QR-Code: Ein Bild, eine Funktion
von Tilman Baumgärtel
11.1.2025

Digitalisierung auf der Oberfläche der Dinge

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 20, Frühling 2022, S. 116-121]

Vor kurzem habe ich mal mitgezählt. Bevor der Tag auch nur halb vorüber war, hatte ich zwei Dutzend QR-Codes abgescannt oder musste das Identifikationsmerkmal von meinem Handy ablesen lassen. Schwimmen im Stadtbad, ein Kaffee bei Kuchen-Kaiser, Eintritt ins 2-G-Museum, in letzter Minute gekaufte Nudeln im Keller von Karstadt.

Ohne QR-Codes funktioniert im Augenblick wenig. Die Nutzung der kleinen Schachbrettmuster ist zur Voraussetzung für die Teilnahme am öffentlichen Leben geworden. Dank des kurzen Abscannens geht es schneller und bequemer als das Mitsichführen, Herauskramen und Herzeigen von umständlicheren Papier-Nachweisen, aber es ist auch immer mit einem Speichervorgang in einer Datenbank irgendwo in der Cloud verbunden.

Der QR-Code sieht aus wie abstrakte Kunst von Victor Vasarely. Doch er ist ein Bild, das arbeitet. Er verbindet die physische Welt mit den digitalen Daten, die auf Servern im Internet Auskunft über uns geben. Er vereinfacht, wie wir etwas nachschlagen, wie wir Informationen über andere abrufen oder über uns vorlegen. Man muss nicht mehr umständlich Webadressen in den Browser eintippen oder Formulare auf Papier ausfüllen. Ein lässiger Schwenk mit einem Lesegerät oder einem anderen Smartphone über das Schachbrettmuster, und unser Gegenüber weiß, ob der Schnelltest negativ war oder wir für unsere Eintrittskarte bezahlt haben, und es geht weiter. Oder eben nicht. Beim Erfassen und Speichern unseres Verhaltens ist der QR-Code ein hilfsbereiter Komplize geworden.

Dass er gerade in der Pandemie wieder besonders oft zum Einsatz kommt, ist kein Zufall: Der QR-Code ist auch Emblem einer neuen Form des kontaktlosen Verkehrs, der aus epidemiologischen Gründen plötzlich angeraten schien, nachdem die Technik lange wenig genutzt wurde oder sogar schon als Auslaufmodell galt. Ein Quadrat aus Quadraten trägt nun zum reibungslosen Funktionieren von Corona-Kapitalismus und -Administration bei. Aber er ist auch ein Beispiel für das, was manche ›Digitalzwang‹ nennen und zu Recht kritisieren.  

Das ist eine erstaunliche Karriere für eine Technologie, die noch vor kurzem ein wenig aus der Mode zu kommen schien. In Deutschland hatte sich der QR-Code nie richtig durchsetzen können. Auf Plakatwänden oder den Schildern an Museumsexponaten tauchten sie vor Corona nur noch selten auf, obwohl sie eigentlich ein ideales Mittel sind, um physische Objekte mit virtuellen Informationen zu verbinden.

Vor 2019 nutzten nur 5 % der Europäer QR-Codes beim Einkaufen und 9 % der Deutschen hatten überhaupt schon einmal einen QR-Code abgescannt. Und das, obwohl fast jeder das dafür notwendige Gerät in der Hosentasche trägt. Bei einer Umfrage im September 2020 gaben dann plötzlich 72 % der Befragten an, im vergangenen Monat einen QR-Code genutzt zu haben. Dabei war die Technologie ursprünglich gar nicht für Endanwenderinnen gedacht. ›QR‹ steht für ›Quick Response‹ – der Begriff zeigt bereits an, woher die Technik ursprünglich stammt: aus der Welt der Effizienzsteigerung und der Beschleunigung von Logistik- und Handelsprozessen.

Der QR-Code wurde 1994 in Japan von einem Team der Firma Denso Wave aus der Unternehmensgruppe Toyota entwickelt. Chefentwickler Masahiro Hara sollte für die Firma einen maschinenlesbaren Code entwickeln, mit dem sich Autos und Autoteile während der Fertigung leicht verfolgen lassen. Das Verfahren, dank dem wir in Corona-Zeiten wieder Zutritt zur Gaststube erhalten, sollte also ursprünglich nur festhalten, wo in der Lieferkette sich gerade Lenkräder und Einspritzdüsen befinden. Zuvor hatte man das mit einem herkömmlichen Barcode geregelt, wie man ihn aus dem Supermarkt kennt. Doch für komplexe Logistik-Prozesse wie das Tracken von Kfz-Bauteilen war die Summe der Informationen, die ein Barcode speichern kann, nicht mehr ausreichend.

