So Unusual«) heißt, erscheinen – zumindest in Hinblick auf den thematisierten Generationenkonflikt, der genug Reibungsflächen bot, um Girliness provokativ aussehen zu lassen.

Einige Jahrzehnte und einige Selbstermächtigungsversuche im Zuge der Aneignung der Niedlichkeitsästhetik sowie der feministischen Kritik daran später, geht es auch in jüngeren Popmusikvideos um das Thematisieren von Geschlechter-Machtverhältnissen durch Affirmation – es geht darum, deutlich zu machen, dass es sich bei Cuteness nicht notwendigerweise um eine Ohnmachtsästhetik handelt und Niedliches nicht zwangsläufig schwach, infantilisiert, objektifiziert ist. Das Musikvideo zu »Go To Town« von Doja Cat (2018) setzt sich lustvoll mit der Ambivalenz der Cuteness zwischen manipulierbar und manipulativ, unschuldig und verführerisch auseinander. Das süße Kätzchen wird zur Domina, die sich einen nackten Mann im Käfig hält. Pastellene Farben, flauschige Materialien, die auf glänzende Oberflächen treffen, Motive wie süße Kätzchen oder opulente Torten – die Welt von »Go To Town« ist Clean-Pop (Kohout 2017) und spielt damit auf eine in den letzten Jahren beliebte Internetästhetik an. Der damit verbundene Subtext besteht in der These, dass man den beschriebenen Gegenwartsphänomenen eine Umgewichtung im kulturellen Geschlechterkampf entnehmen kann. Zeugt die Dominanz der Ästhetik des Niedlichen nicht auch insgesamt von einer Matriarchalisierung? Und ist dem dann nicht auch eine (positive) Neubewertung der Pop- und Populärkultur zu entnehmen?

Doja Cats Musikvideo zu »Kiss Me More« (2021) schließt an diese Zuspitzung an. Hier wird die Ästhetik des Niedlichen als eine Art matriarchale Welt vorgeführt. Die im Video erzählte Geschichte geht in etwa so: Ein Astronaut verirrt sich auf einem fremden Planeten, er ist so fasziniert von der rosa-pastelligen Welt voller Erotik und Lust, dass er ihr verfällt. Die Geschichte von Adam und Eva wird im weiteren Verlauf des Videos schließlich ins Gegenteil verkehrt: Im Video kostet der Astronaut von einer verbotenen Frucht und wird dadurch am Ende des Videos zum Sklaven der Frauen. Diese (fiktive) Umkehrung des Geschlechter-Machtverhältnisses ist natürlich nicht neu, allerdings sind es die Bedingungen, unter denen sie stattfindet, sowie die Akzeptanz, auf die sie stößt. Ästhetisch auffällig ist, dass in den Videos alles cute ist, hier gibt es keine stumpfsinnigen, farblosen Eltern, zu denen die Hauptprotagonisten einen Kontrast darstellen. Es gibt auch keine aufsässigen Männer, vielmehr fügen sie sich in ihre neue Rolle ein.

Doja Cats Videos, besonders auch ihr Album »Planet Her«, dessen Abschluss »Kiss Me More« bildet, wurde vielerorts als ›empowernd‹ beschrieben, ein Begriff, der gegenwärtig auch für viele andere benachbarte Begriffe wie ›aufbauend‹, ›motivierend‹, ›ermutigend‹ oder ›inspirierend‹ verwendet wird. Adjektive, mit denen 2018 auch Janelle Monáes Musikvideo zu »Pynk« geradezu überschüttet wurde. Bekannt wurde das Video vor allem durch ein modisches Accessoire, nämlich eine Hose in Form einer rosafarbenen großen Vulva, die sich beim Tanzen öffnet und schließt. Sie greift einerseits die vielfach von Feministïnnen geäußerte Forderung auf, das weibliche Geschlecht nicht mehr als »Loch« zu begreifen – und damit zu signalisieren, es fehle etwas »da unten«, sondern in ihrer ausdrucksstarken Form selbstbewusst zu zeigen. Andererseits erinnert sie aber durch die Rüschen, aus denen die Vulva geformt ist, auch daran, wie durch den Begriff der ›Pussy‹ eine Cutifizierung, Verkleinerung und damit Marginalisierung des weiblichen Geschlechts stattfindet. Der Begriff war zur Entstehung des Albums durch Donald Trumps sexistischen Satz »Grab them by the pussy, you can do anything« und die davon ausgelöste Gegenbewegung »The Pussy Grabs back« besonders politisiert.

