Zu einer Ästhetik der Widersprüchlichkeit: »Das Wetter«, »Tegel Media« und Leif Randts »Allegro Pastell«
[erschienen in: Hanna Hamel/Eva Stubenrauch (Hg.): Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2023, S. 223-236]
Das Zitat im Titel deutet die im Folgenden zu entfaltende These bereits an: »Glotzt nicht so romantisch« verweist einerseits auf den Ursprungstext – Bertolt Brechts Glosse für die Bühne –,[1] ruft aber andererseits und möglicherweise zugleich oder gar zuerst einen ironisch gebrochenen popkulturellen Kontext auf. Der Satz findet sich auch auf einem T-Shirt der Zeitschrift Das Wetter – Magazin für Text und Musik. Diese prominente Inszenierung des Zitats auf dem T-Shirt und im Instagram-Account der Zeitschrift stellt den Ausgangspunkt meiner Überlegungen dar; es geht mir im Folgenden um das weitere Netzwerk von Leif Randt, zu dem neben der von ihm betriebenen Onlineplattform Tegel Media auch die Zeitschrift Das Wetter zu zählen ist. Die in Randts Texten zu beobachtende Austarierung divergenter Zustände und Lesarten lässt sich hier bei der Diskussion der möglichen Lesarten bereits in nuce analysieren: So ließe sich etwa fragen, ob das Zitat auf die (ästhetischen und politischen) Verfahren der Avantgarde oder doch ›nur‹ auf die (ironischen) Samplingverfahren des Pop verweist. Oder werden doch beide zugleich (re-)aktiviert?[2]
Mit der Fokussierung der Avantgarde-Lesart wird der entsprechende literarhistorische Kontext aufgerufen: Die zitierte Textstelle aus der Glosse für die Bühne war Brechts Stück Trommeln in der Nacht vorangestellt, das 1919 und damit 10 Jahre vor den eigentlichen Lehrstücken publiziert wurde. Der zitierte dramaturgische, poetologische und politische Impuls, der in der Glosse gesetzt wird, scheint aber bereits auf bekannte Verfahren der Lehrstücke vorauszuweisen. So soll das ›romantische Glotzen‹ in die politische Reflexion und Transformation wie in die politische Tat überführt werden.[3] Die Verfahren lassen sich somit der Avantgarde zuordnen, es geht hierbei aber weniger um die ästhetische Innovationen generierende »Logik der permanenten Revolution«[4] – so Pierre Bourdieu in Die Regeln der Kunst – als um den von Gerhard Plumpe beobachteten »intrasystemischen Traditionsbruch«,[5] der politische Praxis evozieren will:
»›Avantgarde‹ wollen wir also eine Literaturprogrammatik nennen, die die Ausdifferenzierung der Literatur zu einem eigenständigen Kommunikationssystem frontal angreift und auf eine entdifferenzierende, Literatur in politische Funktionszusammenhänge einrückende Strategie setzt.«[6]
Ziel ist also nicht eine »Kunst-Revolution«, sondern eine »Revolutions-Kunst«.[7] Es geht der Avantgarde nicht, wie etwa der Romantik, um eine ästhetische Transformation der Gesellschaft durch die Kunst, die immer noch emphatisch als innovatives und originäres Werk eines ›Originalgenies‹ gedacht wird. Vielmehr steht die Transformation der Gesellschaft durch die Transformation der Kunst im Fokus, die nun nicht auf das Ästhetische, sondern auf das Politische zielt. Somit steht auch weniger die Produktion von Werken als die Produktion einer »revolutionären Kultur« im Fokus, so Ingo Stöckmann.[8] Gleichwohl lässt sich diese avantgardistische Revolution nicht auf ein operatives, ein rein politisches Projekt reduzieren, das ästhetische Fragen abblendet. Ein Blick in die Lehrstücke zeigt, dass die Texte innovative Verfahren sowohl auf der Ebene der politischen Aktion als auch auf der Ebene der ästhetischen Form anbieten.
I. Das T-Shirt und die Avantgarde
Die angedeutete Verortung des Zitats »Glotzt nicht so romantisch« in der Tradition der Avantgarde generiert folglich eine spezifische Lesart, die von dem Text und vor allem von seinem Prätext und dem entsprechenden historischen Kontext ausgeht. Als Aufdruck auf einem T-Shirt hingegen ruft es eine andere Lesart auf, die sich aus dem popkulturellen Kontext ergibt:
Das T-Shirt war im Webshop der Zeitschrift Das Wetter – Magazin für Text und Musik für 22 Euro zu erwerben.[9] Auf dem T-Shirt findet sich das typografisch eigenwillig gestaltete Zitat in einer Sprechblase, die auf den Verfasser Brecht hinweist. Präsenter noch als der Verfassername erscheint auf dem Shirt der Name des Magazins.
