Ein Rückblick – und zugleich ein Plädoyer für ein zukünftiges deutsches Pop-Archiv
Die Pop-Dekadentagung war ein alle zehn Jahre stattfindender Kongress für deutsche Popmusiker aus dem Amateur- und Profi-Bereich sowie für Kulturpolitiker und Kulturwissenschaftler. Die Tagungen umfassen fünf Jahrzehnte: vom Beginn der „Jugend-Subkultur“ mit ihren „Jugendzentrums“- „und späteren „Musiker-Initiativen“ im Anschluss an die „Studenten-Revolte“ bis hin zum professionalisierten, aber ratlosen Ende der staatlichen und privaten Pop-Akademien und „Bachelor“-Mucker.
Erste Pop-Dekadentagung, 1979
Auf der Ersten „Rock-’n’-Pop“-Tagung an der Musikhochschule Würzburg warfen insbesondere Musiker der „progressiven“ Bands Embryo und Munju dem Veranstalterkreis um die Kulturpolitische Gesellschaft vor, „abgehoben“ von der „Jugendkultur“ zu reden, statt die Alltagssorgen von „jungen Menschen“ zu sehen, die einen anderen „Lebensentwurf“ hätten als jene, die bloß von ihnen sprachen. Sie hatten sich bereits in „Musikerinitiativen“ selbst organisiert.
Da klang beim Protest mit Flugblättern und lauten Einwürfen so etwas wie eine gewerkschaftsaffine, in jedem Fall auf „Selbstorganisation“ setzende Haltung an, die sich gegen eine „Pädagogisierung“ verwahrte und doch einen emanzipatorischen Duktus pflegte. Erste eigene Labels waren in Gründung. Der Vertrieb „alternativer“ Musik sollte bisherige Strukturen, die sich an den Buchhandel anlehnten (wie der Vertrieb des Trikont Musikverlags aus München), erweitern. Daraus entwickelten sich mittelständische Betriebe wie Schneeball und der Vertriebszusammenschluss energie für alle (efa).
Zweite Pop-Dekadentagung, 1989
Auch bei der Zweiten Pop-Dekadentagung, 1989 im „soziokulturellen Zentrum“ ZAKK in Düsseldorf, wurde Kritik an den kulturpolitischen Ausgangsfragen nach der Entwicklung der „Popkultur“ laut vorgetragen. Doch zeitgleich wurde die Messe „Popkomm“ aus dem Teilnehmerkreis heraus gegründet. Zudem hatten Musiker inzwischen ihre eigenen Labels und mittelständischen Vertriebssysteme so weit aufgebaut, dass sie rasch eine bescheidene wirtschaftliche Grundlage sicherten.
Diesmal protestierten weniger die teilnehmenden Musiker vor allem aus Süddeutschland, sondern vornehmlich der Sprecher des inzwischen gegründeten Deutschen Rock & Pop Musikverbands (DRMV) aus Lüneburg (Niedersachsen), der auf staatliche Förderung ebenso setzte wie auf ein Regelwerk, das Hörfunk- und Fernseh-Anstalten zu einer gesetzlichen oder selbstverpflichtenden Deutschquote zugunsten heimischer Rock- und Popmusikproduktion verpflichten sollte. Fürsprecher war u.a. Heinz-Rudolf Kunze, der im Rahmenprogramm der Ersten Pop-Dekadentagung sich noch als Liedermacher um den erstmals vergebenen „Deutschen Schallplattenpreis“ beworben hatte.
Zum anderen war als Folge der Ersten Pop-Dekadentagung aus dem Teilnehmerkreis heraus der Kontaktstudiengang Popularmusik an der Musikhochschule Hamburg entstanden, der von deren seinerzeitigem Präsidenten Hermann Rauhe und dem Verfasser dieser Zeilen auf den Weg gebracht worden war. Dieser Modellversuch stagnierte jedoch konzeptionell, wiewohl andere Hochschulen ihn bald nachahmten. Denn einige wenige junge Musiker wie die dort zusammengekommenen Rainbirds hatten zwar von vornherein Erfolg, aber sie passten bei aller Professionalisierung nicht in eine der gewachsenen Musik- oder Genre-Szenen.