Nun ist eine beliebte und oft auch von Feministïnnen gestellte Frage in diesem Zusammenhang: Wie empowernd kann die Affirmation und Aneignung von etwas sein, das bislang vor allem zur Unterdrückung oder zumindest Aufrechterhaltung eines asymmetrischen Machtverhältnisses diente? Wieso sollte das Niedliche, das zur Kleinmachung eingesetzt wurde und mit jenem Reizvoll-Verführerischen verbunden ist, das zur Objektifizierung verwendet wurde, zu Selbstbewusstsein und Ermächtigung beitragen? Bleibt die freiwillige Selbst-Infantilisierung nicht dennoch eine Infantilisierung?

Mit Katy Perry könnte man dem zustimmen. Im Musikvideo zu »Chained To The Rhythm« wird dem Cuteness-Zeitgeist der Gegenwart ein konservativer Grundzug unterstellt (Kohout 2017). In dem Video, das in einem fiktiven Freizeitpark in Pastelltönen spielt, wird an den American Dream erinnert, es greift auf Motive wie das Hamsterrad zurück und weist auf Geschlechterklischees hin: Die Frauen setzen sich brav auf jene Plätze in der Achterbahn, die mit rosafarbenen Herzen markiert sind, Jungs auf die blauen. Die Ermächtigung ist nur ein Phantasma, zwar ist man nicht mehr nur Hausfrau und Mutter, rosa bleibt man aber trotzdem. Es ist eine nicht nur auf den ersten Blick berechtigte und nachvollziehbare Position, die niedliche Ästhetik des Empowerments als eine Wohlfühl-Ästhetik zu bezeichnen, durch die am Ende aber doch nichts bewirkt werden kann. Besonders die feministische Kritik an einem cuten Empowerment gründet allerdings oft auf der Vorstellung, dass Niedliches, Rosafarbenes, Pastell und Weichzeichnung unentrinnbar der überkommenen geschlechterspezifischen Ordnung verhaftet sei – da Rosa für Frauen stehe, könne es Frauen nicht der Selbstermächtigung dienen, sondern würde nur deren Unterdrückung reproduzieren. In einem weiteren Schritt ist es deshalb ratsam, nicht nur die Stereotypisierungen, sondern auch die Stereotypisierungskritikerïnnen zu hinterfragen, die Niedlichkeit nach wie vor rein als Schwäche, Unterwürfigkeit und Passivität interpretieren.

 

Niedlichkeit als Kapitulationsästhetik?

»Jungs und Panzerfahren? Das passt irgendwie nicht zusammen«, lautet ein Zitat aus der japanischen Animeserie »Girls & Panzer« von Tsutomu Mizushima, die seit dem Jahr 2012 in Japan, Europa und Nordamerika läuft. Zu dem Franchise gehören außerdem eine Manga-Serie, ein Kinofilm, eine Ausstellung und eine Kooperation mit dem extrem erfolgreichen Online-Multiplayer-Game »World of Tanks«. Der Film lief über ein Jahr in den japanischen Kinos und avancierte zum bis dato zweiterfolgreichsten Anime-Kinofilm Japans. »Girls & Panzer« spielt in einer fiktiven Welt, in der die militärische Schwerindustrie (aus Gründen, die nicht genannt werden) in den allgemeinen Zivilalltag eingebettet ist.

Wie es das Zitat schon vermuten lässt, werden in dem Anime Schulmädchen in die männlich gelesene Domäne der Kriegstechnologie und -Führung versetzt. In der Welt von »Girls & Panzer« gilt das sog. Senshado, die Kunst des Panzerfahrens, nicht nur als irgendeine Kampfkunst, sondern als die höchste weibliche Disziplin, um aus Schulmädchen verantwortungs- und selbstbewusste junge Frauen zu machen. Dabei wird die Kunst des Panzerfahrens eingereiht in tatsächlich existierende japanische Kunsthandwerke wie Kalligrafie oder Ikebana – wobei das Panzerfahren verständlicherweise als eine weniger feine, weniger filigrane, weniger zurückhaltende Tätigkeit wahrgenommen wird, sondern als stark, dominant und direkt. Die Hauptfigur der Serie ist Miho Nishizumi, die aus einer Familie mit langer Panzerfahrer-Tradition stammt. Da Miho mit dieser Tradition brechen möchte, wechselt sie an eine Schule, in der die Kunst des Panzerfahrens nicht unterrichtet wird. Aber kaum angekommen, wird sie prompt wieder eingeführt und Miho wegen ihres familiären Hintergrunds zur Teilnahme verpflichtet. Im Verlauf der Serie schafft sie es zusammen mit ihren Freundinnen dennoch, durch eine individuelle Aneignung des Panzerfahrens mit den gültigen Traditionen zu brechen. Zum Beispiel, indem sie die Panzer individuell gestalten und etwa rot, gelb oder pink anstreichen – entgegen ihrer normalerweise zur Tarnung grün gehaltenen Erscheinung.

