Parteien, Wahlen, Umfragen
von Thomas Hecken
27.8.2024

Demokratische Gewohnheiten

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 40-48]

Parteien sind ein dankbarer Gegenstand der Populärkulturforschung. Sie stellen sich dem Votum der Wähler und geben vor, sich nach ihm zu richten. Die Partei mit den meisten Stimmen, die in einem standardisierten Verfahren ermittelt werden, ist zweifelsfrei populär – vorausgesetzt, es gibt nicht fünf oder sechs Parteien, die alle um die 15 % liegen und damit ungefähr auf dieselbe Stimmenzahl kommen wie die führende. Da zumeist eine Partei eindeutig die meisten Stimmen auf sich vereinigt (oder zwei, die keinen allzu großen Abstand aufweisen), benötigt man in Nationen, in denen einigermaßen freie Wahlen stattfinden, keine Spekulation oder sorgsam vorgenommene Abwägung, um über die Popularität von Parteien zu befinden. Die Auszählung bringt an den Tag, welche der Parteien bei den Wählern die populärste ist und welche vielleicht ähnlich populär sind (etwas komplizierter wird es nur, wenn die ›Partei der Nichtwähler‹ die größte ist).

Der quantitative Maßstab befreit die Populärkulturforschung davon, Feststellungen über das ›Wesen des Volks‹ zu treffen oder etwa das ›niedere Volk‹ als die ›populären Schichten‹ auszugeben. ›Populär‹ meint stattdessen: von der Mehrheit derjenigen, die eine Stimme abgegeben haben, gewählt. Was diese populäre Partei auszeichnet, kann daraufhin eingehend untersucht werden.

Solche Überlegungen stellen aber keineswegs nur die Wissenschaften an. Nicht zuletzt beschäftigen sich die Parteien selbst oftmals mit der Frage, was der Grund für Popularität oder Nicht-Popularität sein mag. Das ist auf den ersten Blick verblüffend, weil die Antwort nahe liegt: die Partei – sprich: ihre Richtung. Partei kommt von lat. ›pars‹, zu Deutsch u.a. ›Teil‹, ›Seite‹, ›Richtung‹. Der Sprachgebrauch ist eindeutig: ›Partei ergreifen‹, ›parteiisch sein‹. Auch die politische Partei muss wohl eine Richtung besitzen, nicht eine andere, selbst wenn Parteipolitiker oft vorgeben, für alle das Beste zu wollen und zu schaffen. Deshalb scheint einleuchtend zu sein, dass eine Partei wegen ihrer speziellen Ausrichtung gewählt wurde.

Tatsächlich teilen viele Parteien diese Einschätzung, vor allem unmittelbar nach der Wahl. Die siegreiche – die populärste – Partei sieht sich in ihren Absichten bestätigt. Den Wahlerfolg fasst sie als Zustimmung zu ihren ausdrücklich genannten oder als selbstverständlich vorausgesetzten Programmpunkten und Zielen auf. Der Verdacht, ihre Richtung könne nicht gut sein, weil viele für sie gestimmt haben, kommt ihr ohnehin kaum oder gar nicht; von den Bedenken bzw. Abgrenzungsbemühungen moderner Künstler und Bohemiens gegenüber der zahlreichen Zustimmung durch die ›Menge‹ werden Parteipolitiker nur in seltenen Fällen umgetrieben. Auch die anderen, weniger oder gar nicht populären Parteien greifen im Regelfall nicht zu diesem Argument. Falls sie nicht die Legitimität oder Legalität der Wahl bestreiten, erkennen sie ebenfalls an, dass sich für ihre jeweilige Richtung weniger Leute entschieden haben und sie deshalb zu Recht geringere oder gar keine Aussichten auf Posten in der Legislative und Exekutive besitzen.