Dritte Pop-Dekadentagung, 1999
Zehn Jahre später meinte das immer noch, diesmal jedoch abschätzig verwendete Schlagwort von der „Professionalisierung“ wieder etwas anderes. Die Dritte Pop-Dekadentagung war geprägt vom engen Kontakt zwischen Musikern und der Medienwirtschaft – im Großen wie im Kleinen. Mittlerweile war mit indigo in Hamburg-Harburg ein auch finanziell starker Label-, Vertriebs- und Produktionsverbund geschaffen worden. Es wurde längst nicht mehr nur über lokale Proberäume für Bands geredet, sondern über die aufkommenden Video-Abspielsender Viva und MTV.
Nach der anfangs bekämpften „Pädagogisierung“ der bundesdeutschen Pop-Kultur stand nun die angeblich drohende „Ökonomisierung“ im Vordergrund der nicht-öffentlichen Debatte im Konservatorium Blankenese. Skeptiker wie der frühere Rattles-Bassist und spätere Musikproduzent Frank Dostal und Uve Münch (ehemals Bassist bei Embryo und seinerzeit in Nordafrika, New York und Japan erfolgreich bei den Dissidenten) sorgten sich nun doch wieder um „kulturpolitische“ Fragen, wie sie 1979 bereits anklangen: Wie könnte beispielsweise in Kommunen und Ländern eine nicht-kommerzielle Infrastruktur für Musiker gestützt werden, zumal die Szenen offenkundig krasser denn je zuvor sozial gespalten waren, nämlich in eine laienhafte Mehrheit und eine kleine, professionelle Minderheit aus den immer noch wenigen erfolgreichen Produktionszusammenhängen? Plötzlich stand eine „Modernisierung“ der Jugendmusikschulen auf der Themen-Agenda und die Etablierung von „Popmusikstudiengängen“, die mit der Einrichtung des Modellversuchs Popularmusik unmittelbar nach der Würzburger Tagung 1979 begonnen hatte und sich dann 2002 mit Gründung der Pop-Akademie in Mannheim fortsetzen sollte, teils mit denselben Akteuren.
Vierte Pop-Dekadentagung, 2009
Andere Ansätze, die sich aus den vorherigen Pop-Dekadentagungen entwickelten, brachen hingegen unvermittelt ab. Die Popkomm war durch eine unkreative, auch personelle Bindung an die „Musikindustrie“, wie sich der ehemalige Verband der Phonographischen Wirtschaft inzwischen selbst tituliert, selbstverschuldet in eine tiefe Krise geraten. Im Sommer 2009 wurde sie – ausgerechnet im zwanzigsten Jahr nach ihrer Gründung am Rande der Düsseldorfer Dekadentagung – abgesagt. Der Deutsche Musikrat, die Musikhochschulen und andere mühten sich in jenen Tagen immer noch um den „Musikunterricht für Jugendliche“ – mit bedenklich wenig Resonanz aus der Politik, die offenbar von den Debatten der vergangenen Jahrzehnte wenig mitbekommen hatte.
Darum war der Tenor der Vierten Pop-Dekadentagung, diesmal zu Gast in der Pop-Akademie in Mannheim, zunächst irgendwie vertraut und doch zugleich befremdlich. Die scheinbar auf den vorangegangenen Tagungen bereits beantworteten Fragen lauteten nun abgewandelt so: Was hatten die (kulturpolitischen) Orientierungen der vorangegangenen Tagungen langfristig bewirkt? Wurden sie zumindest in den wirtschaftlichen Erfolgen der Initiativen oder einer „Emanzipation der Szenen“ gespiegelt? Hatte die deutsche „Musikindustrie“ nach der Absage der Popkomm eine und, wenn ja, welche Zukunft? Welche Perspektiven hätten die „Independents“ dann noch, die mit ihren kleinen Vertrieben teils an den kränkelnden Strukturen der Großen hingen, beispielsweise an der Dominanz der Großhandelsketten und so genannten „Media-Märkten“? Was war aus dem „sozio“- oder „gegenkulturellen“ Generationenkonflikt geworden, nachdem die Popmusikkultur vermeintlich die „Mitte der Gesellschaft“ umfasste und eben nicht mehr als „Subkultur“ abgetan werden konnte? Diesmal wurde als Umfeld der Pop-Dekadentagung der Kongress „Zukunft Pop?“ der Pop-Akademie in Mannheim gewählt, also einer Einrichtung, die sich nach eigenem Verständnis um die „Qualifizierung“ von angehenden Musikern oder deren aufstrebenden Vermarktern im Bereich Popmusik-Design und -business bemühte.