»Girls & Panzer« ist in Bezug auf die darin präsentierten Mädchencharaktere einerseits ein typisches Moe-Anime, Teil der japanischen Niedlichkeitskultur, andererseits durch die Story eine Brechung, vielleicht sogar eine Kritik an dem Format. Denn die Schulmädchen tun nicht, was sie in anderen Animes machen: schüchtern sein, mit Jungs flirten, Kalligrafie oder Ikebana lernen, sondern sie fahren eben Panzer. Über die latente Präsenz durch die oft phallisch inszenierten Panzer und Kanonen hinaus spielen Männer in der Serie aber keine Rolle und tauchen auch fast nicht auf. Schule, Panzerfahren und Freizeitaktivitäten finden also ausschließlich unter Mädchen statt und damit auch in einer Art Safe Space.

Dennoch: Der Kontrast – niedliche ›Girls‹ auf der einen Seite, und die männlich gelesene und phallisch dargestellte Domäne der Kriegstechnologie auf der anderen Seite – überrascht, ja irritiert sogar. Und das gilt natürlich nicht nur für diese Serie, sondern generell. Gerade wegen der geschlechterspezifischen Kodierung und den damit verbundenen Charakterisierungen passen Niedlichkeit und Krieg nicht zusammen. Schließlich ist Niedliches schwach, harmlos und lieb, während Kriegshandlungen besondere Stärke, aber auch Rücksichtslosigkeit bis Bösartigkeit beanspruchen. Im Kriegerischen und seiner Ästhetik, die durch dunkle Farben, Camouflage und Härte gekennzeichnet ist, drückt sich performativ Entschiedenheit, Ernsthaftigkeit, Strenge und Angriffslust aus – und nicht, wie im Niedlichen, Verspieltheit, Unschuld, Gutgläubigkeit und Sensibilität. In anderen Beispielen kann das Aufeinandertreffen von Cuteness und Krieg deshalb sogar zum Erschaudern führen, etwa beim Anblick der Bilder, die auf dem Tumblr-Blog »Nazis with Cats« gesammelt werden. Die Vorstellung, dass Soldaten einen Sinn für das Niedliche haben könnten, ist einem in vielen Fällen zuwider. Dass Nationalsozialisten, ja sogar SS-Angehörige Freude an einem niedlichen Kätzchen haben, erscheint als Widerspruch in sich.

Rezensionen auf Streaming-Seiten und Fan-Foren lässt sich entnehmen, dass nicht in die japanische Anime-Kultur-Eingeweihte an der Serie »Girls & Panzer« häufig kritisierten, durch die niedlichen Mädchen und ihre spielerische Aneignung der Panzertechnologie finde eine Verharmlosung des Krieges statt. Dieser Bewertung liegt die Annahme zugrunde, das Niedliche sei zu schwach, um sich einer wie auch immer gearteten gewaltvollen Realität zu stellen. Zu harmlos, um einem Thema wie Krieg gerecht zu werden. Und stimmt das nicht auch? Eine Hinwendung zur Ästhetik des Niedlichen – wäre das angesichts der in vielerlei Hinsicht bedrohlichen Gegenwart nicht bloße Kapitulation? Und ist es nicht so: Lässt sich die immer mehr Bereiche des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens durchdringende Ästhetik des Niedlichen nicht als eine solche Kapitulation interpretieren? Ob niedliche Social-Media-Filter, megacuter Catcontent bis hin zu Emojis – sind das nicht doch nur Stimuli, die die Resignation vor den Folgen von Pandemie, der Klimakrise, den Krieg in der Ukraine und mehr ermöglichen? Stimuli, die doch nur den Wolf im Schafspelz verstecken?

