Lukas Bärfuss inszeniert Calderóns »Welttheater« als Kinderspektakel
Für Lukas Bärfuss rücken die Jungen und Jüngsten ins Zentrum des Einsiedler Open Air-Spektakels, das im Jahr 2024 Jubiläum feiert. Seit hundert Jahren führt man in der Zentralschweizer Klosterstadt das barocke ‹Welttheater› (El gran teatro del mundo) von Pedro Calderón de la Barca auf, bisher nach einer Übersetzung von Joseph von Eichendorff. Über 500 Personen wirkten an der beeindruckenden Inszenierung im Sommer 2024 mit, 38mal wurde das Welttheater aufgeführt. Im September war Dernière.
Calderóns Original selbst ist ein typisches Produkt der Gegenreformation: die Welt als Theaterbühne, auf der die Menschen vorgegebene soziale Rollen spielen – den Armen, den Reichen, den König, den Bauern und so weiter. Am Ende aber müssen doch alle nackt vor Gott treten, wie sie geboren wurden. Nichtig ist das irdische Leben, so das Fazit, nichtig und kurz. Gott und Gnade entscheiden über das Schicksal, nicht menschliches Bemühen oder politische Zäsuren. Lohn und Strafe werden erst im Jenseits erteilt. Das heißt einerseits natürlich: Selbst Königsein ist nicht viel wert, denn das Leben ist nur Fiktion, die Wirklichkeit wartet nach dem Tod. Andererseits suggeriert das Welttheater, auch der Bettler möge doch Ruhe geben mit seinen Klagen, sein Los könne er ohnehin nicht verändern. Das elendige Leben ist durchzustehen, nicht zu verbessern. Entsprechend ist auch der Handlungsverlauf des auto sacramental gestaltet: Es gibt keinen. Kein dramatischer Konflikt, kein «Knoten», keine Akte, keine Peripetie, auch keine Figurennamen oder Figurenpsychologie, sondern nur Auftritt nach Auftritt in kurzen Dialogen.
Der soziale Quietismus des barocken Mysterienspiels stellt für die Moderne eine Provokation dar. Wie umgehen mit einem Stück, das Fragen nach Gerechtigkeit mit dem Verweis aufs Jenseits beiseite wischt? Schließlich sieht es menschliches Elend als gottgegeben an und verwirft progressive Politik als Auflehnung gegen die Gnadenordnung. Für Lukas Bärfuss war das Welttheater «fremd», informiert uns das Programmheft zur Inszenierung in Einsiedeln: «Ich habe mich mit der Behauptung beworben, dass es im 21. Jahrhundert unmöglich sei, das Welttheater sinnhaft aufzuführen. Und es war genau diese Unmöglichkeit, die mich schliesslich interessierte.» Die Entfremdung ist nicht neu. Nachdem die Aufklärung den mittelalterlichen Brauch der Wallfahrtsspiele in Einsiedeln abgeschafft hatte, wurden sie erst 1924 wiederbelebt, gleichsam als antimoderne Antwort auf eine als krisenhaft und gottlos empfundene Zeit.
Bezeichnenderweise orientierte man sich dabei aber nicht an den ursprünglich aufgeführten mittelalterlichen Mysterienspielen, sondern wählte mit Calderóns Welttheater ein spanisch-barockes Stück von literarischem Anspruch – eine Art ‹erfundene Tradition› der Moderne also, die an Hugo von Hofmannsthals Salzburger Welttheater (1922, Regie: Max Reinhardt) oder an Hugo Distlers Lübecker Totentanz (1934) erinnert. Die Wiederentdeckung zog bald ihrerseits Kritik auf sich: In den Siebzigerjahren protestierte das Theaterkollektiv Alternative gegen die Vorstellung, dass soziale Rollen fixiert und unveränderlich seien, und kurz darauf wurden Forderungen laut, die Produktion ganz abzusetzen. Um 2000 wagte man einen experimentellen Neuanfang, nun unter merklich säkularen Vorzeichen. Die Figur des Schöpfers (im Spanischen «el autor») strich man kurzerhand, das Spiel sollte ein rein irdisches sein.
Gemeinsam mit dem Regisseur Livio Andreina wollte Bärfuss das Welttheater im Jubiläumsjahr «zurück zu Calderón» führen, wie es im Programmheft heißt. Sie individualisieren die Rollenrevue und deuten König, Bettler, Reichen und Bauern als allegorische Optionen jedes einzelnen Lebens. «Befreit von der göttlichen Ordnung», könne der Mensch sich seine Rolle beziehungsweise seine Maske selbst bestimmen. Illustriert wird das an der von Bärfuss ergänzten Protagonistin, dem jungen Mädchen Emanuela, die im Laufe ihrer Lebensstationen unterschiedliche Figuren ‹durchspielt›. Als Kind wird sie Bäuerin, als junge Frau Königin, im mittleren Alter ist sie zuerst arm wie eine Bettlerin, dann reich wie eine Kauffrau und im Alter schließlich strebt sie nach Erneuerung ihrer Schönheit.