Fünfte Pop-Dekadentagung, 2019
Ist es Zeit für ein (digitales) Archiv „deutscher“ Popmusik? Eine sehr persönliche Kartografierung in kleiner Runde zur „deutschen“ Popkultur, ihrer kulturellen Bilanz und kulturpolitischen Perspektive, zu Gast im Hamburger Institut für Kultur- und Medienmanagement (KMM), mit Impuls-Vorträgen, Kommentaren und Kritiken von Prof. Dr. Thomas Hecken, Prof. Dr. Christoph Jacke, Gabriele Rohmann (Archiv der Jugendkulturen), Hans Nieswandt (Popstudiengang der Folkwang-Hochschule) und Detlef Diederichsen (Haus der Kulturen der Welt).
Nach dem inzwischen international legendären „Krautrock“ der Siebzigerjahre, nach der international bestaunten und gefeierten „neuen deutsche Welle“ der Achtzigerjahre, nach dem die Welt umrasenden „Techno“ der Neunzigerjahre und der „DJ Culture“ der Nullerjahre – was kommt ab 2020/1? Ein Museum für Amon Düül in Schwabing, für Udo Lindenberg in Gronau, für Ideal in Kreuzberg, für Scooter neben Legoland und für Ulf Poschardt im „Welt“-Archiv?
Über all diese Jahrzehnte der Pop-Dekadentagungen mit Experten und Musiker*innen – von Würzburg über Düsseldorf, Mannheim bis Hamburg – stand skurrilerweise die internationale „Pop-Kultur“, die Deutschland seit den Sechzigerjahren so stark beeinflusst, außerhalb der scheinbar aktuelleren Diskussionen. Praktischerweise standen die eigenen, auch sozialen oder im doppelten Sinne provinziellen Befindlichkeiten im Vordergrund: Wie lebe ich von und mit Rock- oder Pop-Musik?
Dabei wäre durchaus auch die internationale Bedeutung der deutschen „Popmusik-Kultur“ zu befragen gewesen, zumal der Stellenwert der multinationalen Alltagskultur, die bereits seit den Siebzigerjahren zugleich ein bedeutsamer Wirtschafts- und Steueraufkommensfaktor war, mit Blick auf die kulturpolitischen Fragestellungen verschämt ausgeblendet worden war.
Anders als im eigenen Land wurden „deutsche“ Pop-Produkte außerhalb oft ganz anders wahrgenommen:
• So wird beispielsweise in Großbritannien die Ära der deutschen Siebzigerjahre-Bands (beispielsweise Can, Tangerine Dream, Amon Düül, Kraftwerk) trotz des ironischen Etiketts „Krautrock“ geradezu ikonisch verehrt.
• Die „neue deutsche Welle“ der Achtziger fand in Japan (Alphaville aus Münster) und in den USA Anhänger (beispielsweise Nena aus Berlin). Hits wie „DaDaDa“ (Trio aus Großenkneten) werden sogar in Südamerika, insbesondere Brasilien, bis heute begeistert gecovert.
• Die Neunzigerjahre und das neue Jahrtausend überraschten mit deutschen „Weltmusik“-Produktionen, beispielsweise den Bulgarischen Stimmen (die in New Yorker Diskotheken zum Kult wurden, obwohl in Bremen aufgenommen) und den Dissidenten (die in Nordafrika eine Zeitlang die Charts anführten und aus München kommen).
