Rocko Schamonis Erinnerungen an das Aufwachsen in Westdeutschland
„Berlin, alte Hure mit Herz“. Berlin besuchen, das ist „wie das Betreten eines neuen Kontinents“. „Berlin, das war für uns ein Name mit Klang. Das war sowas wie das London Deutschlands.“ Die Zuschreibungen stammen von dem autodiegetischen Erzähler Roddy Dangerblood aus dem Roman „Dorfpunks“ von Rocko Schamoni (Schamoni 2006: 106). Der Erzähler erinnert in dem Text seine Punkwerdung, seine Jugend zur Zeit des Kalten Krieges. Anders als in manch anderer Erinnerungsliteratur, die zur Zeit des geteilten Deutschlands spielt, wächst der Protagonist nicht in der DDR, sondern in der BRD auf.
Die DDR als Erinnerungsraum ist Gegenstand zahlreicher literaturwissenschaftlicher Untersuchungen. Der Blick auf den anderen, den zweiten Teil des geteilten Deutschlands, den, den man (wird vom Politikbetrieb gesprochen) als Bonner Republik bezeichnet, ist bislang wenig erforscht worden. Wenngleich es inzwischen zahlreiche Erinnerungsliteratur gibt, die das Aufwachsen in Westdeutschland thematisiert und die nach der Wende geschrieben wurde. Der zweite Faktor ist relevant, weil nur so die – wie Elke Brüns es nennt – „nachträgliche[] Bedeutungszuweisung und rückwärtsgewandte[] Projektion“ im Subtext mitschwingt (Brüns 2006: 22).
Neben Rockos Schamonis „Dorfpunks“ habe ich in meiner Studie „Topographien der Adoleszenz: Die Bonner Republik als Erinnerungsraum in der Gegenwartsliteratur“ weitere Texte von Autoren untersucht, die in den 1960er-Jahren geboren sind und nach der Wiedervereinigung das Aufwachsen in der Bonner Republik literarisch verarbeitet haben. Gerhard Henschels Martin-Schlosser-Bände (2004ff.), Ralf Bönts „Icks“ (1999) und die Lehmann-Trilogie (2004, 2004, 2008) von Sven Regener komplettieren das Textkorpus. Die Frage nach den Darstellungsformen des Aufwachsens, der Erinnerung an Westdeutschland bilden das Erkenntnisinteresse der Untersuchung. Der folgende Aufsatz greift einen Aspekt, einen Roman der Gesamtstudie heraus und fokussiert auf die Darstellung der Punkbewegung, wie sie in Rocko Schamonis Roman „Dorfpunks“ dargestellt wird.
Roddy Dangerblood oder Rocko Schamoni: Wer erzählt hier eigentlich?
„Dorfpunks“ verhandelt das Aufwachsen in den 1980er-Jahren. Schauplatz ist die Bonner Republik. Der autodiegetische Erzähler wächst in dem fiktiven Dorf Schmalenstedt in Schleswig-Holstein auf. Er ist 1967 geboren. Die erzählte Zeit erstreckt sich von 1981 bis 1986.
Rocko Schamoni, so nennt sich der Autor. Unter diesem Namen und anderen Namen ist Tobias Albrecht als eine Szenegröße in Hamburg bekannt. So gibt er sich auch die Namen King Rocko Schamoni oder Bims Brohm, IBM Citystar, Mike Strecker, Silvio Strecker (vgl.: Derlin 2012: 27). Mit „Dorfpunks“ und Interviews kreiert Rocko Schamoni sein eigenes Künstler-Ich. Sein Schaffen umfasst Musik, Kunst, Literatur und Comedy. Biographische Hinweise zur bürgerlichen Herkunft Rocko Schamonis wurden erst mit Erscheinen des vermeintlich autobiographischen Romans in den Medien verbreitet. Daher ist zu vermuten, dass in die Vita von Tobias Albrecht fiktionale Elemente Rocko Schamonis eingeschrieben sind, sodass es keine klare Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion sowie zwischen bürgerlicher und künstlerischer Existenz mehr gibt. Wenn im Literaturlexikon die Autorschaft Schamonis als „Entwicklung […] vom schreibenden Entertainer zum ‚ernsthaften‘, autobiographisch arbeitenden Chronisten der Pop- u Gegenkultur“ (Frank 2011: 251) verstanden wird, schwingt in dieser Diagnose das Momentum des autobiographischen Pakts mit. Dass Schamoni indes ein bewusstes Spiel mit Fakten und Halbwahrheiten inszeniert, darüber informiert er selbst auf seiner Homepage: „Hintergrundinformationen über mich glaube ich auf dieser Plattform nicht präsentieren zu müssen. Davon fliegt genug im Netz herum, ergoogelbar, vieles falsch, manches wahr, genau die richtige Mischung.“