Das T-Shirt ruft damit nicht die eben skizzierten Überlegungen zur Avantgarde auf und setzt sie auch nicht voraus – zumindest nicht auf den ersten Blick: Erstmal ist das nur ein Kleidungsstück, das mit einem provokanten, lustigen oder originellen Spruch aufwartet und so Aufmerksamkeit generieren und die Träger:innen zumindest für die eingeweihte Ingroup mit einem spezifischen Habitus versehen soll, den man mit ›ironisch gebrochene intellektuelle Kennerschaft‹ fassen könnte. Die intertextuellen Verweisstrukturen folgen bei dieser Lesart somit pop-affinen und/oder ironisch grundierten Verfahren.
Die Frage wäre, ob sich das intertextuelle Verfahren hierin tatsächlich erschöpft oder ob die skizzierten intrasystemischen Brüche der klassischen Avantgarde nicht ebenfalls mitgedacht werden – immerhin weist das T-Shirt die Träger:innen als Kenner:innen einer Literatur- und Kulturzeitschrift aus. Der in Brechts Text angelegte Systemwechsel von der Literatur ins Politische wird hier aufgenommen: Das mittlerweile wohl eher wieder im System Kunst verortete Zitat vollzieht einen erneuten Wechsel und findet sich auf dem T-Shirt. Ob dieses einfach als Mode und popkulturelles Spiel mit dem Archiv oder als politische wie poetische Aktion verstanden wird, bleibt erst einmal offen. Auch die Frage nach der Form und Funktion der Avantgarde in postavantgardistischer Zeit ruft das T-Shirt auf: Zeigt es die Erschöpfung oder Abnutzung der avantgardistischen (politischen) Tat auf, die leerläuft und so spektakulär in das kapitalistische System eingespeist werden kann? Oder zeigt es vielmehr eine Transformation der Avantgarde, die sich weiter zu behaupten vermag, indem sie ihren Impetus verändert?
Es geht, so eine erste These, um Strukturen der Widersprüchlichkeit, die sowohl auf der Form- als auch auf der Inhaltsebene erzeugt werden. Diese Strukturen stehen wie die intertextuellen Verweise in Beziehung zur Ironie und schließen die bereits angeklungene Frage nach der Form und Funktionsweise der Ironie an, die im Folgenden an den Texten Leif Randts erörtert werden soll.
Im T-Shirt bzw. im Zitat auf dem T-Shirt findet sich nicht nur der Ausgangspunkt der beiden Lesarten, also der Startpunkt von zwei Linien, die zum einen historisch auf die Verfahren der klassischen Avantgarde zurückweisen und zum anderen popkulturelle Verweise schalten. Zudem werden weitere Aspekte deutlich: Das Magazin Das Wetter lässt sich als Knotenpunkt eines Netzes gegenwärtiger literarisch-künstlerischer Produktion verstehen. Dieses Netz ist komplex zu denken und besteht zum einen aus diversen Akteur:innen und zum anderen aus verschiedenen medialen Artefakten. In Das Wetter treffen also unter anderem Texte von Leif Randt auf pointierte Instagram-Posts und auf T-Shirts, die wiederum Manifeste wie Ultraromantik von Leonhard Hieronymi kommentieren und in Bezug zu Leif Randts Arbeiten und Kooperationen auf Tegel Media stehen. Der Umgang mit diesen Materialien lässt sich als typischer ästhetischer Modus des (Post-)Postdigitalen verstehen: Sowohl Das Wetter als auch Tegel Media montieren Materialien aus digitalen und analogen Bereichen, mixen Texte, Musik und Videos, etablieren dabei aber keine differenzierende Markierung, Wertung oder Hierarchie.
