Lady Gagas digitale Intimität
von Christian Metz
10.8.2024

Gender Studies Anfang der 2010er Jahre

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 155-170]

In »Angriff aufs Monopol«, einem der Gründungstexte der deutschen Popästhetik, stellte Rolf Dieter Brinkmann 1969 zwei Forderungen an die Kunst: Sie müsse sich erstens den »gravierenden technologischen Veränderungen« ihrer Zeit stellen; zweitens benötige sie eine »spezifisch zeitgenössische Sensibilität, die sich in ganz anderen Bildern und Vorgängen ausprägt als beispielsweise noch vor zehn oder fünfzehn Jahren« (Brinkmann 1994: 74). Brinkmanns Kriterien markieren exakt die beiden Felder, auf denen Lady Gaga arbeitet. Seine Maßgabe, »sich den technologischen Veränderungen seiner Zeit zu stellen«, bedeutet für Lady Gaga, nicht nur auf eine digitale Musikästhetik zu setzen (I.), sondern auch auf einen digitalisierten Liebes- und Sexualitätsdiskurs. Sie tut dies in einem für die Geschichte der Liebe einschneidenden Moment. Zum einen verlagert sich die Liebe in Form von Partnerbörsen und Emailverkehr derzeit in die virtuelle Welt (Illouz 2011: 408). Zum anderen erweist sich das Internet als »neue Technologie der Vorstellungskraft« (ebd.: 373). Der Bovary-Effekt findet jetzt im Internet statt. Lady Gagas zeitgenössische Sensibilität besteht darin, Bilder und Narrative der Liebe und Sexualität im Netz zu entwerfen. Sie formiert eine intime Kommunikation mit einem (imaginären) Zuschauer, in deren Zuge sie ein eigenes Liebesnarrativ entwickelt. Dass Lady Gaga eine Erzählung entwirft, die alle Videos von ihrem Debüt an bis zu »Born this Way« umfasst, unterscheidet sie von der zu MTV-Zeiten üblichen Clip-Ästhetik, die übergreifende Erzählungen gezielt ausschlug. Ihre Videos geben systematisch Auskunft darüber, wie aus Lady Gagas Sicht heute Intimität zu inszenieren ist. Als Ausgangspunkt ihres Theorienarrativs inszeniert Lady Gaga das Bild einer Frau, die ihre sexuelle Freiheit auslebt. Im Gegensatz zu Madonna betont sie aber auch die Kehrseite dieser Freiheit: Das Ausschlagen der romantischen Liebe zieht eine grundsätzliche Unsicherheit des Subjekts nach sich, die auch durch die Sexualität nicht kompensiert werden kann (II.). Zugleich spinnen die Videos ihren (imaginären) Rezipienten in ein Doppelspiel aus Reflexion und sexueller Verführung ein (III.). Lady Gaga zeigt im Zuge dieser Kommunikation die Aporien sexueller Beziehungen auf, indem sie zunächst die Performativität ihres Geschlechts inszeniert (IV.), um anschließend eine Enterotisierung der Beziehung zu postulieren (V.). Ihre Schlussfolgerung aus ihrer lustvollen Dekonstruktion von Liebesidealen und Sexualität lautet aber nicht, von jeder Form intimer Beziehung abzulassen. Vielmehr versucht sie im virtuellen Raum eine neue, egalitäre Form der Kommunikation zu etablieren – eine eigenständige, gleichwertige Form virtueller Intimität (VI.).

Popmusik im Internet (I.)

Lady Gaga ist die erste international erfolgreiche Musikerin, die (gemeinsam mit ihrer Plattenfirma Interscope Records) konsequent auf das Internet setzte. Sie veröffentlicht, vermarktet und verkauft ihre Musik überwiegend über das Netz. An erster Stelle steht für sie ihre »elektronische Präsenz« (Mitchell 1997: 17). Sie richtet sich primär an eine digitale Öffentlichkeit. Diese Entscheidung für das Internet bildet das Fundament des Phänomens Lady Gaga. Sie markiert die grundlegende Differenz zu allen vorherigen Musikstars.