„Dorfpunks“ lässt sich als autofiktionaler Text der dritten Kategorie nach Frank Zipfel klassifizieren. Der Lesende bekommt beide Möglichkeiten angeboten – den romanesken oder autobiografischen Pakt. Jedoch lässt sich der Text weder in die eine noch in die andere Richtung auflösen (Vgl.: Zipfel 2009: 304). „Dorfpunks“ bietet dem Leser gleich zu Beginn den autobiographischen Pakt an: „Ich war Roddy Dangerblood. Bis ich 19 war. Dann wurde ich zu Rocko Schamoni“ (Schamoni 2006: 7). Beide Namen sind Pseudonyme, sein bürgerlicher Name sei ihm „fast entfallen“. Der „Roman“ – so steht es auf dem Buchdeckel unter dem Titel – zeichnet als Autoren nicht Tobias Albrecht aus, sondern Rocko Schamoni, sein Künstler-Ich. Schon die paratextuellen Hinweise lassen in Verbindung mit den ersten zwei Sätzen des Buches auf einen autofiktionalen Text schließen. Die Momente, in denen der Protagonist an seinen bürgerlichen Namen erinnert wird, beschränken sich auf solche, die ihn als Staatsbürger betreffen:
„Wenn der Staat mich in Form irgendeiner Behörde herbeizitiert […], muss ich mir diese abgestoßene Haut wieder überziehen. […] Ich bin dann jedes Mal um mein Erwachsensein beraubt, um einen Großteil meiner Geschichte, sitze auf dem Amt als alter Jugendlicher. Das sind Wurmlöcher durch die Zeit. Gegraben von nichts ahnenden Beamten. Aber ich verrate ihnen nichts davon, sie sollen keine Macht über mich haben (Schamoni 2006: 7)“.
Sein bürgerlicher Name ist für den Erzähler ein Rudiment seiner Vergangenheit, seiner Kindheit vor der Punkwerdung. Für den Ich-Erzähler ist die Mannwerdung mit der Punkwerdung respektive mit seinem Künstlerpseudonym untrennbar verbunden. Er sitze dann auf dem Amt als „alter Jugendlicher“, ein Oxymoron, dessen Attribute sich gegenseitig ausschließen, ein Individuum, das nicht existiert. Ein Jugendlicher kann nicht alt sein, ebenso wenig kann ein alter Mensch ein Jugendlicher sein, sondern lediglich das Attribut jugendlich erhalten.
Eine Metadiegese, die Nünning bei autofiktionalen Texten ausmacht, besteht bei „Dorfpunks“ indes nicht. Lediglich kurze reflektierende Einschübe des erinnernden Ichs verweisen auf eine Erzählinstanz, die in einem nicht näher bestimmten Außerhalb der Diegese zu verorten ist. Der Autor gibt sich als vermeintlicher Erzähler seiner eigenen Jugend zu erkennen, indem der Name des Autors auf dem Buchdeckel und mit dem des Protagonisten identisch ist („dann wurde ich Rocko Schamoni“). Der Autor spielt mit den autofiktionalen Elementen. Der Text spielt „das Abenteuer der Sprache“ (Doubrovsky 2008: 123).
Der vorgestellte Erinnerungsraum in „Dorfpunks“ basiert somit (auch) auf fiktiven Inhalten. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass dieser Erinnerungsraum weniger authentisch ist als ein Narrativ, das auf erlebten Gedächtnisinhalten aufbaut? Umgekehrt kann man fragen, ob Narrative, die in der historischen Bonner Republik angesiedelt sind, je ohne erlebte Gedächtnisinhalte erzeugt, gedacht und geschrieben werden könnten. Ist der in der Gegenwartsliteratur dargestellte Erinnerungsraum Bonner Republik nicht vielmehr immer ein Sammelsurium aus erlebten, vorgestellten, erinnerten und erzählten Inhalten?