Im moderaten Fall erklären die mit ihrem Ergebnis unzufriedenen Parteien, ihr Anliegen nicht gut genug vermittelt zu haben. Sie geben so zu verstehen, dass sie ihre Richtung nicht ändern werden und einfach bei der nächsten Wahl auf mehr Zuspruch hoffen. Zu einer ›Wählerbeschimpfung‹ gehen sie nicht über, obwohl es doch sehr verständlich wäre, wenn die Verfasser und Verfechter der Partei-Leitlinien jene Leute, die ihre gute Richtungsvorgabe verschmäht haben, als schlecht oder unvernünftig einstuften. Für ihr Programm stehen sie trotz der Zurückweisung aber weiterhin ein, sie halten es unverändert für gut, auch wenn es in der Gegenwart bei der Wählerschaft keine große Popularität erlangt hat.

Im radikalen Fall, der nicht selten eintritt, obsiegt jedoch ihre Orientierung am Wahlergebnis, nicht an ihrem eigenen zur Wahl gestellten Parteiprogramm. Um populär zu werden, ändern sie ihre Richtung, zumindest um einige Grade. Sie erkennen dadurch an, dass ihre vorherige Richtung falsch war, nicht qualitativ, sondern quantitativ: Der Grund für ihre Richtungsänderung ist das relativ geringe Stimmergebnis. Hätte man eine andere Richtung eingeschlagen, wäre das Ergebnis besser ausgefallen, lautet die zumeist mit großem Nachdruck vorgetragene Spekulation, die eine künftige Wahl als Wahrheit erweisen soll. Wichtig ist für diese Parteipolitiker in erster Linie, ein populäres Programm zu vertreten, andere Begründungen verblassen dagegen. Sie sind sofort bereit, ihre zur Wahl gestellten Anschauungen zumindest teilweise zu revidieren und ihre Spitzenkandidaten gänzlich ihrer Führungspositionen zu entkleiden, nur weil sie weniger Stimmen bekommen haben als erhofft.

Relativ einfach fällt diese Änderung, wenn die Partei verschiedene Lager besitzt, die für unterschiedliche Richtungsgrade einstehen. Die Partei ist doch keine, soll heißen: Sie besteht aus verschiedenen Teilen, aus verschiedenen Richtungen. Das kompliziert zwar die Feststellung der Popularität: Wenn eine Partei aus verschiedenen Richtungen besteht, welche von ihnen haben die Wähler gewählt, als sie sich für die eine Partei entschieden haben? Einfacher wird es dadurch aber für die Partei, ihre Programmänderung nach einer aus ihrer Sicht ›verlorenen‹ Wahl vorzustellen und zu motivieren. Die Änderung kann in diesem Fall als Durchsetzung des einen über das andere Lager dargestellt werden – es handele sich nicht um eine Neukonstitution, eine ›Umprogrammierung‹ der Partei aus opportunistischen Gründen (Anpassung an die zuletzt registrierten Wählervoten). Eine Namensänderung bzw. Umgründung der Partei ist deshalb nicht notwendig.

Allerdings besteht jederzeit die Gefahr, dass die graduellen Unterschiede zwischen den Richtungen innerhalb einer Partei von jenem Lager, das sich beim Programm oder anderen wichtigen Punkten nicht durchsetzen konnte, als erheblich eingestuft werden. Wenn Zugeständnisse und Kompromisse bei anderen, zweitrangigen politischen Fragen ebenso wenig für Abhilfe sorgen können wie die Aussicht auf einflussreiche oder gut dotierte Posten, kommt es zu Austritten oder Spaltungen.

Seit der Bundestagswahl 2017 sind gleich zwei Parteien im Bundestag vertreten, die von solchen Wechseln profitiert haben. Nach der Linken, die ehemalige SPD-Mitglieder in ihren Reihen zählt, konnte auch die AfD ins deutsche Parlament einziehen, darunter einige frühere CDU-Funktionäre wie Alexander Gauland. Sie alle waren und sind mit der programmatischen Richtung ihrer vorherigen Partei nicht einverstanden und gehören teils zu ihren schärfsten Kritikern. Das im Falle von SPD und CDU/CSU lange geglückte Unterfangen, Leute mit recht unterschiedlichen Ansichten in der Partei zu versammeln (auch in der Hoffnung, dadurch ein breiteres Spektrum an Wählern auf sich zu vereinigen), hat mehr oder minder starke Rückschläge erlitten.