Gleichwohl ist diese erfolgreiche „deutsche“ (???) Alltagskultur dem Vergessen preisgegeben. Zwar gibt es erste, private und kleinteilige Archivierungsbemühungen wie das Archiv der Jugendkulturen in Berlin oder gar ambitionierte „Museumsinitiativen“ von Laien wie in Gronau, einer Gedenkstätte zu Lebzeiten für Udo Lindenberg. Hier wird mit „Dokumenten“ und Artefakten gearbeitet, was dem Genre und der Aufgabenstellung nur im Ansatz gerecht wird. Szenen organisierten private Archive wie in Köln und Mannheim.
Das Wissen um die Entwicklung und Bedeutung von deutscher Rock- und Popkultur ist jedoch bislang weder systematisiert noch katalogisiert oder gar der (internationalen) Wissenschaft erschlossen, was für eine künftige Entwicklung dieses Kultur- und Wirtschaftszweiges unverantwortbar ist. So lagern (und verrotten) in den „Schallarchiven“ der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten Ton- und Bilddokumente nahezu aller bedeutsamen („deutschen“) Rockproduktionen, die einer restaurierenden oder bewahrenden Bearbeitung bedürften (beispielsweise durch Digitalisierung) und die sogar einer weiteren Verwertung im Sinne der Urheber erschlossen werden könnten.
Im Unterschied dazu sammelt die US-amerikanische Library of Congress systematisch „popular music“ aller Epochen zur freien Verfügung. Sie benennt jeweils den „Song of the Day“ und veranstaltet Konzerte mit bedeutenden Musikern.
Die Bundesrepublik Deutschland hat mit den erweiterten Nationalbibliotheken in Leipzig und Frankfurt/Main sowie dem Bundesfilmarchiv in Berlin vorbildliche Einrichtungen kultureller Pflege geschaffen und so die Sicherung wissenschaftlich (und wirtschaftlich) nutzbarer Quellen geleistet, die zudem die Rechtssituation der Verlage stützt. Für Neuveröffentlichungen gilt eine materiale Belegexemplar-Abgabepflicht. Die Bundesregierung baut derzeit mit der Deutschen Digitalen Bibliothek eine staatliche, einmalige Einrichtung zur allgemeinen kulturellen Nutzung auf, die jedoch den Bestand der populären Kultur nur in Teilen berücksichtigen wird, obgleich hier eine kostengünstige nicht-materiale Archivierung denkbar und sinnvoll wäre.
Für den Bereich der deutschen Popmusik-Kultur fehlt eine vergleichbare Institution, die dem internationalen Ansehen und der gesellschaftlichen sowie wirtschaftlichen Bedeutung der Szenen gerecht wird und die zentraler und dienstleistender Anlaufpunkt für die (internationale) wissenschaftliche Rezeption und für die produzierende Wirtschaft ist.
Es könnte nicht nur ein Gegenstück zu kommenden, für das Urheberrecht problematischen Google- oder YouTube-Angeboten sein, sondern die Urheberrechte darüber hinaus produktiv nutzen, beispielsweise durch eine erstmals durch eine digitale Archiv-Gesamtschau mögliche künstlerische und wirtschaftliche Auswertung der Kreativitätspotentiale sowie auch als digitales und rechteschützendes Rechercheinstrument durch Verlinkung mit Hersteller- und speziellen, teils ausländischen Fan-Webseiten beispielsweise zu den Einstürzenden Neubauten, den Krupps oder Kraftwerk.
Literatur
Dokumentation Nr. 9 der Kulturpolitischen Gesellschaft: Rock & Pop. Kritische Analysen – Kulturpolitische Alternativen (I), hrsg. von Dieter Baacke und Rainer Jogschies, Köln 1980.
Dokumentation Nr. 37 der Kulturpolitischen Gesellschaft: Rock & Pop. Kritische Analysen und kulturpolitische Alternativen (II), hrsg. von Rainer Jogschies, Hagen 1991.
Dokumentation der Fünften Pop-Dekadentagung, hg. v. Rainer Jogschies: Gehört „deutsche“ Popmusik ins Museum?, Hamburg 2021.