II. Das »Anti-Internet-Internet-Projekt«
Tegel Media, das »Anti-Internet-Internet-Projekt«[10] – so Leif Randt –, stellt wiederum selbst einen Knotenpunkt von divergenten Formen und Autor:innen dar. Die bei dem Berliner Pop-Kultur-Festival 2019 präsentierten »Tegel Media Sommerhits« bestehen dann auch aus »Lovestories, Videoclips, Cartoons und Collagen, Traumtagbücher[n], Testberichte[n] und Gedichte[n]«.[11] Randt definiert den Content – der ironisch-trashigen Markierung gemäß – als »Jokes« oder »Meta-Jokes«, spricht aber zugleich von einem Erzählen, das an einer »sehr starken Wahrheit« orientiert ist.[12] Das erscheint erstmal widersprüchlich, bestätigt aber einmal mehr die Ausgangsthese. Tegel Media zeichnet sich durch eine spezifische Ästhetik aus, die Pop ist, aber auch auf eine frühe Internetästhetik verweist. Es geht laut den Betreibern um »positive Vibes«, das Kriterium für die Content-Auswahl ist der nicht näher definierte »Tegel-Dreh«.[13]
Tegel Media präsentiert digitale Texte, Bilder und Musikvideos, reflektiert und unterläuft aber zugleich die digitale Form und das digitale Schreiben, indem die Möglichkeiten der digitalen Ausweitung entweder durch eine quasianaloge oder durch eine reduzierte digitale Gestaltung, die an eine längst überholte Internetästhetik erinnert, also auf der Ebene der Form, konterkariert werden. Im Gegensatz zur Frühzeit des Internets erfolgt die Reduktion der digitalen Optionen hier nicht aufgrund technischer Notwendigkeit, sondern aufgrund einer bewussten ästhetischen Gestaltung. Die Erzählung Peak Time 2000 von Enver Hadzijaj realisiert dies sowohl in der Gestaltung des Titels – die Form korrespondiert mit dem Titel, der das Jahr 2000 aufzurufen scheint – als auch in der Gestaltung der Seiten, die, abgesehen von dem farblich abgesetzten Namen der Figur, sehr reduziert ausfällt.[14]
Mit dem expliziten Verweis auf den mittlerweile eingestellten Quelle-Katalog wird das (Pop-)Archiv geöffnet, das in der Erzählung mit Markennamen versehen wird:
»Alles verdichtet sich in folgendem Bild: Erkan in voller Montur – rote Chevignon-Jacke, classic Levi’s 501, babyblaue Buffalos – […] steht dabei vor einem Indoor-Wandgemälde, dem Ergebnis einer Projektwoche, das einen riesigen Gaddafi-Kopf zeigt, darunter den Schriftzug ›Front 242 Mix‹, ein Hit in der Electronic Body Music Szene.«[15]
Die Erzählung lässt sich auf der Tegel Media-Seite folgerichtig auch nur als PDF herunterladen, auf bewegte Bilder oder Töne wird verzichtet. Im Flattersatz, der für ein Onlineformat, nicht aber für ein PDF-Format die adäquate Form darstellt, und mit Silbentrennung, die für ein PDF, aber nicht für ein Onlineformat geeignet ist, manifestiert sich das Spiel mit der Form und den Formaten.
Randts Definition des Projekts Tegel Media als »Anti-Internet-Internet-Projekt« ließe sich nicht nur als Schlüssel zu der Gestaltung der Erzählung Peak Time 2000 begreifen,[16] sondern generalisieren: Einer möglichen Internet-Euphorie wird mittels der komplex reflektierten und ästhetisch wie performativ vorgeführten technischen Möglichkeiten des Mediums eine Reflexion ebendieses Mediums entgegengestellt.
III. Wehmut und Widersprüchlichkeit
Ebenso ließe sich der Blick zurück auf das Jahr 2000, der in Peak Time 2000 auf der Inhalts- und Formebene realisiert wird, als ästhetisches Grundmoment fassen. Der Moment der Wehmut, der in Allegro Pastell von Tanja Arnheim als »[v]orauseilende Wehmut« als »bester Zustand« definiert wird, klingt hier bereits an.[17] In Allegro Pastell ist wiederum nicht nur die semantische, sondern auch die mediale Ebene von Bedeutung. Tanja Arnheims Diktum, das dem Buch als Motto vorangestellt ist, wird von drei Emojis ergänzt, die komplexe Bedeutungsstrukturen anlegen:
Die Form der als Einschub zwischen Gedankenstriche gesetzten Emojis Faust, Gespenst und Handballerin ist zeitlich und technisch bedingt und decodierbar. Im Sinne einer Medienarchäologie wären sie nicht nur auf ihre Entstehungszeit und auf ihre Darstellung im entsprechenden Betriebssystem, sondern auch auf ihre Bedeutung zu befragen. Die Emojis – und dies gilt erst recht für ihre vermutlich syntagmatische Reihung – bewirken allerdings nicht, dass die Bedeutung der Textstelle klarer wird, indem bestimmte Lesarten delegitimiert und andere priorisiert werden. Vielmehr öffnen sich assoziative Deutungsräume: Verweist die Faust etwa auf Goethes Faust? Und ruft das Gespenst die von Mark Fisher in Gespenster meines Lebens[18] in Anlehnung an Jacques Derrida formulierte hantologie, die mit ästhetischen Wiederholungsstrukturen das Gefühl des ›schon Bekannten‹ zu erklären versucht, auf?[19]
Das in Allegro Pastell formulierte Moment der »[v]orauseilende[n] Wehmut« weist eine komplexe zeitliche Struktur auf, die in einem Moment der Gegenwart bereits den Blick auf die Zukunft und den dort vollzogenen Blick zurück in die Vergangenheit, die eigentlich gerade Gegenwart ist, richtet. Das zugleich prospektive wie retrospektive Moment der Wehmut setzt eine emphatische Feier der Gegenwart aus und überführt die Strukturen der ereignishaften Unmittelbarkeit der Gegenwartsemphase in einen Zustand der mittelbaren »Hyperreflexion«,[20] in dem die eigene Gegenwart – und das Erleben ebendieser – in Reflexionsschleifen beobachtet wird. Und diese Beobachtung wird natürlich auch wieder beobachtet – und unterlaufen.