Das Vorhaben, eine ›Volkspartei‹ zu sein, muss deshalb aber noch nicht als gescheitert angesehen werden. ›Volkspartei‹ meint im heutigen Sprachgebrauch von Politikern und Journalisten erstens, dass die Partei eine gewisse Größe erreicht, vor allem an Wählerstimmen, manchmal auch an Mitgliedern. Die von der CDU insbesondere bei Grundsatzreden lange vertretene Auffassung, die »Volkspartei« zeichne ein christliches »sittliches Fundament« aus, das es »Menschen oft sehr unterschiedlicher Herkunft« erlaube, sich in einer Partei zusammenzufinden (Helmut Kohl, 1990), ist in der Gegenwart kaum noch zu vernehmen. Erhalten hat sich oft bloß der Anspruch, weit mehr als nur eine (Interessen-)Gruppe erreichen zu wollen. Das zweite weithin akzeptierte Kriterium einer ›Volkspartei‹ liegt folglich darin, in jeweils größerer Zahl Wähler aus unterschiedlichen Organisationen, Schichten, Konfessionen, Landesteilen etc. zu gewinnen: nicht nur evangelische, sondern auch katholische Christen, nicht nur Angestellte, sondern auch Arbeiter, nicht nur Frauen, sondern auch Männer, nicht nur Jüngere, sondern auch Ältere, nicht nur West-, sondern auch Ostdeutsche, nicht nur Leute mit Abitur, sondern auch mit anderen Schulabschlüssen, nicht nur Bürger, deren direkte Vorfahren über mehrere Generationen einen deutschen Pass besaßen, sondern auch Leute mit einer anderen Familiengeschichte.

Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie zur Wahl von 2017, die seit 2019 in Buchform vorliegt (Sigrid Roßteutscher et al., Nomos Verlag), zeigt, dass die in den Bundestag gewählten Parteien allesamt viele unterschiedliche »soziale Gruppen« gut erreichten, aber keineswegs alle in ungefähr ähnlichem Maß zugleich. Um nur einige Daten zu nennen: Bei einer Wahlbeteiligung von insgesamt 76,2 % hat die CDU/CSU 2017 bei 32,9 % der abgegebenen Stimmen überproportional viele Voten besonders von Kirchgängern, Menschen mit »Migrationshintergrund« und Katholiken erhalten (am anderen Ende der Skala: Arbeitslose, Menschen, die jünger als 40 Jahre sind, und Ostdeutsche). SPD (20,5 %): relativ viele Gewerkschaftsmitglieder, Arbeiter, Rentner / relativ wenige Selbständige, Leute mit Abitur, Kirchgänger. AfD (12,6 %): Arbeitslose, Ostdeutsche, Arbeiter / Kirchgänger, Leute mit Abitur, Rentner. Grüne (8,9 %): Leute mit Abitur, Jüngere, Arbeitslose / Menschen, die über 65 Jahre alt sind, Arbeiter, Ostdeutsche.

Angesichts dieser Daten stellen sich zwei Fragen: Wie viele der Wahlberechtigten sollten eine Partei wählen, damit der Begriff ›Volkspartei‹ gerechtfertigt wäre? Selbst wenn man nur ein Drittel der Wahlberechtigten als Mindestmaß ansetzte, gäbe es keine deutsche ›Volkspartei‹ mehr. Ginge man wesentlich weiter herunter, bliebe als zweite Frage, in wie vielen Gruppen die ›Volkspartei‹ ein respektables Ergebnis erzielen müsste. Zeigt das schwache Abschneiden der SPD bei Selbständigen und der CDU/CSU bei Arbeitslosen nicht an, dass sie keine ›Volkspartei‹ sind, sondern sich richtigerweise als Interessenparteien verstehen sollten?