Zunächst: Literatur, egal ob rein fiktiv oder autofiktional, prägt und offenbart das Raumwissen der ihr zugehörigen Kultur und ist deshalb als Beitrag zum kulturellen Gedächtnis zu verstehen. Der Literaturwissenschaftler Jurij Lotman entwickelte dazu passend den Neologismus der „Semiosphäre“, den er vom Begriff der Biosphäre abgeleitet hat. Den Begriff entwickelte der russische Geologe Wladimir Iwanowitsch Wernadski. Lotman inspirierte seine These zur Biosphäre, die besagt, dass Leben aus Leben entsteht und nicht aus inaktiver Materie [inert matter], wie Lotman in einem Brief aus dem Jahr 1982 erläuterte (Vgl.: Semenenko 2012: 112). Die Biosphäre ist Voraussetzung allen Lebens auf der Erde, ohne sie wären Organismen undenkbar. Sie schafft Leben und ist zugleich Leben. Äquivalent dazu führt Lotman den Begriff der Semiosphäre ein, die „zugleich Ergebnis und Voraussetzung der Entwicklung der Kultur“ ist (Lotman 2010: 165). Und an anderer Stelle:
„Man kann das semiotische Universum als Gesamtheit einzelner Texte und in Beziehung zueinander abgeschlossener Sprachen sehen. […] Fruchtbarer scheint jedoch das entgegengesetzte Vorgehen: Der gesamte semiotische Raum kann als ein einheitlicher Mechanismus (oder sogar Organismus) betrachtet werden“ (Lotman 1990: 289).
Lotman plädiert für ein universalistisches Verständnis des semiotischen Raums, welches Subsemiosphären und durchlässige Grenzen kennt, jedoch keine in sich abgeschlossenen Kulturräume. Seine Ausführungen und das Bild eines Organismus lassen mithin an rhizomatische Strukturen denken, die das gesamte Zeichensystem der Semiosphäre ausmachen. Ohne Semiosphäre kein Zeichensystem, keine Zeichennutzer, keine Kultur.
Die Grenzen einer Semiosphäre decken sich nach Lotman nicht mit geopolitischen oder ethnologischen Grenzen. Er denkt eine Semiosphäre als ein Kollektiv gemeinsamer Zeichennutzer. Das Semiosphärekonzept sei deshalb fruchtbar, so Cornelia Ruhe, weil es sich selbst nicht in den Dichotomien Macht und Ohnmacht, Kolonisator und Kolonisiertem verliere, „sondern allein auf die kulturelle Dynamik der analysierten Prozesse und ihrer historischen Wandelbarkeit abhebt“ (Ruhe 2015: 171). Semiosphären sind amorph und wandelbar. Sie sind durchzogen von Subsemiosphären, beispielsweise Jugendkulturen. Diese Subsemiosphären verortet Lotman an den Rändern, hier sind die eruptiven und die Semiosphäre verändernden und erhaltenden Impulse spürbar. Denn hier entstehen sie, hier sind die Grenzen zu anderen (Sub-)Semiosphären durchlässig. Lotman denkt die Semiosphäre räumlich, aber keineswegs statisch, wenn er schreibt:
„Die Brennpunkte der semiotisierenden […] Prozesse befinden sich aber an den Grenzen der Semiosphäre. Der Begriff der Grenze ist ambivalent: Einerseits trennt sie, andererseits verbindet sie. Eine Grenze grenzt immer an etwas und gehört folglich gleichzeitig zu beiden benachbarten Kulturen, zu beiden aneinandergrenzenden Semiosphären. Die Grenze ist immer zwei- oder mehrsprachig. Sie ist ein Übersetzungsmechanismus, der Texte aus einer fremden Semiotik in die Sprache „unserer eigenen“ Semiotik überträgt; sie ist der Ort, wo das ‚Äußere‘ zum ‚Inneren‘ wird, eine filternde Membran, die die fremden Texte so stark transformiert, dass sie sich in die interne Semiotik der Semiosphäre einfügen, ohne doch ihre Fremdartigkeit zu verlieren.“ (Lotman 2010: 182)
Als Semiotiker schließt er, wenn er von Mehrsprachigkeit spricht, nicht allein die Bedeutung von „langue“ und „parole“ mit ein, die er mit Code und Text gleichsetzt. Wenn von Übersetzungsprozessen an der Grenze der Semiosphäre die Rede ist, bezieht er auch Adaptionen von künstlerischen Texten in Filme oder Textinterpretationen, Übersetzungen verbaler Texte in ikonische, mithin aber auch Übersetzungen von einer Sprache in eine andere, mit ein (Vgl: Lotman 2010: 22ff.)
In Phasen hoher semiotischer Aktivität versucht sich das Zentrum der Semiosphäre zu schützen, indem es durch die Festlegung von Sitten und Gebräuchen sowie juristischen Normen eine „Grammatik“ schafft; Lotman nennt dies die „Phase der Selbstbeschreibung“ (ebenda: 170). Die gedankliche Nähe zu Foucault und seinen Ausschließungssystemen ist hier offenkundig. Wie Foucault charakterisiert auch Lotman Orte wie Friedhöfe oder Außenseiter, die außerhalb der Stadt leben mussten, als Randerscheinungen, die die Peripherie verkörpern. Verwaltungsgebäude und Sakralbauten hingegen, die als Orte der geltenden Machtstrukturen fungieren, stehen im Zentrum der Semiosphäre. Soziale Gruppen mit niedrigem Status siedeln an den Rändern, der Peripherie. Dringt etwas Neues in die Semiosphäre ein, wird es zunächst durch die Bewohner der Grenze adaptiert.
