Social-Media-Forschung
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 122-127]
Keine andere Internet-Plattform hat die Popkultur so nachhaltig verändert wie YouTube. Die Video-Sharing-Plattform hat mit der nicht-linearen Bereitstellung von Gratiscontent nicht nur unser Rezeptionsverhalten revolutioniert, sondern auch völlig neue Produktionsweisen und damit auch popkulturelle Genres und Formate hervorgebracht. Als im April 2005 Jawed Karim, einer der Gründer der Plattform, das erste Video auf YouTube hochlud, war noch nicht absehbar, in welchem Ausmaß Amateure die neue Möglichkeit, ein globales Publikum zu adressieren, nutzen würden. 16 Jahre danach blicken wir auf eine Kulturindustrie, die es zwar in ökonomischer Hinsicht durchaus mit den großen Medienbrands wie Disney und Universal aufnehmen kann, sich in ihrer Struktur und Logik aber dennoch deutlich von der dominanten Unterhaltungsproduktion des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Die Charakteristika dieser neuen Industrie wurden in einigen Publikationen jüngeren Datums aus sozial- und kommunikationswissenschaftlicher Perspektive in den Blick genommen.
So erschien etwa die klassische und viel zitierte Monografie über YouTube von Jean Burgess und Joshua Green von 2009 neun Jahre später in einer zweiten Ausgabe. Und obwohl viele der Befunde aus der Frühzeit der Plattform nach wie vor Gültigkeit haben, bedurfte das Buch einer gründlichen Überarbeitung. Schon in der ersten Auflage verwiesen die Autorïnnen auf die genuin kommerzielle Ausrichtung der Plattform, die von Beginn an nicht nur, wie es der frühe Slogan der Gründer, »Boadcast yourself«, unterstellte, den Amateuren eine Plattform bieten sollte, sondern auch den profitorientierten Medienunternehmen. Und auch die Amateure entdeckten schnell, dass sich mit den von ihnen erzielten Reichweiten auch Einnahmen erzielen ließen. Schon 2007 bot der Suchmaschinenanbieter Google, der YouTube im Jahr zuvor von den Gründern übernommen hatte, sowohl den großen Content-Produzenten in Hollywood als auch den neuen autonom agierenden YouTube-Stars an, im Rahmen seines sog. Partnerprogramms an den rasant wachsenden Werbeeinnahmen zu partizipieren. Was aber zum Zeitpunkt der ersten Auflage des Buchs noch nicht absehbar war, ist das Ausmaß der Professionalisierung, das diese Form der Produktion erfahren sollte, und die Vielfalt an Monetarisierungsformen, mit denen die YouTuberïnnen nun Einnahmen erzielen konnten – von der Produktplatzierung bis hin zum Verkauf von Merchandising oder sogar eigenen Markenartikeln.
Eine zentrale Rolle kommt dabei den sog. Multi-Channel-Networks (MCNs) zu, auf die in der Neuauflage an verschiedenen Stellen eingegangen wird. Dieser neue Typus von Medienunternehmen übernimmt Aufgaben, die in der klassischen Kulturindustrie Künstleragenturen, Labels oder Studios zukam und nach wie vor auch zukommt. MCNs unterstützen YouTuberïnnen bei der Produktion, bei der Vernetzung mit anderen YouTuberïnnen, bei der Vermittlung von Werbepartnern und der crossmedialen Verwertung ihrer Produktionen. Nicht unerwähnt bleibt dabei auch der Wandel, den YouTube selbst vollzog: von einer neutralen Plattform hin zu einem Content-Anbieter und -Entwickler. Zwar genießt YouTube als bloßer Serviceanbieter noch immer den Schutz vor Urheberechtsklagen nach den Safe-Harbor-Bestimmungen des Digital Millennium Copyright Acts, doch mit den Bezahldiensten wie YouTube Red (jetzt YouTube Premium) entwickelt sich der Konzern immer mehr zu einem klassischen Medienkonzern. So können besonders erfolgreiche Creators (wie die YouTuberïnnen jetzt genannt werden) in den YouTube-Spaces von Los Angeles, London oder Berlin nun auch mit professionellem Equipment produzieren.