Allegro Pastell stellt die mittelbare Selbstbeobachtung und deren Aufhebung direkt zu Beginn deutlich heraus: »Jerome hatte sich nur selten zuvor dafür entschieden, an der Hand eines Girlfriends durch Menschenansammlungen zu gehen. An der Seite von Tanja hinterfragte er dieses Bild nicht einmal mehr.«[21] Die Unmittelbarkeit der Szene, die eben nicht reflektiert, in der expliziten Thematisierung der Unmittelbarkeit jedoch zugleich konterkariert wird, findet sich wenig später wieder in die reflektierte Mittelbarkeit überführt:
»In der gut besuchten U-Bahn saßen sie nebeneinander und küssten sich mit geschlossenen Augen. Jerome kokettierte mit der Rolle des überglücklichen heterosexuellen Partners. […] Jerome mochte den Gedanken, dass er sich selbst gegebenenfalls unerträglich finden würde, könnte er sich von außen sehen.«[22]
Die Reflexion setzt das empathische Erleben der Gegenwart aus: »Jerome war bislang nie ein Fan purer Gegenwart gewesen.«[23] Gegenwart wird in Allegro Pastell allerdings auch ungewöhnlich konnotiert. Sie lässt sich offensichtlich nicht mehr originell und ›authentisch‹ empfinden und erzählen: Jeromes »innere Persönlichkeit«[24] fasst Gegenwart mit Klischees und Phrasen – »Es ist der Sommer deines Lebens. […] Mach, was du musst.«[25] – oder mit merkwürdigen Bildern der Gegenwartsemphase: »Draußen gehen offenbar gerade Menschen mit Hunden vorbei. Menschen, die den warmen Kot ihrer Hunde mit dunklen Plastiktüten umfassen. Sie tun das jeden Tag. Sie tun es jetzt.«[26] Auf diesen Satz folgt unmittelbar Jeromes Absage an die ›pure Gegenwart‹.
Wenig später erlebt er aber genau diese ›pure Gegenwart‹ mit seiner Affäre Marlene: »Jerome sagte sich, dass sie in der totalen Gegenwart angekommen waren. Es gab jetzt nur noch den 2. Oktober 2018.«[27] Direkt im folgenden Satz wird die Einheit von Zeit und Ort und damit die »totale[] Gegenwart« jedoch wieder aufgelöst: »Und doch gab es gleichzeitig auch Tanja, irgendwo im deutschsprachigen Raum, wahrscheinlich in ihrer Zweizimmerwohnung mit Blick auf die Hasenheide.«[28]
Das bereits angedeutete Moment der Wehmut ist für Allegro Pastell entscheidend und wird im Text immer wieder aufgenommen und weiter entfaltet: Es geht nicht um eine glorifizierte Vergangenheit, die gegebenenfalls sogar wiederhergestellt werden soll, um die Missstände der Gegenwart zu heilen, sondern um eine Vergangenheit, die als vergangener, aber nicht als idealer Zustand gefasst und archiviert wird.[29] Wehmut unterscheide sich von Nostalgie nicht nur durch die Bewertung bzw. Aufladung der Vergangenheit, sondern auch durch ihre politischen Konnotationen, so zumindest Randt auf einer Lesung, die kurz nach der Publikation von Allegro Pastell stattfand. Wehmut speise sich aus einer Schwäche und installiere keine starke Position, von der aus der Blick auf die Vergangenheit geformt wird. Wehmut wäre folglich politisch links zu verorten. Randts Formulierung nimmt die in Allegro Pastell von der Hauptfigur Jerome Daimler vertretende Position nahezu wortwörtlich auf, allerdings markiert die Figur im Gegensatz zum Autor die Aussage als latent fragwürdig: »Jerome äußerte diesen Gedanken aber nie, da er ihm nicht gänzlich valide vorkam.«[30]
Auf der Textebene wird die Differenzierung von Nostalgie und Wehmut ebenfalls in Frage gestellt oder gar performativ aufgehoben. So spricht Jerome Daimler etwa von (vermeintlich rechter) Nostalgie und nicht von (linker) Wehmut, wenn er über seine Ecstasy-Phase zwischen 2009 und 2012 nachdenkt: »[F]ür Jerome war Ecstasy etwas Nostalgisches.«[31] Er habe diese Zeit »hinter sich gelassen«, werde sie »aber auf ewig erinnern«.[32] Der Text setzt somit die von Tanja Arnheim propagierte Programmatik ästhetisch wie poetologisch um: »Faktisch lebe ich Dinge aus, die ich ideell ablehne. […] Man muss in der Lage bleiben, derartige Widersprüche zu genießen.«[33]