Es handelt sich aber nicht länger um rein rhetorische Fragen. Den beiden etablierten Annahmen – 1. das Niedliche ist weiblich/mädchenhaft/von und für Frauen, 2. das Niedliche ist schwach und kann deshalb in Zeiten des Krieges nur als eine Kapitulation verstanden werden – stehen mittlerweile einige Erzählungen und Positionen gegenüber, in denen das Niedliche gerade nicht als schwach, sondern als stark angesehen wird, und auch solche, in denen die Niedlichkeitsästhetik nicht notwendigerweise geschlechtlich kodiert ist. Eine davon ist »Girls & Panzer«, die in aller Direktheit verdeutlicht, dass sich vermeintliche Widersprüche und Gegensätze nicht ausschließen, ja sogar eine Einheit darstellen können. Wenn die Mädchen einkaufen gehen, um die Innenräume ihrer Panzer mit allerlei niedlichen Kissen und Kuscheltieren auszustatten, wird das in der Serie keinesfalls als Schwäche angesehen, sondern als ein intelligentes Einrichten in einer martialischen Lage – als eine Art mentales Empowerment. Das ist auch im Kriegsalltag keinesfalls unüblich, wird aber nur selten erzählt oder berichtet. In Martin Dammanns Buchprojekt »Soldier Studies: Cross-Dressing in der Wehrmacht« wird es aber beispielhaft sichtbar. Er hat zahlreiche Amateurfotografien von Wehrmachtssoldaten gesammelt, die sich als Frauen kleiden und niedlich inszenieren – nicht zuletzt, um ihre Lage dadurch erträglicher werden zu lassen, um sonst nicht auslebbaren »Sehnsüchten« nachzukommen. (Dammann 2018: 4)

 

Queer Cuteness

Die Bilder vom Cross-Dressing in der Wehrmacht können nicht als Beleg dafür gelten, viele Soldaten seien queer gewesen und hätten mit ihren Ausstaffierungen eine Heteronormativitätskritik artikulieren wollen. Dass solche Bilder dennoch als Knipserfotografien im Privaten verblieben und damit die Bedeutung der (weiblich gelesenen) Niedlichkeit im Wehrmachtsalltag unsichtbar und unerwähnt blieb, zeugt vom Tabu der Ästhetik in Bereichen, die Männer dominierten.

Konsequenterweise kommt Cuteness heutzutage im Gegenzug häufig dann zur Anwendung, wenn die binäre Geschlechterordnung infrage gestellt werden soll. Queere Profile auf Instagram sind mit Regenbögen und verniedlichten rundlichen Einhörnern illustriert. Die bis 2019 bestehende querfeministische Plattform »S*ftie« von Funk warb mit dem Slogan »Schonungslos Zart« und verwendete den Hashtag #radicalsoftness für die Verschlagwortung ihrer Inhalte. Damit sollte die Vorstellung konterkariert werden, Weichheit oder Niedlichkeit könne nicht provozieren, besitze aufgrund ihrer vermeintlichen Schwäche keine Radikalität. Offenbar passt die Ästhetik des Niedlichen in eine Zeit, in der einst vorherrschende Dichotomien wie ›weiblich‹ und ›männlich‹, ›sexuell‹ und ›nicht-sexuell‹, ›erwachsen‹ und ›kindlich‹, ›echt‹ und ›künstlich‹, ›menschlich‹ und ›nicht menschlich‹, ›gut‹ und ›böse‹ infrage gestellt werden. Schaut man sich die Motivwelt queerer Niedlichkeit an, sind zahlreiche Versuche zu erkennen, jene Gegensätze, die einst große Ideologien strukturiert und ihnen Sinn gegeben haben, zu überwinden. Oftmals ist eine nostalgische Referenz auf die Kindheit zu beobachten, in der solche Gegensätze vermeintlich wenig ausgeprägt sind.