Der Band von Burgess und Green bietet, wie schon die erste Auflage, einen guten Einstieg in die Thematik. Er zeichnet die wichtigsten Entwicklungslinien und strukturellen Rahmenbedingungen nach und gibt einen Einblick in den Reichtum popkultureller Formen und Kommunikationsstrategien. Die Verfasserïnnen stützen sich dabei aber vor allem auf die Forschung anderer, die in den einschlägigen englischsprachigen Journals wie »Media, Culture & Society«, »International Journal of Cultural Studies« oder «New Media & Society« in großer Zahl publiziert wurde. (Die gleichermaßen intensive Forschung zu YouTube aus anderen Disziplinen wie etwa dem Marketing, der Gesundheitswissenschaft oder der Informatik bleibt dabei in der Regel unberücksichtigt.)
Eine der wichtigsten Plattformen in diesem Zusammenhang ist »Convergence. The International Journal of Research into New Media Technologies«, auf der immer wieder Aufsätze zu den unterschiedlichsten Aspekten kultureller Produktion in Sozialen Medien veröffentlicht werden. 2018 erschien dort ein Sonderheft mit einem Überblick über die sozial- und kommunikationswissenschaftlichen Arbeiten zu YouTube. In dem einleitenden Artikel von Jane Arthurs, Sophia Drakopoulou und Alessandro Gandini werden vier zentrale Themen identifiziert: Ein großer Teil der Forschungsarbeiten in den Jahren seit dem Start der Plattform war dem Umstand gewidmet, dass sich mit YouTube nun Amateure mit geringen Mitteln an ein großes Publikum richten konnten. Damit eröffnen sich nicht nur neue Chancen zur Etablierung einer Gegenöffentlichkeit, sondern auch neue Foren des kulturellen Schaffens. Schon Burgess und Green lenkten 2008 (im Anschluss an Henry Jenkins grundlegende Arbeiten) die Aufmerksamkeit auf den Umstand, dass es sich bei dieser »Participatory Culture« keineswegs um eine Antithese zur professionellen Kulturproduktion der großen Konzerne handelt, sondern um die kreative Aneignung von und zuweilen auch kritische Auseinandersetzung mit den kommerziellen Produkten. Damit entstand, und das ist der zweite von Arthurs/Drakopoulou/Gandini identifizierte Themenstrang, ein hybrider kommerzieller Raum. Ein weiterer Aspekt, dem schon zahlreiche Forschungsarbeiten gewidmet waren, ist der spezifische Charakter des Ruhms, den die neuen YouTube-Celebrities genießen und der sich im Unterschied zu den Stars früherer Zeiten vor allem aus der strategisch zur Schau gestellten Privatheit und Intimität, ihrer (vermeintlichen) Authentizität speist. Schließlich gibt es seit dem Aufkommen der digitalen Plattformen unter dem Titel »Algorithmic Culture« einen Forschungsschwerpunkt, der sich mit den Folgen von automatischen Empfehlungssystemen beschäftigt. Auch diese spielen auf YouTube eine große Rolle, wenngleich ihre Funktionsweise aufgrund der Intransparenz noch wenig verstanden wird.
Eine der bis dato ehrgeizigsten Untersuchungen zu YouTube ist die 2019 veröffentlichte Monografie von Stuart Cunningham und David Craig. Auf der Grundlage von mehr als 150 Interviews mit verschiedensten Akteurïnnen im Umfeld der Plattform und umfassenden Recherchen zeichnen sie in sechs Kapiteln ein differenziertes Bild dieser neuen Kulturindustrie. Titel und Untertitel des Buches sind dabei Programm: Mit der Bezeichnung »Social Media Entertainment« verdeutlichen sie, dass es sich hierbei in erster Linie um eine Unterhaltungsindustrie handelt, und mit dem Untertitel »The New Intersection of Hollywood and Silicon Valley« ist der spezifische Charakter dieser Industrie benannt. In ihr sind nämlich Elemente der alten Kulturindustrie, von den Autoren »SoCal« genannt, auf eine neue, hybride Weise mit der Plattformökonomie des Silicon Valley (»NoCal«) verknüpft. Die Eigenschaften dieser neuen Industrie, die zwar von YouTube ausging, mit der Integration von Video-Funktionen in andere Soziale Medien nun aber auch Plattformen wie Facebook, Instagram und Twitter umfasst, werden Schritt für Schritt detailreich herausgearbeitet. Drei Aspekte sollen hier kurz erläutert werden.