Es geht hier also nicht um Ambiguitätstoleranz, sondern vielmehr darum, eine Haltung zu entwickeln, mit der sich aus dem passiven Erleben oder dem aktiven Erzeugen der Widersprüche ein – auch ästhetischer – Lustgewinn generieren lässt. Und dieser Lustgewinn sorgt wiederum für (eine doppelte) Textproduktion: Tanja Arnheim ist in Allegro Pastell als Autorin tätig und speist das Erleben/Erzeugen der Widersprüche in ihre Texte ein; Randt diskutiert diese Haltung in seinen Texten.
IV. Von der romantischen Ironie zur Postironie
Die skizzierte Haltung wird in einer euphorischen Rezension von Ijoma Mangold generalisiert und als potenzieller Ausgangspunkt einer Jugendbewegung gelesen. Mangold resümiert seine Rezension mit der Feststellung: »Von diesem Buch könnte eine neue Jugendbewegung ausgehen.«[34] Bei einer Lesung fragt Randt zu Recht, was das denn für eine Jugendbewegung sein soll, von 36-Jährigen, die auf dem Dorf leben.[35] Das Potenzial für eine Jugendbewegung sieht Mangold in der Verschiebung von unmittelbarer Gegenwartsemphase zu einer mittelbaren Gegenwartsreflexion und -beobachtung – ob sich allerdings die Momente der Reflexion und Beobachtung für eine direkte Bewegung fruchtbar machen lassen, ist fraglich. Mangold analysiert diese Momente auf der Textebene, um sie dann in eine textextern wirksam werdende Haltung zu transferieren.
Ob Mangold mit der Absolutsetzung der mittelbaren Gegenwartsreflexion tatsächlich den Dreh- und Angelpunkt des Textes trifft und seine Architektur erfasst, ist zu bezweifeln. Ich möchte Tanja Arnheims ›Ästhetik der Widersprüchlichkeit‹ versuchsweise dagegensetzen und argumentieren, dass der Text stets zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit oszilliert und zudem ausstellt, dass Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit Ergebnisse ästhetischer Verfahren sind.
Diese Verfahren werden auch in der Diegese verhandelt: Die Frage einer Leserin an die Autorin Tanja, ob sie »manchmal auch Geschichten schreibe, in denen sie einfach ganz unmittelbar das sage, was sie auch wirklich denke«,[36] verortet die Präferenz für die Unmittelbarkeit und ›Wahrheit‹ sowie die Vorstellung der Differenzierungsmöglichkeit in einer Figur, die mit ihrer Frage Tanja Arnheim bezeichnenderweise »aggressiv« macht.[37] Zudem schließt der Text an die in Schimmernder Dunst über CobyCounty entfaltete Thematik an: »Lass uns doch heute mal so einen Tag machen, an dem wir alles so meinen, wie wir es sagen./So einen Tag haben wir aber noch nie gemacht.«[38] Es geht hier, wie Klaus Birnstiel zeigt, nicht nur um »Stil und Pose«,[39] sondern es wird auch eine semiotische Lesart angelegt, die wiederum Differenzen fokussiert und die »Archivierung einer vermeintlichen Idee des Realen« suspendiert.[40]
Die Frage wäre nun, welche Bewegung hier mittels der ästhetischen Verfahren installiert wird: Die stete Oszillation – etwa zwischen Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit oder zwischen Ernst und Unernst – scheint auf den ersten Blick die Strukturen der romantischen Ironie, also den »unauflöslichen Widerstreit des Unbedingten und des Bedingten«,[41] so Schlegel, aufzunehmen. Die Struktur – nochmal Schlegel: »In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein«[42] – lässt sich auch für aktuelle Texte produktiv machen, wie unter anderen Eckhard Schumacher verschiedentlich demonstriert hat.[43] Allerdings scheinen die Texte von Randt eine andere Bewegung anzulegen. Christian Krachts Autorinszenierungen sorgten sicher noch dafür, dass – mit Schlegel gesprochen – den »harmonisch Platten […] schwindlicht« von der steten und nicht arretierbaren Bewegung (und Bedeutung) wird,[44] da sie »immer wieder von neuem glauben und mißglauben […], den Scherz grade für Ernst, und den Ernst für Scherz halten«.[45] Dieses Schwindelgefühl evozieren die Randts Texte jedoch nicht, so meine These. Vielmehr wird die Bewegung auf einer Metaebene auf Dauer gestellt und zugleich als Dauerbewegung sistiert.