Einige Parteien sind dieser Frage gewissermaßen vorsorglich begegnet, indem sie den Begriff der ›Volkspartei‹ durch den der ›Partei der Mitte‹ ersetzt oder zumindest ergänzt haben. Im Gegensatz zum Begriff der ›Volkspartei‹, mit dem etwa durch CDU und SPD nicht (allein) eine qualitative, substanzielle Bestimmung des ›Volks‹ oder gar des ›Völkischen‹ vorgenommen wird, fehlt ›Partei der Mitte‹ die quantitative Dimension. ›Mitte‹ zeigt im aristotelischen Sinne das Gute an, abgesetzt von den zu vermeidenden ›Extremen‹, die politisch ›links‹ und ›rechts‹ verortet werden. Ob diese ›Mitte‹ viele Anhänger findet, ist erst einmal unbestimmt.

Selbstverständlich können Repräsentanten von Parteien, die nach Popularität streben, diese quantitative Unbestimmtheit kaum oder gar nicht ertragen. Ein Versuch, ihr zu begegnen, kam häufig von CDU-Politikern (und ist heute noch manchmal zu vernehmen): ›bürgerliche Mitte‹. Gefahren weist dieser Zusatz auf, weil er mit ›Bürger‹ offenkundig nicht ›Staatsbürger‹ meint; die Angabe ›Bürger‹ im sozialen Sinne ist aber vor allem im 18. und 19. Jahrhundert mit der Auffassung verbunden gewesen, dass diejenigen, die nicht zu den ›Besitzenden‹ und ›selbständig Wirkenden‹ zählen, kein Wahlrecht bekommen dürften. Um sich dem Vorwurf, kein Demokrat zu sein, zu entziehen, hat man aufseiten der CDU gern zu dem Argument gegriffen, ›bürgerlich‹ sei ein angemessenes Synonym für ›moderat‹, für ›ausgleichend‹.

Die ›Mitte‹ ist demnach nicht nur gut und vernünftig, sondern verfügt auch über integrierende Kraft und damit über großen Zuspruch. Mit dem Begriff der ›Mitte‹ soll plausibel gemacht werden, dass die Partei gar keine ist – sie ist nicht parteiisch, vertritt keine besonderen Interessen und Anschauungen, sondern das ›Gemeinwohl‹, das ›Ganze‹ (abgesehen von den gefährlichen ›Rändern‹). Die Partei der ›Mitte‹ beschreibt sich mit ihren führenden Repräsentanten so, wie die offiziellen Anforderungen des Staates an seine Bediensteten lauten. Angesichts der Nähe vieler Parteipolitiker zur Exekutive verwundert es nicht, dass sich ihre Sprache der von staatlichen Amtseinführungen angleicht.

Zumindest für die Popularität der ›Mitte‹ gibt es gegenwärtig einen sehr guten Beleg: die Anstrengungen von SPD und Grünen, der CDU zu ähneln. Dieser Versuch ist bereits weit fortgeschritten. So gesehen handelte es sich auch nicht um einen gravierenden historischen Lapsus, als die Spitzenkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, in einer Bundestagsrede am 7.5.2021 ausführte, dass die Sozialdemokraten in den 1960er Jahren die »soziale Marktwirtschaft auf den Weg gebracht« hätten – es zeigte nur, wie gut die Einheit bereits funktioniert. Umgekehrt wollen führende Politiker der CDU/CSU, dass ihre Partei als bessere Version der Grünen wahrgenommen wird.