Im Unterschied zu den Kreativen in der klassischen Kulturindustrie haben die neuen Social-Media-Creators nur selten eine professionelle Ausbildung, z.B. Schauspielunterricht, genossen. Die Mehrzahl der von den Autoren interviewten YouTuberïnnen begann ihre Karriere zu einem Zeitpunkt, als sie noch bei den Eltern wohnten und die Schule besuchten. Das Handwerk erlernten sie als Autodidaktïnnen durch Versuch und Irrtum und unter Verwendung zahlreicher Online-Tutorials, die sie in die Kunst des Videoschnitts ebenso einführten wie in die »Search Engine Optimization«. Von großer Bedeutung ist im Übrigen auch die Unterstützung durch Gleichgesinnte. Ein gemeinsames Video mit einer bereits etablierten Vloggerin kann einer jungen YouTuberin zum Durchbruch verhelfen. Diese Kollaborationen werden in der Community geschätzt und begründeten sogar ein eigenes Genre.
Hollywood-Stars und Social-Media-Celebrities unterscheiden sich auch deutlich in ihrem Rollenverständnis. Während erstere ihre Rolle als professionelle Darsteller deutlich von ihren Auftritten als Werbetestimonials einerseits und ihrem Privatleben andererseits abgrenzen, fließen bei den YouTuberïnnen diese drei Bereiche ineinander. Indem sie Einblicke in ihr Privatleben gewähren und eine intime Bindung zu ihren Fans und Followern aufbauen (oder zumindest diese Intimität suggerieren), werden sie zu glaubwürdigen Botschafterïnnen von Markenprodukten, die ein Bestandteil ihrer Medienidentität sind. Zwar geben auch die Filmstars und Promis der alten Kulturindustrie mehr oder weniger freiwillig Intimes preis, in den Sozialen Medien wird das Reden über sich selbst und der Dialog mit den Fans aber zum Fundament der Glaubwürdigkeit – der Glaubwürdigkeit als Kreativer wie auch als Werbebotschafter. In dieser Welt sind Authentizität und Kommerz keine Gegensätze mehr. Vielmehr setzen sie sich voraus und werden zu integralen Bestandteilen eines neuen kulturindustriellen Geschäftsmodells. Es beruht auf einer trilateralen Beziehung »among the ›authentic‹ creator, the fan community that validates all such claims to authenticity, and the brand that is seeking, to buy into, and leverage, that primary relationship« (S. 156).
Schließlich machen Cunningham und Craig auf den neuen Plattformen auch eine im Vergleich zur traditionellen Kulturindustrie deutlich höhere kulturelle Vielfalt aus. Während im klassischen Hollywood-Kino, in den Programmen der TV-Stationen und selbst in den Serien der neuen Streaming-Plattformen Frauen, ethnische Minderheiten und nicht-heteronormative Lebensformen nach wie vor unterrepräsentiert sind, scheint im Social-Media-Entertainment die Vielfalt deutlich größer zu sein. Davon zeugen nicht nur die äußerst erfolgreichen Channels der Asian Americans, sondern vor allem die deutliche Präsenz von LBGTQ-Creators wie Ingrid Nilsen, Joey Graceffa und Gigi Gorgeous, deren Social-Media-Auftritten die Autoren in ihrem Buch viel Platz einräumen.