Die Musik auf das Internet auszurichten, bedeutet aber nicht, alles Vorherige über Bord zu werfen. Wesentliche Bestandteile der Popkultur werden in das neue Medium übertragen. Das zeigt sich am eindrücklichsten darin, dass Musik und Künstlersubjekt gleichwertig im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Popmusik will nicht bloß gehört werden. Diese Anforderung ist bestens mit den neuen technologischen Bedingungen abgestimmt, denn dem Mischmedium PC ist ein Primat der Bilder zu eigen (vgl. Flusser 1995: 263). Dasselbe gilt für alle anderen internetfähigen Endgeräte wie Smartphones oder Tablet-Computer, auf die Lady Gagas digitale Ästhetik ebenfalls ausgerichtet ist. Deshalb erscheint es nur folgerichtig, wenn Lady Gaga stark auf Video-Clips setzt. Sie stellen – wie in Zeiten von MTV – das Verbreitungsmedium Nr. 1 dar. Das Internet erlaubt, andere jederzeit am Bildschirm zu sehen und zu verfolgen, und stiftet dadurch die durchgehende Fiktion tatsächlicher Begegnung. Das ehemalige Marketinginstrument des Video-Clips läuft dem rein akustischen Ereignis ›Musik‹ deshalb (erneut) den Rang ab. Es avanciert zur entscheidenden ästhetischen Form, zum eigentlichen ›Kunstwerk‹ der digitalen Musikästhetik.

Wenn Lady Gaga  auf – die vorübergehend totgesagten – Video-Clips setzt, wiederholt sie aber nicht einfach nur MTV im Netz. Das Netz bietet weitaus bessere Bedingungen für Marketing und Vertrieb, als MTV sie Musikern jemals bieten konnte. Lady Gaga muss sich auf einer Plattform wie YouTube nicht in die MTV-übliche Rotation von mehr als 80 Videos täglich einreihen (Vieregg 2008: 37). Sie erhält kostenfreie Sendezeit mit ›Repeat-1-Möglichkeit‹, kann ihre einzelnen Beiträge verlinken, erreicht im Höchsttempo eine weltweite Öffentlichkeit, muss sich nicht – wie bei MTV seinerzeit üblich – in die künstlerische Konzeption hineinreden lassen und kann, weil Productplacement im Internet dazu gehört, auch noch neue Einnahmequellen ausschöpfen (Smilie 2009). Indem Lady Gaga einen Großteil ihrer Musik über Downloads oder über Anbieter wie Amazon verkauft, erweitert sie nicht nur ihren Kundenkreis, sondern beschleunigt zugleich die Musikverbreitung. Im Netz vereinen sich Marketing und Verkauf (Warnke 2010: 129), und dies unablässig.

Figuration weiblicher Sexualität und Liebe (II.)

Lady Gagas Songtexte erzählen ausnahmslos von Liebe und Sexualität (vgl. Abrahamsson 2011): »Just dance«, »Poker Face«, »Love Game«, »Paparazzi«, »Judas« oder »Yoü and I« stellen die Initiation von Beziehungen dar. »Bad Romance« springt mitten in die Paarbeziehung, Songs wie »Telephone« beleuchten den Moment der Trennung. Den Ausgangspunkt von Lady Gagas Erzählung über die Liebe bildet der Topos der ›sexuellen Frau‹, wie ihn vor ihr unter anderem Madonna inszeniert hat, ihn aber auch R&B und Rap seit Jahren kennen (Baier 2009: 138f.). Das führen eindrücklich bereits die Titel »Poker Face« und »Love Game« vor: In beiden stellt Lady Gaga sich als Frau dar, die das sexuelle Abenteuer sucht. In ihrer Welt gibt es Liebe nur als Spiel und in Form von sexuellem Begehren. Konsequent verkündet die Aussageinstanz in »Love Game«: »I’m educated in sex, yes and now I want it bad«. Damit jedem deutlich wird, dass die sexuelle Freiheit der Frau nicht mit ›Kuschelrock‹ wieder einzukassieren ist, heißt es in »Poker Face«: »And baby when it’s love if it’s not rough it isn’t fun«.