Eine Geschichte von Ufern: Provinz, London und Westberlin
In „Dorfpunks“ wird dieser kulturstiftende Mechanismus literarisch verarbeitet. Schon auf der ersten Seite wird das dann Folgende als eine „Geschichte von Ufern“ (Schamoni 2006: 7) deklariert. Es folgen weitere Begriffe aus der Beschreibungssprache des Meeres. Ein „Jugendtsunami“ sei die Punkbewegung, von England in Wellen kommend, Großstädte unter Wasser setzend, in der „Provinz“ „verebbt“ (ebenda). Die Subkultur des Punk wird als Welle beschrieben, die zu unterschiedlichen Zeiten an unterschiedlichen Orten ihren Höhepunkt erreicht. „1975 in England ausgebrochen, 1981 bei uns verebbt.“ (ebenda)
Der Schüleraustausch nach England verläuft entsprechend enttäuschend. Denn die Punkbewegung hat sich zur erzählten Zeit längst transformiert. Seine Annahme: „Ich fand England cool. Wie die sich dort benahmen, diese überall spürbare Härte bei gleichzeitiger Freundlichkeit! Wie waren in der Heimat von Punk und sehr stolz darauf“ (ebenda: 62). Das Erlebnis des 15-Jährigen und seiner Mitschüler indes ist desillusionierend. Als sie in einem Park „Punks mit besonders kurzen Haaren“ (ebenda: 63) begegnen, interpretieren sie das äußere Erscheinungsbild falsch und missverstehen die Codes der für sie unbekannten Subkultur. Dass es sich offenbar um eine den Punks gegenüber negativ bis aggressiv eingestellte Gruppierung handelt, die zwar einen ähnlichen modischen Stil hat, wird den Jugendlichen erst bewusst, als die „englische[n] Punks“ anfangen, sie zu bespucken und zu schlagen.
„Danach waren englische Punks für mich gestorben. Wie viel besser waren doch unsere SH-Punks [Schleswig-Holstein], wie frisch, gut und neu war Punk in Ost-Holstein. Dieses England hier konnte man vergessen, es hatte seine besten Momente offensichtlich hinter sich“ (ebenda: 64), beschreibt der Erzähler seine Reaktion auf das Erlebte. Die Schlüsse zeugen von der unbefangenen Annahme, alle Jugendlichen, die sich modisch wie Punks kleideten, müssten sich zwangsläufig solidarisch zueinander verhalten. Die Tatsache, dass sich zu der Zeit in England die Punkbewegung in weitere Subkulturen aufgespalten hatte, die unterschiedlichen politischen und musikalischen Richtungen angehörten, ist den Austauschschülern offenbar nicht bekannt. Die Beschreibung der „englische[n] Punks“ deutet darauf hin, dass es sich um rechtsradikale Skinheads handelt.
Das Kapitel, in dem der Schüleraustausch beschrieben wird, ist mit „Hölle im Land der Engel“ überschrieben. Der Titel nimmt die Erlebnisse vorweg. Außerdem wird hier die Bibelmetaphorik eingesetzt, die am Ende des Kapitels erneut aufgegriffen wird. „Nun war ich Pilger, und ich war in Jerusalem gewesen. Aber Jerusalem stand nicht mehr“ (ebenda, 64). Der Stellenwert des England-Besuchs für den Punk Roddy Dangerblood wird mit dem des Pilgerns nach Jerusalem für einen Gläubigen gleichgesetzt. Vor allem im Mittelalter war das Pilgern zu den zentralen Stätten des Christentums ein Höhepunkt im Leben eines Gläubigen. Die Ablösung des Punk durch eine neue Subkultur wird nicht als friedliches Ereignis beschrieben, sondern durch den Gebrauch einer Beschreibungssprache aus dem kriegerischen Bereich als kämpferische und konfliktreiche Entwicklung dargestellt. Das Substantiv „Hölle“ und die Feststellung „Jerusalem stand nicht mehr“ sind Ausdrücke, die die Bedeutung Englands aus der Perspektive des jugendlichen Protagonisten beschreiben.