Ein anderer Beleg für die Popularität der ›Mitte‹ ist darin zu sehen, dass selbst die FDP manchmal etwas anderes als eine Interessenpartei für Selbständige und Gutverdiener sein will. Tatsächlich bildet die Verfolgung materieller Interessen für soziale Gruppen nicht (mehr) in sehr starkem Maße den Grund für eine Wahlentscheidung, Anschauungen über das moralisch Gebotene, Spekulationen über zukünftige Risiken, über die ›Notwendigkeit des Wechsels‹, über die fehlende symbolische Anerkennung der ›eigenen Leistung‹ sind ebenso von Bedeutung. Der Rat an die SPD, sich wieder stärker auf die materiellen Interessen von Arbeitern bzw. durchschnittlich Verdienenden zu besinnen und eine harte Abkehr von der Schröder-Agenda vorzunehmen, muss deshalb nicht unbedingt zu steigender Popularität führen.

Allerdings fällt dieser Erfolg für Anhänger der ›Mitte‹-Konzeption momentan insofern zwiespältig aus, als längst nicht mehr 90 oder gar 95 % der Wähler für Parteien der ›Mitte‹ ihre Stimme abgeben. Die Vermutung liegt nahe und wird auch oft geäußert, dass die zunehmende Ähnlichkeit der bisherigen Regierungsparteien – noch einmal in den letzten Jahren befördert durch die Abkehr der CDU/CSU von reaktionären und offen fremdenfeindlichen Positionen und die Hinwendung von SPD und CDU/CSU zu ökologischen Prinzipien – dazu beigetragen habe. Es ist tatsächlich ein aussagekräftiges Indiz für den Zustand dieser Parteien und des ihnen verbundenen Journalismus, dass sie ständig die Begriffe ›Markenkern‹ oder ›DNA‹ im Munde führen, wenn sie über wichtige Unterscheidungsmerkmale sprechen wollen. Die Bedeutung des Begriffs ›Partei‹ ist ihnen gar nicht mehr bewusst; um die besondere Richtung zu benennen oder einzufordern, müssen sie auf Marketing-Rhetorik zurückgreifen. Die ältere Assoziation von ›Partei‹ mit ›entschiedener Richtung‹ und ›Repräsentantin einer sozialen Klasse‹ ist ihnen wahrscheinlich peinlich, darum nähern sie sich konsequent einander an.

Wie stark sie bereits ihre Rhetorik der parteilosen ›Gemeinschaft‹, des ›Gemeinwohls‹ und des ›allseits guten Grundes‹ (technokratisch gefasst: des ›Sachzwangs‹ und der ›Alternativlosigkeit‹) verinnerlicht haben, zeigte sich an der bereits erwähnten Bundestagsrede Baerbocks, in der sie als einen Höhepunkt Deutschlands einen angeblich allumgreifenden historischen Moment ausgab. Selbst die Nachkriegszeit, in der es starke Auseinandersetzungen um die politische Neuausrichtung Deutschlands gab, gerinnt im Rückblick einer Politikerin der ›Mitte‹ zu einer Gemeinschaftsvision: »Der Wohlstand unseres Landes beruht darauf, dass in Zeiten des Umbruchs durch entschlossenes politisches Handeln wir gemeinsam als Gesellschaft einen großen Schritt vorangekommen sind. 1945 nach dem Krieg: gemeinsam gehandelt.«  Dank solcher Aussagen versteht man die Klage der Anhänger der ›Mitte‹ über die ›Spaltung der Gesellschaft‹ besser. Da sie annehmen, dass ihre Ansichten die richtigen seien und man ihnen vernünftigerweise gemeinschaftlich beipflichten müsse, empfinden sie eine Abkehr davon wahrscheinlich als höchst bedrohlichen Verlust jener ›Einheit‹, die sie sich nicht nur in ihren Imaginationen der Vergangenheit erträumen und den ›Abweichlern‹ als Anforderung vorhalten.