Alles in allem zeichnen die beiden Kommunikationswissenschaftler ein differenziertes, aber doch ein wenig zu idyllisches Bild dieser neuen Kulturindustrie. Zwar räumen sie ein, dass das Unterhaltungsangebot in den Sozialen Medien durch die Macht der Plattformkonzerne und die Intransparenz ihrer Algorithmen manchmal in eine Schieflage gerät, die Creators und der Content, den sie produzieren, sind aber in ihren Augen vor allem Zeugnis der neuen Vielfalt und insofern auch über jede Kritik erhaben. Doch ist dieser Content nicht zu einem großen Teil auch von einer unglaublichen Banalität, sind die Pranks und Challenges nicht zuweilen recht infantil und zeigen die Unboxing- und Get-ready-with-me-Formate nicht auch bedenkliche Züge der Regression? Das Unbehagen, das uns beim Scrollen durch die Webfeeds der Plattformen allenthalben befällt, lässt sich nicht einfach als bürgerliche Idiosynkrasie abtun. Es sollte auch Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung mit den neuen kulturellen Produktionsweisen im Internet sein. Hier setzt die ganz anders geartete Publikation »Influencer. Die Ideologie der Werbekörper« von Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt an.
Von »Social Media Entertainment« unterscheidet sich dieses schmale Buch in mehrfacher Hinsicht: Während Cunningham und Craig bewusst von »Creators« sprechen, um das kreative Schaffen der YouTuberïnnen ins Zentrum zu rücken, betonen Nymoen und Schmitt mit dem gängigen Begriff »Influencer« deren Rolle als Werbeträger. Anders als die in der Tradition der Cultural Studies stehenden Kommunikationswissenschaftler nähern sich die beiden deutschen Essayisten, die übrigens selbst als YouTuber tätig sind, dem Gegenstand mit dem theoretischen und terminologischen Instrumentarium der Kritischen Theorie. Insofern grenzen sie diese neue Kulturindustrie der Sozialen Medien nicht von der älteren ab, sondern sehen darin vielmehr eine Fortsetzung, wenn nicht ihre Vollendung. In ihren Analysen beschränken sie sich, wie auch Cunningham und Craig, nicht nur auf YouTube, sondern spüren der Ideologie der Warenkörper auch auf anderen Plattformen, insbesondere Instagram und neuerdings TikTok nach. Dabei machen sie durchaus spannende Beobachtungen.
Insbesondere die Ausführungen über das eigentümliche Verhältnis der Influencer zu ihren Fans, das Cunningham und Craig zufolge die Unterhaltungsproduktion auf Sozialen Medien gegenüber früheren Formen auszeichnet, sind erhellend. Die vermeintlich intime Beziehung wird von den Autoren als vielfach camoufliertes Tauschverhältnis, dessen einziger Zweck die Reichweitenmaximierung ist, enttarnt (S. 119ff.). Dazu trägt nicht nur der Euphemismus des ›Sharens‹ (›ich teile den Link zu meinen Produkten‹) bei, der nichts anderes als eine Einladung zum Kauf der Produkte ist, dazu dient auch die Beschwörung der freien Wahl (›das muss aber jeder für sich selber entscheiden‹), die Käufersouveränität mit Demokratie verwechselt. So wichtig der kritische Blick auf die neue Kulturindustrie der Sozialen Medien ist, der Versuch einer kritischen Theorie der Influencer bleibt doch letztlich an der Oberfläche. Anstatt der Eigenlogik dieses neuen Produktionssystems nachzugehen, führen Nymoen und Schmitt die kulturellen Phänomene auf die Nachfragekrise des postfordistischen Kapitalismus zurück (S. 37). Als wären die Funktionen, die Influencer im Kapitalismus durchaus erfüllen, schon ein ausreichender Grund für ihre Existenz. Das ist eine unterkomplexe, vulgärmarxistische Erklärung, die wenig zu überzeugen vermag.
Literatur
Jane Arthurs/Sophia Drakopoulou/Alessandro Gandini: Researching YouTube. In: Convergence. The International Journal of Research into New Media Technologies 24/1, S. 3-15 [https://journals.sagepub.com/doi/10.1177/1354856517737222].
Jean Burgess/Joshua Green: YouTube. Online Video and Participatory Culture. Cambridge/Malden 2009 [2. Aufl. 2018].
Stuart Cunningham/David R. Craig: Social Media Entertainment. The New Intersection of Hollywood and Silicon Valley. Postmillennial Pop. New York 2019.
Henry Jenkins: Convergence Culture. Where Old and New Media Collide. New York/London 2006.
Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt: Influencer: Die Ideologie der Werbekörper. Berlin 2021.
Pelle Snickars/Patrick Vonderau (Hg.): The YouTube Reader. Stockholm 2009.