Programmatisch wird dieses Konzept in Planet Magnon als »PostPragmaticJoy« entfaltet:[46] »PostPragmaticJoy« definiert als Ziel einen »postpragmatische[n] Schwebezustand, in dem Rauscherfahrung und Nüchternheit, Selbst- und Fremdbeobachtung, Pflichterfüllung und Zerstreutheit ihre scheinbare Widersprüchlichkeit überwinden.«[47] Um diesen ›Schwebezustand‹ zu erreichen, werden im Glossar des Textes »PostPragmaticJoy-Techniken, -Praktiken und -Strategien« definiert,[48] dem Konzept scheint also eine präzise Struktur mit entsprechenden Verfahren zugrunde zu liegen. Die Präzision und Trennschärfe wird aber in dem kurzen Eintrag im Glossar direkt wieder unterlaufen: Die in der Definition verzeichneten dichotomen Zuständen – eingängig: »Rauscherfahrung und Nüchternheit« oder »Selbst- und Fremdbeobachtung« – sollen ihre »scheinbare Widersprüchlichkeit überwinden«.[49] Inwiefern die Dichotomie nur eine ›scheinbare‹ ist, wird nicht weiter ausgeführt, auch der Zweck dieser Überwindung, die ja letztlich Ziel des ›Schwebens‹ ist, bleibt unklar. Das Glossar schließt folgerichtig den Eintrag mit der Feststellung, dass »die Konzepte des PostPragmaticJoy oftmals als begrifflich diffus kritisiert [werden]«.[50] Der kurze Eintrag führt somit anhand des Kernbegriffs und -konzepts die dem Text zugrunde liegenden Verfahren sowohl auf der Inhaltsebene mit der Erzählung des »PostPragmaticJoy« als auch auf der Formebene mit der Struktur des Eintrags »PostPragmaticJoy« vor.
Versteht man Planet Magnon im Sinne einer Postironie, wie Marvin Baudisch vorgeschlagen hat – das ›Post‹ impliziert hier keineswegs ein Ende der Ironie oder eine New Sincerity[51] –, dann kontern die Texte das Schlegel’sche und Kracht’sche »[S]chwindlicht«-Werden mit der Perspektive des »Schwebezustand[s]«, in dem die Ironie nicht suspendiert, sondern vielmehr die Reflexion ihrer Gemachtheit und ihrer semiotischen Struktur angestrebt wird. Die Ironie wird also nicht »wild« im Sinne Schlegels;[52] das in Schlegels Text Über die Unverständlichkeit diskutierte Öffnungs-Potenzial der programmatischen Unverständlichkeit ist für Randt nicht von Interesse.[53] Die im Zustand des »PostPragmaticJoy« einzunehmende Metaperspektive ergänzt die binäre Struktur der romantischen Ironie um einen dritten Standpunkt. Die von Schlegel beschriebene Oszillationsbewegung zwischen Ernst und Unernst oder zwischen Ironie und Nicht-Ironie wird suspendiert, genauer: Sie wird von der dritten Position aus auf ihre Verfahren und Effekte hin beobachtet. Die Widersprüchlichkeit wird reflektiert, sie macht aber nicht mehr »schwindlicht«, sondern wird im »Schwebezustand« – mag er auch »begrifflich diffus« bleiben[54] – im Text goutiert: »Man muss in der Lage bleiben, derartige Widersprüche zu genießen.«[55]
Erst von dieser Position aus wird die Pointe deutlich, die Das Wetter mit dem Brecht-Zitat auf dem T-Shirt setzt: Die eingangs skizzierten dichotomen Lesarten – das Zitat als modischer Effekt oder als komplexe Auseinandersetzung mit der Avantgarde – erfassen die Strategie des Textes nicht vollständig. Die von Das Wetter in Anschlag gebrachte postdigitale Poetik beruht vielmehr auf der Installation einer dritten Position, die nicht die Entscheidung Mode oder Avantgarde erzwingt, sondern die Beobachtung der Effekte von einer Art Meta-Position aus ermöglicht, indem die binäre Option goutierend geöffnet wird. Der in Allegro Pastell programmatisch entfaltete genussvolle »Schwebezustand« ließe sich hier als der bestimmende Modus des Postironischen wie Postdigitalen ausmachen; ob dies nur für die Poetik und Ästhetik von Das Wetter, Tegel Media und die Texte von Randt gilt oder ob sich dieser Modus für andere postdigitale Artefakte generalisieren lässt, wäre zu fragen.[56]
Literatur
[1] Bertolt Brecht: Trommeln in der Nacht, in: ders.: Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band, Frankfurt a.M. 1978, S. 37-60, hier S. 38.