Die Inszenierung dieses Frauentypus will keinen Skandal hervorrufen, die Songs fordern auch keinen Kampf gegen eine aufdringliche Männerwelt heraus. Sie stellen dieses Szenario so dar, als entspreche es schlicht der heutigen Erfahrung. Dennoch richtet sich diese Figuration gegen zwei wirkungsmächtige Gegner. Zum einen streitet Gaga gegen die Mehrheit popkultureller Erzählungen, welche die Sehnsucht nach Liebe als ›weiblich‹ definieren und bis heute die »Feminisierung der Liebe« und die »Maskulinisierung des Sex« (Guth 2010: 74) betreiben. Zum anderen ficht sie gegen das romantische Liebeskonzept selbst. Seit der Erfindung der romantischen Liebe um 1800 hatte die Liebesinitiation in ihrem »Gegenseitigkeitsenthusiasmus […], der keine geschlechtliche Asymmetrie kennt« (Tyrell 1987: 582), der Frau stets Egalität und Autonomie versprochen. Spätestens wenn die Liebe auf Dauer gestellt wurde und in die Ehe mündete, hat dasselbe Liebesmodell dieses Versprechen jedoch nie gehalten – im Verweis auf vermeintlich essenzielle Geschlechtermerkmale, die in der Ehe angeblich wirksam würden. Aus feministischer Sicht entpuppt sich darum das romantische Liebesmodell als ein Machtprinzip, das die männliche Herrschaft manifestiert, indem es perfiderweise der Frau den Wunsch nach Liebe zuschreibt. Diese Bedeutung der romantischen Liebesideale macht Lady Gaga transparent.

Alle Songs studieren ein entromantisiertes Modell ›weiblicher Liebe‹ ein. Dabei unterminiert Lady Gaga eine Reihe Topoi der (trivialen) Populärkultur: War die Sehnsucht nach Liebe feminisiert, so galt die Frau als das Opfer von Störungen in der Liebeskommunikation. Diese Stereotype durchkreuzt Gagas Song »Telephone« ebenso wie die vermeintliche Schwäche der Frau im Umgang mit technischen Geräten. »Telephone« zeigt eine weibliche Aussageinstanz, die sich auf einer Tanzfläche befindet. Der Text besteht aus einem Gespräch mit einem Ex, der sie gerade auf ihrem Handy anruft. Der Rezipient hört allein die Stimme der Frau. Deutlicher kann man kaum markieren, wer in diesem Fall die Herrschaft über die Kommunikation hat. Die Aussageinstanz nutzt gezielt die Störanfälligkeit der Technik, um mit Hilfe einer ausgefeilten Rhetorik eine gestörte Verbindung zu simulieren und so die Liebeskommunikation endgültig zu beenden: »Hello, hello, baby. You called, I can’t hear a thing. I have got no service in the club, you say, say? Wha-Wha-What did you say?« Die Kunst der Störung wendet die Geschlechterzuschreibung ins Komische, torpediert den üblichen Umgang mit Medien und legt die traditionellen Liebesideale noch einmal ad acta. Während der Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung verhungert, befindet sich die Aussageinstanz längst wieder auf der Tanzfläche, hört ihren »Lieblingssong« und schaut sich nach einem neuen sexuellen Abenteuer um. Lady Gaga setzt also die Erzählung weiblicher Souveränität fort, wie sie u.a. Madonna emphatisch gefeiert hat.

Die analytische Stärke von Lady Gagas Ästhetik der Transparenz besteht jedoch darin, dass ihre Texte zugleich den Blick auf die Kehrseite der neu gewonnenen Freiheit richten. Um den im romantischen Denken verwurzelten Zusammenhang zwischen Subjekt- und Liebesdiskurs – seit 1800 fungiert die romantische Liebe als Antidotum zur »Krise des Subjekts« (Fuchs 2003: 14); in der Liebe, so das Ideal, findet der Einzelne seine Sicherheit – wissen Lady Gagas Texte, als Folge der Absage an die Liebe tritt ihre Protagonistin aber zutiefst verunsichert auf. Das Subjekt ist außer Kontrolle geraten. Ohne die Insignien bürgerlicher Existenz taumelt es haltlos über die Tanzfläche. Erst aus dieser Mangelsituation lässt sich das sexuelle Begehren und die Tanzlust der Figuren erklären. Weil es keinen besseren Ort als die Tanzfläche gibt, um das Begehren zu stillen, appelliert Lady Gaga unaufhörlich: »Just dance«, »Let’s have some fun«, »Let’s play« (»Love Game«). Trotzdem bieten Sexualität und Tanz in Lady Gagas Inszenierung keinen dauerhaften Halt. Denn sie müssen – da sie sich im Zuge des Genusses verzehren – immer wieder aufs Neue konsumiert werden. Es bleibt nur die Intensität des Augenblicks selbst, die aber das Wissen um den Absturz zu keiner Zeit vollständig löscht. Daher verharren Lady Gagas Figuren im Status von: »Just dance, gonna be okay, da da doo-doo-mmm«. Doch jeden Moment droht das Subjekt abzustürzen.