Betrachtet man all diese Phänomene im Zusammenhang, erscheint aber auch eine andere These zur Ursache der in Deutschland bislang noch vergleichsweise kleinen Stimmverluste der Parteien der ›Mitte‹ plausibel. Es liegt nicht an der Ähnlichkeit der Parteien, die sich selbst in der ›Mitte‹ sehen, dass es eine Reihe an Wählern gibt, die sich unterschiedlich ausgeprägten Alternativen (AfD, Die Linke, Die Partei) zuwenden. Es liegt schlicht daran, dass diese Wähler jeweils andere Auffassungen vertreten, so verwirrend dies den Parteien der ›Mitte‹ in ihrer Vorstellung, das Vernünftige, Wirkliche (kein ›Fake‹) und Unumgängliche darzustellen, auch erscheinen mag.

Unterstützt wird diese Annahme durch die gut belegte Tatsache, dass selbst bei weitgehend identischen Programmen der nicht alternativen Parteien – aktuell: ›Klimaschutz als ökonomisches Projekt bei gleichzeitiger sozialer Absicherung‹ – genug Spielraum für scharfe Abgrenzungen zwischen CDU/CSU, SPD, Grünen verbleibt. Die Dramatisierung kleiner Differenzen gehört zur Routine beinahe jedes professionellen Politikers, Gleichförmigkeit und mangelnde Abwechslung kann so immerhin vermieden werden.

Hinzu kommen die Möglichkeiten zur scharfen Distinktion und Parteinahme, die sich aus dem unvermeidlichen Umstand ergeben, dass die Parteien Spitzenkandidaten aufbieten, die verschieden aussehen und agieren, auf unterschiedliche Weise sprechen, Bewegungen vollführen und lachen, zum Teil andere Frisuren haben, auf je andere Weise kompetent, autoritär oder zögerlich wirken. Die Frage nach dem Grund der Popularität einer Partei stellt sich darum als kompliziert heraus – es liegt gar nicht nur an der Partei, sprich ihrer Richtung, ihrem Programm, es liegt ebenfalls nicht nur am Nebeneinander oder Zusammenspiel der Richtungen innerhalb einer Partei. Gerade bei Wechselwählern ist ein für sehr gut befundener Kandidat ein wichtiger Grund für die Stimmabgabe.

Niemand denkt über die Bedeutung des Führungspersonals häufiger nach als die Parteipolitiker selbst. Im Vorfeld der Wahl 2021 kam deshalb starker Widerstand in Reihen der CDU/CSU gegen den vom CDU-Bundesvorstand unterstützten Anwärter Armin Laschet auf – ein anderer möglicher Kandidat, Markus Söder, erzielte bei Meinungsumfragen deutlich bessere Ergebnisse. Ihm wurde von der Mehrheit der Befragten bzw. der Deutschen ebenso wie von den CDU-Anhängern attestiert, er sei »führungsstark« und »dynamisch« (Forsa, 7.-10.4.2021). Darum sahen viele Parteimitglieder die Richtung der Union in allererster Linie von der Kandidatenentscheidung bestimmt.

Interessant war nun, mit welchen Argumenten beide Seiten innerhalb der Union den jeweiligen Anwärter unterstützten. Ein Kandidat könne nach parteiinternen Maßstäben noch so gut sein, das nutze nichts, wenn ihn die Wähler nicht akzeptierten, lautete das zentrale Argument der Laschet-Widersacher. Die Befürworter Laschets wiederum führten zwar teilweise programmatische Punkte ins Feld, die sie stärker von Laschet garantiert sahen, häufiger wurden aber ebenfalls Punkte genannt, die direkt mit Fragen der Popularität und ihrer Ermittlung zu tun haben. Erstens: Die Auswahl des Kanzlerkandidaten stehe einem Parteigremium zu, sie dürfe nicht durch repräsentative Umfragen, also von allen derart erfassten Deutschen oder CDU-Anhängern, entschieden werden. Zweitens: Sie dürfe (auch) nicht von Umfragen abhängig gemacht werden, weil deren Ergebnisse sich rasch ändern könnten; eine Umfrage im Frühjahr sei nicht die Bundestagswahl im Herbst.