[2] Zum Austarieren vgl. Immanuel Nover: »›Die Dinge im Gleichgewicht halten.‹ Zu einer Ästhetik des Depressiven in Leif Randts Schimmernder Dunst über CobyCounty«, in: ders./Till Huber. (Hg.): Ästhetik des Depressiven, Berlin/Boston 2023, S. 351-370.
[3] Zur Aushandlung des Politischen durch die Tat vgl. Immanuel Nover: Die Tat als Aushandlung des Politischen. Zur Logik des Politischen in der deutschsprachigen Literatur von 1773 bis 2014, Berlin/Boston 2022.
[4] Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M. 2001, S. 202.
[5] Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf, Opladen 1995, S. 184.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ingo Stöckmann: »Die Politik der Literatur«, in: Gerhard Plumpe/Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1995, S. 101-134, hier S. 104.
[9] Das Wetter, https://wetter-magazin.com/collections/kleidung/products/das-wetter-shirt-glotzt-nicht-so-romantisch (aufgerufen am 22.08.2022).
[10] Nina Wolf: »Leif Randt und Jakob Nolte – Tegel-Media. Das digitale Literatur-Projekt«, SWR2, 10.11.2021, https://www.swr.de/swr2/literatur/leif-randt-und-jakob-nolte-tegel-media-das-digitale-literatur-projekt-100.html (aufgerufen am 22.08.2022).
[11] Jakob Nolte/Juno Meinecke/Leif Randt: »Tegel Media Sommerhits 2019 (De)«, Pop-Kultur, https://www.pop-kultur.berlin/2019/modules/tegel-media-sommerhits-2019-jakob-nolte-juno-meinecke-leif-randt/ (aufgerufen am 22.08.2022).
[12] Nina Wolf: »Leif Randt und Jakob Nolte – Tegel-Media«.
[13] Redaktion Logbuch: »Literaturzeitschriften im Porträt 19«, Logbuch Suhrkamp, https://www.logbuch-suhrkamp.de/redaktion-logbuch/literaturzeitschriften-im-portraet-19-tegel-media/ (aufgerufen am 22.08.2022).
[14] Enver Hadzijaj: »Peak Time 2000«, Tegel Media, https://tegelmedia.net/entry/peak-time-2000/ (aufgerufen am 22.08.2022).
[15] Ebd.
[16] Nina Wolf: »Leif Randt und Jakob Nolte – Tegel-Media«.
[17] Leif Randt: Allegro Pastell, Köln 2020, S. 7.
[18] Mark Fisher: Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft, übers. von Thomas Atzert, Berlin 2015.
[19] Vgl. Nover: »Die Dinge im Gleichgewicht halten«.
[20] Elias Kreuzmair: »Futur II. (Horn/Röggla/Nassehi/Ja, Panik/Avanessian/ )«, in: ders./Eckhard Schuhmacher. (Hg.): Literatur nach der Digitalisierung. Zeitkonzepte und Gegenwartsdiagnosen, Berlin/Boston 2021, S. 33-56, hier S. 44.
[21] Randt: Allegro Pastell, S. 10.
[22] Ebd., S. 11.
[23] Ebd., S. 108.
[24] Ebd.
[25] Ebd.
[26] Ebd.
[27] Ebd., S. 148.
[28] Ebd., S. 149.
[29] Vgl. Literaturforum im Brecht-Haus: »Leif Randt ›Allegro Pastell‹. Moderation: Doris Akrap«, 06.06.2020, https://lfbrecht.de/mediathek/leif-randt-allegro-pastell/ (aufgerufen am 22.08.2022).