Der eindimensionale Bar- oder Strichcode ist der Stammvater des zweidimensionalen QR-Codes: Er entstand in den 1960er Jahren in den USA, setzte sich aber in Japan durch, als das Land in eine Phase großen Wirtschaftswachstums eintrat und Supermärkte entstanden, die eine breite Waren-Palette von Lebensmitteln bis zu Kleidung verkauften. Bezahlt wurden diese Waren an Registrierkassen, an denen jeder Preis per Hand eingegeben werden musste. Viele Kassiererïnnen litten deshalb unter Sehnenscheidenentzündungen oder Taubheitsgefühlen im Handgelenk. Dank des Barcodes konnten Scannerkassen entwickelt werden, bei denen man die Ware nur noch über einen optischen Sensor ziehen musste.

Mit der zunehmenden Verbreitung von Barcodes wurden jedoch auch deren Grenzen deutlich: Sie konnten nur 20 alphanumerische Zeichen speichern, also Abfolgen der Ziffern 0 bis 9 oder Buchstaben von A bis Z. Für komplizierte logistische Prozesse sollte Masahiro Hara nun einen optisch lesbaren Code entwickeln, der mehr Daten enthalten konnte – auch die im Japanischen genutzten Kanji-Schriftsymbole. Dass seine Erfindung wie der konstruktivistische Entwurf eines Bauhaus-motivierten Architekten aussieht, ist übrigens kein Zufall: Inspiriert wurde Hara bei einem Spaziergang, als ihm ein Hochhaus mit einer gleichförmigen Fassade aus lauter viereckigen Quadraten auffiel, erzählte er später.

Sein Code durfte keine Ähnlichkeit mit anderen auf Verpackungen üblichen Symbolen haben, um Verwechslungen beim Scannen zu verhindern. Hara begann darum, systematisch Bücher, Flugblätter, Zeitschriften, Kartons und andere Drucksachen zu untersuchen, um ein Schwarz-Weiß-Muster zu identifizieren, das so selten wie möglich auf Verpackungen erschien. Nach Monaten der computerunterstützten Bildanalyse war er sicher: Vierecke mit Quadraten in drei Ecken waren so selten, dass Verwechslungen ausgeschlossen waren. Außerdem entstand durch diese Struktur ein Code-Bild, das unabhängig vom Scan-Winkel gelesen und vom Computer verarbeitet werden konnte.

Anderthalb Jahre nach Beginn des Entwicklungsprojekts entstand so die erste Version des QR-Codes, die nicht nur etwas mehr als 7.000 Ziffern, sondern auch Kanji-Zeichen kodieren konnte. Und dieses Code-Bild war nicht nur imstande, eine große Menge an Informationen  zu speichern, sondern konnte auch zehnmal schneller gelesen werden als andere Codes. Die abstrakten Muster blieben auch dann maschinenlesbar, wenn sie beschädigt oder verschmutzt waren. Und sie erlaubten ›structured appending‹ (strukturiertes Anhängen): Sollen mehr Daten hinterlegt werden, als auf einen QR-Code passen, können die Informationen auf mehrere Codes aufgeteilt werden, die beim Scannen so zusammengefügt werden, dass der ursprüngliche Inhalt erhalten bleibt.

Zunächst wurden QR-Codes nur von Toyota in der Produktion eingesetzt. Doch nachdem das Verfahren im Jahr 2000 als ISO-Standard anerkannt wurde, begann es sich im technikaffinen Japan auch in anderen Bereichen zu verbreiten. Heute sind QR-Codes besonders in China allgegenwärtig, wo sie von Firmen wie Alibaba im großen Stil genutzt werden. Toyota ließ den QR-Code zwar patentieren, verzichtet aber darauf, dieses Patent zu Geld zu machen. Darum kann heute jeder im Internet eigene QR-Codes generieren und diese sogar in verschiedenen Formaten, Farben und Designs mit individuellen Logos und Symbolen gestalten. Aus einem Organisationsinstrument der Logistikbranche ist ein funktionales Designobjekt geworden.

In einem Interview erklärte Erfinder Masahiro Hara, dass er die heutige Nutzung von QR-Codes nicht vorhergesehen hat: »Damals hatte ich das Gefühl, etwas Großartiges entwickelt zu haben, und erwartete, dass es bald in der Industrie weit verbreitet sein würde. Aber heute wird es von jedermann verwendet, sogar als Zahlungsmethode. Das kam völlig unerwartet.«

Mit dem QR-Code ist die Digitalisierung auf der Oberfläche der Dinge angekommen. Man mag die kleinen Quadrate schön finden oder nicht – sie sorgen dafür, dass alles und jeder mit dem Internet und seinen Datenspeichern und Dienstleistungen verbunden werden kann. Ohne Kabel und ohne Tastatur, sondern nur mit Hilfe eines außerordentlich produktiven Bildes.

 

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