Angesichts solcher Argumente gegen den Wert repräsentativer Umfragen erscheint das Projekt der Demokratie nicht in hellstem Licht. Einerseits ist es zwar selbstverständlich eine richtige Aussage, dass Umfragen keine Wahlen sind; ihr Hauptunterschied besteht genau darin, dass Wahlen institutionalisierte Folgen besitzen und Umfragen nicht. In einer repräsentativen Demokratie, in der nur sehr selten abgestimmt wird (etwa im Abstand von vier Jahren) und die Gewählten nur ihrem »Gewissen« (Grundgesetz, Art. 38) sowie den geltenden Gesetzen verpflichtet sind, sind Umfragen deshalb so gesehen nur eine Spielerei. Andererseits ist es wegen der Ähnlichkeit von Wahlen und Meinungsumfragen aber schwer verständlich, weshalb man sich in einer Demokratie nie an repräsentativen Umfragen orientieren sollte, zumal sie sogar Ergebnisse liefern, die im Unterschied zu vielen Wahlen die Entscheidungen der gesamten Gruppe (z.B. aller Wahlberechtigten) bilanzieren und nicht nur der mitunter viel kleineren Zahl derjenigen, die tatsächlich an einer Wahl teilgenommen haben.

Mit Blick auf den vorliegenden Fall und die Argumente der Laschet-Unterstützer gesagt: Wenn die CDU-Anhänger nicht über den indirekten Weg von Umfrageergebnissen den Kanzlerkandidaten der von ihnen präferierten Partei bestimmen dürfen, leuchtet nicht unmittelbar ein, weshalb in einer vergleichbaren Abstimmungsprozedur sogar über die Kanzlerschaft, also ein wesentlich wichtigeres Amt, mittelbar entschieden werden muss. Und wenn nur einige Monate oder Wochen ausreichen sollten, um bedeutend andere Wahlergebnisse hervorzubringen, leuchtet ebenfalls nicht unbedingt ein, weshalb man sehr wichtige Entscheidungen solch einem wankelmütigen Elektorat anvertraut.

Angesichts solcher Argumente leuchtet hingegen das Unwahrscheinliche und Erstaunliche demokratischer Wahlen hell auf. Was zu einem bestimmten Zeitpunkt (an einem Tag; wegen der Möglichkeit der Briefwahl mittlerweile allerdings über mehrere Wochen verteilt) von beliebigen Menschen (in vielleicht ganz unterschiedlicher Zahl von Männern, Frauen, Diversen, Selbständigen, Rentnern, Arbeitslosen, Kirchgängern, Atheisten etc.) gewählt wurde, gibt den Ausschlag, welche Parteien und Politiker sehr populär oder gar nicht populär sind, bzw. entscheidet über quantitativ fein ausgewiesene Abstufungen des Populären. Nicht das ›richtige‹ Argument obsiegt, sondern das populärste – oder vielleicht irgendetwas anderes, das viele umtreibt, populäre ästhetische Vorlieben, materielle Interessen, moralische Überzeugungen, Vorurteile usw.

Dennoch wird es sicherlich mindestens unmittelbar nach der Wahl wieder viele beredte Auskünfte über ›Volk‹, ›Mitte‹, ›Ränder‹ und darüber geben, aus welchen sehr bedauerlichen Gründen das eigentlich unwiderstehliche und sachlich gebotene, recht besehen alternativlose Programm diesmal nicht die nötigen Stimmen bekommen hat. Dem Geheimnis der demokratischen Wahl wird aber auch von den ›alternativlosen‹ Parteien, die keine Popularität erlangt haben, zumeist wenigstens ein Opfer gebracht: Spitzenkandidat und Losung werden nächstes Mal anders aussehen, und auch die Richtung wird nicht mehr genau dieselbe sein.

 

Der Beitrag ist Teil der Forschungsarbeit des Siegener DFG-SFB 1472 »Transformationen des Populären«.

 

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