Das Westdeutsche Mekka des Punk ist für die Protagonisten Westberlin. Dort wollen sie hin. „Berlin, das war für uns ein Name mit Klang. Das war so was wie das London Deutschlands“ (ebenda, 106). Diese Attribute, die der Erzähler der geteilten Stadt Berlin im Rückblick zuschreibt, stehen bildlich für die Wirkung, die der westliche Teil Berlins auf Jugendliche ausübt und der literarisch verarbeitet wird. Roddy Dangerblood und seine Clique wollen nach Berlin, da die Stadt für sie eine ähnliche Bedeutung hat wie London. Die Hauptstadt Großbritanniens gilt als die Wiege des Punks, der Subkultur, der sich der Ich-Erzähler und seine Freunde zugehörig fühlen. Berlin wird im Text als „alte Hure mit Herz“ (ebenda, 106) bezeichnet. Der Bezeichnung ist das Motiv der Eroberung inhärent. Die Stadt wird weiblich gegendert und als Objekt männlicher Begierde dargestellt.
Berlin wird als eine Stadt beschrieben, an die man sich nicht bindet, die man nur gelegentlich aufsucht, in der man sich amüsiert und die man wieder verlässt. Die Zuschreibung ist zugleich ein intertextueller Verweis auf „die biblische Mythe“ der Hure Babylon, die sich, wie sich etwa aus Ernst Jüngers Tagebucheinträgen lesen lässt, nur dem Sieger hingibt. Sigrid Weigel argumentiert mithilfe eines Tagebucheintrags von Ernst Jünger, der als Wehrmachtsoffizier von Russland ins besetzte Paris zurückkehrend von der Stadt als weiblich spricht, dass die Imagination von der Stadt als Verführerin eine bekannte Darstellung ist, die bei Jünger jedoch sehr explizit benannt werde (vgl. Weigel 1990: 149f). Der Autor werde als Sieger dargestellt, dem das Recht zugestanden werde, „in die Stadt einzudringen, sie zu besetzen und zu besitzen, sich in ihr und an ihr Genuß zu verschaffen. Die Stadt erscheint dabei im Bild als eine Frau, die hiermit nicht nur einverstanden ist, sondern es geradezu erwartet“ (ebenda: 150).
Das Bild der Eroberung wird gleich beim „ersten Berlin-Besuch“ bedient. Es sei „wie das Betreten eines neuen Kontinents“ (Schamoni 2006: 106) gewesen, schwärmt der Erzähler, der so zum Kolonisierenden wird. Die Stadt wird als ein Ort außerhalb des Bekannten, als etwas Fremdes wahrgenommen, jedoch ohne die Besucher zu verschrecken oder einzuschüchtern. Grund dafür ist, dass sie sich schon Wissen über die Stadt angeeignet haben und so bei der Ankunft in Berlin zielstrebig ausgesuchte Stadtteile ansteuern, um „Citypunks“ (ebenda: 107) zu treffen. „Wir versuchten, so schnell wie möglich nach Kreuzberg zu kommen, denn wir hatten aus zuverlässiger Quelle gehört, dass das der angesagte Platz für Punks sei“ (ebenda). Die Bezeichnung „Citypunks“ steht als oppositioneller Gegenpart der Selbstbezeichnung „Dorfpunks“ gegenüber und macht zugleich die Herkunft deutlich. „Citypunks“ sind aus der Perspektive des Protagonisten in der Hierarchie höhergestellt als „Dorfpunks“, leben sie doch im westdeutschen Zentrum der Punkbewegung. Hier erhoffen die „Dorfpunks“, Inspiration zu finden und Gleichgesinnte zu treffen. So gehört es zu den ersten Handlungen, die Haare mit „Crazy Colours“ (ebenda: 106) bunt zu färben und die Citypunks am Kottbusser Tor zu treffen.
An den gängigen Touristenattraktionen sind die Jugendlichen nicht interessiert. Abfällig benennt der autodiegetische Erzähler die Informationsquelle sachlich nüchtern und mit dem größtmöglichen Abstand als „Erwachsene aus dem Umfeld meiner Eltern“ (ebenda: 107). Der Protagonist teilt das Wissen, welches er über Berlin erzählt bekommt, implizit in zwei Kategorien ein: zum einen vertrauensvolle Tipps aus der Punkszene und zum anderen solche Tipps, die er von Erwachsenen erhält, die keiner Szene zugehörig sind und deshalb nur die Berlinklischees kennen. Der Ich-Erzähler und seine Freunde, Bea und Sonny, erleben ihren Berlinbesuch deshalb auch anders als der gewöhnliche Berlintourist. Das Kottbusser Tor, kurz Kotti, wollen die drei mit der S-Bahn erreichen. Bewusst lösen die Jugendlichen kein Fahrticket, denn: „Beim Schwarzfahren erwischt werden, das war ein bisschen wie Eintritt zahlen für Punk-Berlin“ (ebenda: 107). Der Erzähler weist auf die Ironie hin, die in dieser delinquenten Handlung steckt, indem er erklärt, dass die „oft wohl situierten Eltern“ der „Penner […] später die Rechnung beglichen“ (ebenda).