Bevor Marktforschungsagenturen den Kawaii-Stil entdeckt und flächendeckend kapitalisiert haben, kam das Niedliche auch in Japan in seiner Fähigkeit zum Einsatz, vorherrschende Ideologien zu entmachten – ohne sie gezielt anzugreifen. Vielmehr wurde der Fokus, wie heute bei empowernden queerfeministischen Plattformen und Social-Media-Profilen, auf die eigene Community gerichtet. Sharon Kinsella hat in ihrem vielzitierten Aufsatz »Cuteness in Japan« gezeigt, wie Kawaii ursprünglich als literarischer Underground-Trend unter vornehmlich weiblichen Jugendlichen entstand. (Kinsella 1995) Anfang der 1970er Jahre begannen viele Teenager in Japan mit kindlichen Schriftzeichen zu schreiben, die sich durch die Verwendung extrem stilisierter, abgerundeter Zeichen auszeichneten und zwischen die willkürlich Bildzeichen wie Herzchen, Sternchen oder Gesichter eingebunden wurden. Das Gegenkulturelle an dieser auf den ersten Blick harmlosen niedlichen Schrift war, dass sie zum Teil durch Romanisierung entstand: So wurden die Zeichen nicht wie in Japan üblich vertikal, sondern horizontal geschrieben und mit bis dahin unüblichen Satzzeichen wie Ausrufezeichen oder sogar englischen Wörtern versehen. Die Rebellion gegen die traditionelle japanische Kultur bestand also zum Teil in der Identifikation mit westlichen Kulturen (weshalb auch Takashi Murakami bis heute im Kawaii eine japanische Version eigentlich amerikanischer Popkultur sieht). In den 1980er Jahren war aus dem literarischen Trend ein Modetrend geworden, aus Kawaii eine »cheeky, androgynous, tomboy sweetness« (ebd.: 229). Begleitet wurde dieser Trend von Magazinen, in denen das Niedliche als eine Möglichkeit angesehen wurde, Unabhängigkeit in der Abhängigkeit zu bewahren. Kinsella hat gezeigt, dass Kawaii zu dieser Zeit als Rebellion gegen die etablierten gesellschaftlichen Werte und Realitäten verstanden wurde – wenn auch nicht, wie im Westen, durch sexuelle Provokationen, sondern durch die übertriebene Ablehnung des Erwachsenseins, die besonders für Frauen als eine Zeit der Einschränkungen und Unfreiheit wahrgenommen wurde, was auch damit zusammenhing, wie Kinsella ebenfalls plausibel macht, dass es in Japan kein ausgeprägtes Denkmuster von einem emanzipierten Erwachsenen gab und damit verbunden keine gesellschaftlich akzeptierten alternativen Lebensmodelle (ebd.: 242). Auf ähnliche Weise scheint sich Niedlichkeit gegenwärtig auch in der queeren oder LGBTQ+-Community besonderer Beliebtheit zu erfreuen, wo Einhörner und Regenbögen ebenfalls spielerisch-maskottchenhaft zur Anwendung kommen.

Ob als Selbstinszenierung oder Fremdzuschreibung: Indem Formen des Niedlichen zu menschlicher Sozialität motivieren, werden sie zum Gegenstand moralischer Besorgnis und zu »members of the moral circle« (Sherman/Haidt 2011: 248). Simon May hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Anthropomorphisierung, die oft mit dem Niedlichen einhergeht, nicht zwangsläufig eine unterdrückende Geste ist, sondern auch dazu veranlassen kann, anderen gegenüber human zu sein. So diente das Ausweisen als ›anders‹, ›animalisch‹ und ›un- oder untermenschlich‹ in der Vergangenheit oftmals dazu, Unterdrückung und Gewalt zu ermöglichen oder zu rechtfertigen. Im Netz dient die Ästhetik des Niedlichen hingegen tatsächlich oft dazu, sich anzunähern und anzugleichen. Hier sind niedliche Filter, Masken, Sticker und Emojis längst nicht mehr nur Techniken oder Medien, die von Frauen ausgeübt und angewendet werden: Vielmehr zeigt sich, dass die oftmals genderfluiden Darstellungsweisen ein wichtiges Hilfsmittel sind. Sie bilden nicht zuletzt die Voraussetzung, um das kommunikative und soziale Potenzial des Niedlichen auszuschöpfen. Eine Entwicklung in diese Richtung ist bereits durchaus zu beobachten: Genannte Filter, Masken, Sticker sind für alle User gleich und werden auch von allen – wenn auch noch in unterschiedlichem Umfang – genutzt. Welches Gesicht sich auch dahinter verbirgt: Sie alle bekommen einen niedlich-rosigen Teint, leicht vergrößerte Augen, ein spitz-süßes Kinn etc. So etabliert sich eine Ästhetik, die frei von Geschlechterzuschreibungen ist.