Glück ist ihr dabei nicht vergönnt. Als Königin agiert sie machtgierig und ermordet sogar ihren Kindheitsfreund Pablo; als Bettlerin scheitert ihr Versuch, die im Elend verharrenden Mitmenschen zu befreien. Die angezettelte Revolution gipfelt in Chaos, Kirchenraub und Götzendienst. Als Reiche lässt sie sich verehren und häuft Luxusgüter an, findet aber keine Befriedigung. Am Ende erkennt sie die Vergänglichkeit der Schönheit und geht als Greisin von der Bühne. Das Spiel ist vorbei, die abschließende Szene im Himmel, in der bei Calderón alle Figuren (mit Ausnahme des Kaufmanns) Erlösung finden, entfällt. Trost im Jenseits, das gibt es nicht mehr, kann es nicht geben. Stattdessen geht der Reigen für jemand anderen von vorne los, für eine andere Emanuela oder einen anderen Pablo. «Ja, so geits i däm Wälttheater», singt das Spielvolk am Ende im Chor – das Publikum klatscht mit –, «Einisch gwinnt d Muus | Einisch dr Kater». Und am Ende, ganz im Geist des barocken Fatalismus: «Einisch bisch jung | Einisch bisch rich | Einisch e Star | Einisch e Liich».
Mit dieser kindlichen Spielfreude erübrigt sich jede Gesellschaftskritik. Das Einsiedler Theater frönt der Lust am Spektakel, an der verschwenderischen Intermedialität von Gesang und Sound, Theater und Tanz, mit Feuereffekten, Nebelmaschine, fliegenden Tauben und riesigen Mondballons, all das inmitten der Kulisse der gleichgültig in den Himmel ragenden Kirchenfassade. Eine zirkushafte Materialschlacht, inklusive Massenchoreographie und einer überdimensionierten Pappmaché-Gottesanbeterin, die vom Spielvolk mit Rechen und Spaten erschlagen wird. Das erinnert wirklich an die barocke Festspieltradition mit ihren verschwenderischen Feuerwerken und Wasserspielen. Die ganze Welt musste damals in ihrer Pracht, ihrer Farbenvielfalt, ihrer wunderbar wandelbaren und verführerischen Sinnlichkeit auf die Bühne gehäuft werden, um dann doch mit großer Verzichtgeste entlarvt zu werden – sie ist ja nur Schein, nur vergängliche Materie, nur zum Tode verurteilte Oberfläche.
Dieser Verweischarakter des verschwenderischen Festes fehlt bei Bärfuss. Der ästhetische Rausch wird auf Erden belassen. Aber ein Hauch von Negation hat sich erhalten, nicht nur in der Gleichgültigkeit, mit der am Ende das Fazit vorgetragen wird. «Einisch gwinnt d Muus | Einisch dr Kater», wenn das Welttheater derart kontingent, ja absurd erscheint, droht das barocke Spektakel zynisch zu werden. Vanitas ohne Gott, das heißt am Ende eben immer noch: Gib Dich damit ab, dass die Welt eben so ist, wie sie ist, das Leben ist ohnehin schnell vorbei. Ob Milliardär oder obdachlos, ob Diktatur oder Demokratie, mal so, mal so, was macht es schon für einen Unterschied. Emanuela mag ihre Rollen zwar durchlaufen, aber sie emanzipiert sich von keiner. Wie vor vierhundert Jahren Calderón erteilt auch das Welttheater 2024 der Möglichkeit der Selbstverbesserung, ja der Möglichkeit des Fortschritts eine Absage. Selbstbestimmte Akteurin des eigenen Lebens kann Emanuela trotz oder vielleicht gerade aufgrund der vielen vorgefertigten Rollen nicht werden.
Das barocke Welttheater führt damit auf der einen Seite vor Augen, wie schwierig es ist, soziale Rollen hinter sich zu lassen. Wirkliche Entscheidungsfreiheit, wahre Authentizität, das erleben wir oft, gibt es nicht. Zunächst nur im Spiel anprobierte Kostüme und vorgehaltene Masken verweisen die Protagonistin in überwunden geglaubte gesellschaftliche Positionen. Wir sind immer wieder gebunden durch Zwänge, Umstände, geleitet von Skripten, die wir eigentlich nicht befolgen wollen, um es dann doch zu tun.
Insofern ist Calderóns Rollenrevue, so sehr wir es anders wünschen, nicht veraltet. Emanzipation erscheint so als große, immerzu und immer wieder zu leistende Herausforderung einer jeden Generation. Immer wieder werden neue Spielende kommen, ihre Rollen suchen, finden, an ihnen scheitern und neue einnehmen. Auf der anderen Seite irritiert der beschwingte Schlusschor, der gegen Ende ertönt: Ja, so geht’s eben in dem Welttheater? Wenn kein Jenseits die Zumutungen des «Jammertals», wie die Welt im 17. Jahrhundert gern genannt wurde, kompensieren kann, dann feiert der Schlusschor nur die Unzulänglichkeit.
Was zunächst charmant klingt, die Akzeptanz des Absurden, lässt daher einen Beigeschmack zurück. Die gesellschaftliche Opposition von Bauern und Königen wie zu Zeiten Calderons gibt es nicht mehr. Aber auch heute noch gibt es Diktatoren, die Kriege führen, auch heute gibt es Demagogen, die Menschen irreleiten. Gleichzeitig lehnen sich Menschen doch gegen die Verhältnisse auf, durchbrechen Rollenmuster und nehmen den Ist-Zustand nicht einfach hin. Der Kampf um Menschenrechte, Frauenrechte, Kinderrechte hat die Welt sehr wohl verändert. Vielleicht lohnt sich daher neben allem Spielrausch doch auch eine moralische Kritik dieses Welttheaters, dieser theaterhaften Welt. Ist sie die einzige, die wir haben, sollten wir sie verändern.