[30] Randt: Allegro Pastell, S. 47.
[31] Ebd., S. 39.
[32] Ebd.
[33] Ebd., S. 67.
[34] Ijoma Mangold: »Das absolute Jetzt«, ZEIT ONLINE, 05.03.2020, https://www.zeit.de/2020/11/leif-randt-allegro-pastell-rezension-buch-literatur/komplettansicht (aufgerufen am 22.08.2022).
[35] Vgl. Literaturforum im Brecht-Haus: »Leif Randt ›Allegro Pastell‹«.
[36] Randt: Allegro Pastell, S. 66.
[37] Ebd.
[38] Leif Randt: Schimmernder Dunst über CobyCounty, Berlin 2012, S. 54.
[39] Klaus Birnstiel: »Schimmernder Dunst über CobyCounty«, in: Moritz Baßler/Eckhard Schumacher (Hg.): Handbuch Literatur & Pop, Berlin/Boston 2019, S. 623-634, hier S. 625.
[40] Ebd.
[41] Friedrich Schlegel: Lyceums-Fragemente, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), München u.a. 1967, S. 160.
[42] Ebd.
[43] Eckhard Schumacher: »Das Ende der Ironie (um 1800/um 2000)«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (2003), S. 18-30.
[44] Schlegel: Lyceums-Fragemente, S. 160.
[45] Ebd.
[46] Leif Randt: Planet Magnon, Köln 2015, S. 291-292.
[47] Ebd.
[48] Ebd., S. 291.
[49] Ebd., S. 292 (Hvh. I. N.).
[50] Ebd.
[51] »Die hier inszenierte Wirkungsästhetik lässt sich nun deshalb als Spielart einer postironischen Ästhetik begreifen, da die Frage nach unernster oder ernster Auslegung explizit zu einer Wahl des virtuellen Lesers erhoben wird. Mit ›Ästhetik der Postironie‹ ist deshalb ausdrücklich keine weitere Renaissance der Rede vom Ende der Ironie gemeint. Sie nimmt vielmehr zur Kenntnis, dass der ironische Taumel zwischen literaler und figuraler Bedeutung wie die Differenz zwischen Sagen und Meinen auf rein semiotischer Ebene niemals zu tilgen ist, sondern vielmehr infinit reproduziert wird.« Marvin Baudisch: »Postpragmatische Achtsamkeit? PostPragmaticJoy als emotionaler Zwischenzustand und Ästhetik der Postironie in Leif Randts Planet Magnon«, in: Jennifer Konrad/Matthias Müller/Martin Zenck (Hg.): »Zwischenräume« in Architektur, Musik und Literatur, Bielefeld 2021, S. 163-188, hier S. 183.
[52] Friedrich Schlegel: »Über die Unverständlichkeit«, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), München u.a. 1967, S. 363-372, hier S. 369.
[53] Zu Schlegels Text vgl. auch Jürgen Fohrmann: »Über die (Un-)Verständlichkeit«, in: DVjs 68 (1994), S. 197-213.
[54] Randt: Planet Magnon, S. 292.
[55] Randt: Allegro Pastell, S. 67.
[56] Vgl. Moritz Baßler: »Alles ist postdigital! und der Rest macht uns auch sturzbetroffen«. In: in: Hanna Hamel/Eva Stubenrauch (Hg.): Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2023, S. 23-32.
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Das T-Shirt mit dem Brecht-Zitat im Webshop der Zeitschrift Das Wetter, https://wetter-magazin.com/collections/kleidung/products/das-wetter-shirt-glotzt-nicht-so-romantisch (aufgerufen am 29.06.2022), © Das Wetter – Magazin für Text und Musik. Mit freundlicher Genehmigung des Magazins Das Wetter. Inzwischen ist die Seite nicht mehr aufrufbar, weil das T-Shirt ausverkauft ist.
Abb. 2: Enver Hadzijaj: »Titelseite«, Peak Time 2000, https://tegelmedia.net/entry/peak-time-2000/, © Enver Hadzijaj. Mit freundlicher Genehmigung von Enver Hadzijaj.
Abb. 3: Enver Hadzijaj: »Textseite«, Peak Time 2000, https://tegelmedia.net/entry/peak-time-2000/, © Enver Hadzijaj. Mit freundlicher Genehmigung von Enver Hadzijaj.
Abb. 4: Leif Randt: Allegro Pastell, Köln 2020, vorangestelltes Motto. Mit freundlicher Genehmigung von Kiepenheuer & Witsch.