Ludwig Giesz hat in seiner »Phänomenologie des Kitsches« etwas geschrieben, das auch für das Niedliche gilt: Der Kitsch besäße eine besondere »Klebrigkeit«: »Die an klebrigen Dingen beobachteten paradoxen Eigenschaften (weder flüssig wie davonlaufendes Wasser noch fest wie die beruhigend trägen soliden Gegenstände, einerseits passiv, weich, folgsam, jedem Druck nachgiebig, andererseits, wie Sartre in seiner ›Psychoanalyse der Dinge‹ sehr schön gezeigt hat, mich besitzend gerade in dem Augenblick, da ich es zu besitzen glaube), – diese Eigenschaften des klebrigen Dinges entsprechen der Bewußtseinsverfassung des Kitschigen. Es handelt sich nicht bloß um die angewiderte Reaktion des vom Kitschgegenstand abgestoßenen Kunstfreundes, die sich in den Worten ausspricht: ›Ich empfinde Kitsch als widerlich klebrig‹, sondern die klebrige Struktur des Kitsches wird auch im Kitschgenuß selbst – allerdings bejahend – erfahren« (Giesz 1971: 41). Was Giesz als »Diktatur« empfindet, das »Adhärieren eines fremden […] die Fusion einer kitschigen Welt mit mir. Nicht frei, mir das Fremde abzustreifen« (ebd.), wird in der gegenwärtigen Netzkultur als hilfreicher Klebstoff zur Verbindung und letztlich gewünschten Überwindung von Dichotomien begriffen.

 

Good is down

Die kulturgeschichtlich offensichtlich zusammenhängenden Gegensatzpaare ›niedlich und sublim‹, ›klein und groß‹, ›kindlich und erwachsen‹ lassen sich einreihen in die Orientierungsmetapher ›oben und unten‹ – ›high und low‹ –, die George Lakoff und Mark Johnson in ihrer Arbeit »Leben in Metaphern« beschrieben haben. Orientierungsmetaphern geben einem Konzept eine räumliche Orientierung: »So-called purely intellectual concepts, e.g., the concepts in a scientific theory, are often – perhaps always – based on metaphors that have a physical and/or cultural basis« (Lakoff/Johnson 2003: 20). Als Beispiel nennen die Autoren »HAPPY IS UP«: Die Tatsache, dass das Konzept HAPPY nach UP ausgerichtet ist, führt zu englischen Ausdrücken wie »I’m feeling up today« (Lakoff/Johnson: 15). Auch »GOOD IS UP« wohingegen »BAD IS DOWN« – diese Bewertung traf lange auch auf klein und groß, niedlich und sublim zu. Aber tut sie das noch immer?

»Die Popkultur der Gegenwart zeichnet sich vor allem durch einen erhöhten Rang des ›Weiblichen‹ aus«, schreibt Thomas Hecken in seinem Artikel »Pop 2022« in dieser Ausgabe der »Pop«-Zeitschrift. Ergänzen kann man, dass die Popkultur der Gegenwart sich auch durch einen erhöhten Rang des Niedlichen auszeichnet. Als Pendant zu ›cool‹ ist ›niedlich‹ oder ›süß‹ zunehmend zum Ausdruck von Sympathie gegenüber bislang nicht oder kaum aufgewerteter Populärkultur avanciert. ›Cool‹ dient der Charakterisierung von und dem Bekenntnis zu einer Popkultur, die kulturell aufgewertet werden soll oder es bereits ist, sowie der positiven Fremd- und Selbstbeschreibung von Personen, die besonders distanzfähig und abgeklärt sind. ›Cute‹ wird nun immer häufiger als eine positive Fremd- und Selbstzuschreibung jener Personen verwendet, die gerade nicht distanzfähig sind, sondern besonders emphatisch und sensibel.

 

 

Literatur

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Bovenschen, Silvia (1979): Die imaginierte Weiblichkeit. Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen. Frankfurt am Main.

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Buckley, Ralf C. (2016): Aww: The Emotion of Perceiving Cuteness. In: Frontiers in Psychology 7: 1740, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5102905/pdf/fpsyg-07-01740.pdf

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Dammann, Martin (2018): Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht. Berlin.

Giesz, Ludwig (1971): Phänomenologie des Kitsches. München.

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Harris, Daniel (2000): Cute, Quaint, Hungry, and Romantic. The Aesthetics of Consumerism. New York.

Hecken, Thomas (2011): Girl und Popkultur. Bochum. In: Ders.: Populäre Kultur. Mit einem Anhang »Girl und Popkultur«, Bochum 2006, S. 141-215.

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Penke, Niels (i.E.): Das Schöne im Kleinen. Ansätze zu einer Begriffsgeschichte des Niedlichen. In: Zeitschrift für Kulturwissenschaft 1/2022.

Richard, Birgit/Gunkel, Katja/Müller, Jana (2020): »Felt Cute, Might Delete Later« – Zur polyvalenten Ästhetik des Niedlichen. In: Dies. (Hg.): #cute. Eine Ästhetik des Niedlichen zwischen Natur und Kunst. Frankfurt am Main/New York, S. 7-35.

 

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