Der Begriff Penner ist ein Dysphemismus, den sich die Schwarzfahrer als Selbstbezeichnung geben. Die Bezeichnung verbunden mit den milden Konsequenzen, die das Fahren ohne Ticket nach sich zieht, entlarvt die Praktik als vortäuschende Verhaltensweise. Vordergründig möchten die Punks zwar als andersartig und fremd wahrgenommen werden, hintergründig nutzen sie aber die Annehmlichkeiten, die das Elternhaus ihnen bietet. Sie spielen in Berlin nur Obdachlose und Verwahrloste. Die nachahmende Verhaltensweise, die nicht mehr ist als Mimikry, wird als Teil des Punkseins beschrieben. Dem Erzähler ist die Ironie des Schwarzfahrens bewusst – zumindest in der Retrospektive –, dennoch wird dieser Akt als Initiationspraxis anerkannt. Auch das Schnorren, dem die drei Jugendlichen während ihres zweiwöchigen Berlinaufenthalts nachgehen, gehört zum Teil der Mimikry. Sie bitten Passanten um Geld und imitieren so das Verhalten der Obdachlosen, die auf Spenden angewiesen sind. „Nach zwei Wochen hatten Bea, Sonny und ich keine Lust mehr auf den irgendwie schon demütigenden Schnorreralltag, und wir beschlossen zurückzureisen, dorthin, wo jeden Tag Essen von selber auf dem Tisch steht“ (ebenda: 111).
Berlin besuchen die Freunde immer in wohlüberlegten Outfits. So beschließen der Protagonist und sein Freund Fliegevogel, die zusammen die Band „Die Amigos“ gegründet haben, im Dezember 1983 nach Berlin zu trampen. Insgesamt brauchen die Freunde zwei Tage, um Westberlin zu erreichen. Grund dafür, so stellt der Erzähler fest, sei die Wahl der Kleidung gewesen:
„Wir zogen unsere neu erstandenen Schlaghosen an, ein paar zerfetzte Pullover und unsere Sombreros. Wie räudige Banditen sahen wir aus. Ich trug ein Kinderpistolenholster, in das ich in Ermangelung einer Waffe eine Bierflasche steckte (ebenda: 186).“
Was den Weg zur Grenze nach Westberlin erschwert, macht den Gang über die Grenze umso leichter: „An der Grenze ließ man uns allerdings anstandslos durch, nur rein mit dem Dreck nach Westberlin, mögen sich die Grenzer gedacht haben“ (ebenda: 186). Die Außendarstellung der Punks erzeugt unterschiedliche Reaktionen bei den Mitmenschen. Da aber aus der Ich-Perspektive erzählt wird, handelt es sich nur um Vermutungen und Interpretationen der Mimik und Gestik des Umfelds.
Ziel der Inszenierung ist es, Abwehrreaktionen der Mitmenschen hervorzurufen. Abgrenzung und Darstellung des Andersseins sind die Intentionen der Jugendlichen, wenn sie sich karnevalesk maskieren. Sie montieren verschiedene folkloristische Modestile miteinander, um das gewollt Andere zu unterstreichen und das Statement ad absurdum zu führen, das einst durch Kleidung ausgedrückt werden konnte, ehe es zu einer leeren Modehülse verkommen ist. Der Sombrero, der traditionell zur mexikanischen Tracht gehört, und das Pistolenholster sind Stilelemente, die zur Verkleidung im Karneval eingesetzt und in der westeuropäischen Hemisphäre nicht in ihrer ursprünglichen Funktion verwendet werden. Die Subkultur der Punks adaptiert somit Codes anderer Semiosphären und macht sie zu ihren eigenen, deutet sie um. Dass Punks an der Grenze der Semiosphäre angesiedelt und dort maßgeblich an Übersetzungsprozessen beteiligt sind, macht die Umdeutung von modischen Accessoires deutlich. Als Teil einer Subsemiosphäre fallen sie mit ihrem Äußeren auf und werden so als Bewohner der Peripherie des semiotischen Raums identifizierbar.
In Berlin Kreuzberg treffen Fliegevogel und Roddy auf die Mitglieder der Punkband „Die Toten Hosen“. Das Erscheinungsbild der Jugendlichen wird von den Düsseldorfer Punks als Code verstanden und gewürdigt. Die Kleidermontage bestimmt somit über Abgrenzung und Einschließung. Es bildet sich so eine eigene Subkultur, die sich über Äußerlichkeiten, wie Kleidung, Frisur, Tätowierungen, Piercings, aber auch Verhalten und Musikgeschmack vom Mainstream abgrenzt.
Bei einem späteren Berlinbesuch erhalten Roddy Dangerblood und Fliegevogel die Chance, nach den „Toten Hosen“ auf deren Instrumenten ein Konzert in einem Berliner Hinterhof zu spielen. Diese Möglichkeit wird als Ehre gesehen und als Initiation zum Punkmusiker empfunden. Das spontane Konzert gerät zum Fiasko, da Fliegevogel aufgrund seines hohen Alkoholpegels nicht mehr in der Lage ist, Gitarre zu spielen. Der Erzähler zeigt sich rückblickend sehr enttäuscht über die vertane Chance: „Die Chance für uns Dorftypen, in der Großstadt für eine Nacht das coole Ding zu sein“ (ebenda: 188). Vor dem vermasselten Auftritt nutzt der Erzähler noch die Selbstbezeichnung „Dorfpunks“ (ebenda: 187). Durch das Negativerlebnis verunsichert und demotiviert gesteht der Erzähler dem Duo die Bezeichnung Punk nicht mehr zu. Auch die Kapitelüberschrift „Zwei Provinzler fallen über eine Großstadt her“ macht das empfundene Ausmaß der Schmach deutlich.
Der Erinnerungsraum Bonner Republik in der Gegenwartsliteratur
Die Wellenmetaphorik und die Erlebnisse des Protagonisten in England zeugen von einer Dynamisierung von Jugendkulturen. Die Wellenmetaphorik veranschaulicht die transkulturelle Dynamik zwischen einzelnen Semiosphären. Die ursprünglich aus England kommenden Wellen des Punk erreichen die Ränder anderer Semiosphären, in diesem Fall der BRD, über das Zentrum des Punk in Berlin.
Die Jugendlichen, die empfänglich für Neues sind, leben in der Regel noch im elterlichen Haus, das sich – so empfinden es die Protagonisten – in der Provinz und weitab der Metropolen befindet. Die topologische Dichotomie zwischen Schleswig-Holstein und Berlin bzw. London ist in diesem Fall semantisch codiert und wird im Text zur Topographie. Die Toponyme werden im Roman zu topographischen Dichotomien, die analog zur Funktion von Peripherie und Zentrum der Semiosphäre zu verstehen sind. In England ist der Punk schon in den Zentren angekommen, bevor er die Jugendkultur in der BRD erfasst und sich dort vom Rand her einen Weg in die Mitte der Semiosphäre bahnt.
Der Erzähler greift auf individuelle Erinnerungen zurück, die nicht durch Erinnerungsorte oder Topographien, welche die Zeit zwischen Jugend und Zeitpunkt des Erzählens überdauert hätten, ergänzt werden können. Die Topographien der Adoleszenz gehören der Vergangenheit an und existieren einzig im Gedächtnis. Die insulare Topographie Westberlins ist längst Geschichte. Ein Transitraum zwischen Bonner Republik und dem westdeutschen Mekka des Punk existiert nicht mehr.
Der Text operiert mit topographischen Gegebenheiten die (teilweise) historischen Fakten entsprechen. Dennoch handelt es sich bei dem literarisch inszenierten Erinnerungsraum Bonner Republik um kein mimetisches Abbild der historischen Bonner Republik. Vielmehr fungieren literarische Texte wie „Dorfpunks“ als Spiegel. Literarische Texte, die immer Produkt der Semiosphäre sind – ob nun entstanden in ihrer Peripherie oder ihrem Zentrum –, sind Reflexe auf die Dynamik der Semiosphäre und bedingen diese zugleich. Sie sind der Spiegel, welcher der Semiosphäre das Erkennen im imaginären Raum ermöglicht. Mit diesem autokommunikativen Mechanismus der Semiosphäre lässt sich der Begriff der Autofiktion verbinden. Als Verstehensfigur aufgefasst, spiegeln autofiktionale Texte in besonderem Maße die Semiosphäre wider, in welcher sie produziert und rezipiert werden.
Literarische Texte ermöglichen im Modus der Autokommunikation gelesen ein Verorten und Erkennen im Raum. Das beständige Senden und Empfangen der Semiosphäre, die Übersetzungen fremder Texte in die eigene Sprache und das Mitteilen bekannter Inhalte in neuem Gewand sind die konstituierenden Mechanismen des Kulturraums. Autokommunikation ist dabei der strukturelle Akt, der als Selbstvergewisserung, Stärkung und Transformation des Zentrums fungiert. Dass der Erinnerungsboom in popkultureller Hinsicht nach der „Wende“ allmählich einsetzt, nimmt nicht wunder. Zunächst beginnen ostdeutsche Autoren mit der literarischen Verarbeitung des Erinnerungsraums DDR. Dieser wird auch zuerst von der Forschung als solcher anerkannt und analysiert. Die „Ostalgie-“ Welle erreicht um die 2000er-Jahre herum ihren Höhepunkt. Der Erinnerungsraum der „BRD Noir“ (Vgl: Felsch/Witzel 2016) besinnt sich auf das abgründige und zutiefst verstörende der vergangenen BRD. Mit Narrativen gespeist wird dieser Erinnerungsraum heutzutage beinahe mehr denn je. Die ARD-Miniserie „Bonn“, die zur Zeit der Wirtschaftswunderjahre die Anfänge der konkurrierenden westdeutschen Geheimdienste anhand einer sich emanzipierenden jungen Frau erzählt, ist nur eines vieler Beispiele.
Die gesellschaftspolitischen Umwälzungen zwischen 1989/90, der Zusammenbruch der UdSSR, das Ende des Kalten Krieges stellen einen Bruch dar. Dieser Bruch ist mitnichten nur in der DDR spürbar und damit erinnerungswürdig.
Autokommunikative Texte wie „Dorfpunks“ offenbaren, verändern und bestätigen das Imaginäre ihrer Semiosphäre, das „kulturelle Wir“. Das Imaginäre soll hierbei als das dynamische Element, welches kodiert im Text als das Spiegelbild eines Teils der Semiosphäre gelesen werden kann, verstanden werden. Diese These verstärkt die kulturelle Bedeutung von Texten, sowohl die von Außen als auch die eigens produzierten. Texte sind das Mittel zur Dynamisierung von Kultur. Durch sie kommt es zu Selbstbeschreibungen und zu Veränderung.
Der ein oder andere Lesende wird bei der Lektüre von „Dorfpunks“ einen Moment der Nostalgie empfinden, eine freudiges (Wieder-)Erkennen. Dieses „Aha-Erlebnis“ (Mahler 2004: 59) ist als Erkennen im Spiegel, als Moment der Selbstidentifikation zu werten. Mahler bezieht sich damit auf Lacans Ausführungen zur Ausbildung eines Selbst im Moment des Erkennens im Spiegel, wenn er schreibt:
„Der Eintritt in die Semiosphäre macht also aus dem Spiegelbild ein Zeichen, dessen Bezeichnetes in einem sprunghaften Akt fröhlicher Erkenntnis, als ‚Aha-Erlebnis‘, nicht mehr bloß als reales oder fiktives Anderes wahrgenommen wird, sondern als Teil des Ich, als ein fiktives Selbst.“ (Mahler 2004: 60)
Die Lektüre regt zur Reflexion an, zum Nachdenken darüber, inwiefern die Vergangenheit – in diesem konkreten Fall das Aufwachsen zur Zeit des Kalten Krieges in Westdeutschland – Einfluss auf die Gegenwart nimmt. Selbst wenn die Rezipienten nicht zur Alterskohorte der Protagonisten zählen oder in einem anderen Land aufgewachsen sind, regt die Lektüre zu einem Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart an.
Literatur
Brüns, Elke (2006): Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung, München.
Derlin, Katharina (2012): „Es muss eine Ambivalenz und ein Bruch her“. Formen und Funktionen der Selbstinszenierung bei Rocko Schamoni, Marburg.
Doubrovsky, Serge (2008): Nah am Text, in: Kultur & Gespenster, Autofiktion, Nr. 7, Hamburg, S. 123–134.
Frank, Dirk (2011): Schamoni, Rocko, in: Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Killy Literaturlexikon, Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums. Band 10, 2., vollständig überarbeitete Auflage, Berlin / New York, S. 250–251.
Felsch, Philipp/Witzel, Frank (2016): BRD Noir, Berlin.
Lotman, Jurij M. (2010): Die Innenwelt des Denkens, eine semiotische Theorie der Kultur, Berlin.
Lotman, Jurij M. (1990): Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik, 4/12, S. 287–305.
Mahler, Andreas (2004): Semiosphäre und kognitive Matrix, in: Jörg Dünne, Hermann Doetsch und Roger Lüdeke (Hrsg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, Würzburg, S. 57–72.
Ruhe, Cornelia (2015): Semiosphäre und Sujet, in: Jörg Dünne und Andreas Mahler (Hrsg): Handbuch Literatur und Raum, Berlin / Boston, S. 170–177.
Schamoni, Rocko (2006): Dorfpunks [2004], Reinbek bei Hamburg.
Semenenko, Aleksei (2012): The Texture of Culture, An Introduction to Yuri Lotman’s Semiotic Theory, New York.
Weigel, Sigrid (1990): Topographien der Geschlechter, Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek bei Hamburg.
Zipfel, Frank (2009): Autofiktion, Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?, in: Fotis Jannidis, Gerhard Lauer und Simone Winko (Hrsg.): Grenzen der Literatur, Berlin, S. 285–314.