Damit schlägt Lady Gaga im Vergleich zu Madonna einen neuen Ton an. Während jene – wie in »Express Yourself« – die weibliche Sexualität feiert, stellt Lady Gaga fest, dass die gewonnene Freiheit der grundsätzlichen Unsicherheit des Subjekts nichts entgegenzusetzen hat. Lady Gaga diskreditiert die Emphase ihrer Vorgängerin und kreidet ihr an, die Kehrseite der errungenen Freiheit ausgeblendet oder sogar wissentlich verschwiegen zu haben. Sie verunsichert also nicht nur diejenigen, die weiterhin an den traditionellen Geschlechterstereotypen festhalten, sondern auch jene, die sie enthusiastisch über Bord geworfen haben. Lady Gaga stellt eine aporetische Situation her: Liebe und Sexualität versagen jede auf ihre Weise, Alternativen gibt es aber nicht. Was bleibt? Intimität zu wagen, ohne die Aporie zu vergessen.

Deshalb tritt Lady Gaga nicht als souveräne Person auf, sondern als Figur, die sich stets am Abgrund der (Selbst-)Erhöhung und -zerstörung bewegt. Dieser Kehrseite räumt Lady Gaga großen ästhetischen Raum ein. Hier hat das Trashige, Monströse, Groteske seinen Platz (Corosna 2011: 8). Das unterscheidet Gaga von Madonna, die zu keiner Zeit aus ihrer jeweiligen Rolle zu fallen droht. Im Sinne dieser Ambivalenz feiern Lady Gagas Texte eine Aufbruchssituation nach der anderen. Allerdings sollte man den Aufbruch keinesfalls mit Fortschritt verwechseln. Den gibt es in Lady Gagas Welt nicht, weil ihre Ästhetik der Transparenz sowohl die Liebesideale enttarnt als auch die daraus resultierenden Gefahren benennt. Das grundlegende Problem dieser Frauenfigur tritt stets dann zutage, wenn in Aussagen wie »You shoulda made some plans with me« (»Telephone«) doch der Wunsch nach Verstetigung aufscheint. Offenbar liebt die Figur ›Lady Gaga‹ nur deshalb so, wie sie liebt, weil es keine Alternative zum romantischen Liebesmodell gibt. Der sexuelle Spaß überdeckt nur für kurze Zeit, dass bis heute keine andere als die aus Sicht der Frau inakzeptable Form der Liebe denkbar ist.

Reziprozität: Sexuelle Schaulust vor dem PC (III.)

Als müsse sie umgehend die logische Konsequenz aus ihrer Inszenierung ziehen, legt Lady Gaga es in ihren folgenden Videos darauf an, dass ihr Liebes- und Sexualitätsmodell die pragmatische Dimension ihrer Clips, also die Kommunikation mit einem imaginären Zuschauer, kontaminiert. Lady Gagas Videos bauen seit »Love Game« die pragmatische Dimension ihrer Songs zur wichtigsten Spielfläche ihrer Inszenierung aus. Die Sängerin integriert ihre Zuschauer in ihre imaginäre Welt und bindet sie direkt in ihre Kommunikation ein. Sie macht sich zunutze, dass ihre Zuhörer zugleich Zuschauer sind. Damit die Kommunikation mit ihrem Betrachter in Gang kommt, spricht, tanzt und sieht sie ihn nicht nur – wie in Video-Clips üblich – direkt an, sondern inszeniert häufig Beobachterszenen. Wenn in »Love Game« eine Gruppe von Männern die Sängerin beobachtet, entspricht dieses Szenario der Vielzahl der Rezipienten vor dem PC, die ihre Blicke auf Lady Gaga richten.

Wie die Rückenfiguren in der romantischen Bildtradition dienen die Beobachter in dieser Sequenz zunächst als Reflexionsfiguren. Ihr Anblick setzt das Nachdenken über die Bedingungen sowie Lady Gagas Schau-Spiel mit ihren Rezipienten in Gang. Denn zugleich werden die männlichen Beobachter dem Zuschauer zur Identifikation angeboten. Die Engführung beruht nicht nur darauf, dass sich in der Szene wie vor dem Bildschirm die Betrachter vollkommen auf die Tänzerin fokussieren. Sie wird durch die Kameraführung verstärkt, die sich in den Kreis der Beobachter einreiht und deren männliche Perspektive einnimmt. Die passiven Beobachter üben stellvertretend den voyeuristischen Blick des Zuschauers ein. In der Tanzszene mag das nur ein Aspekt unter anderen sein, aber letztlich zeigen alle Beobachterszenen bloß Varianten sexueller Schaulust. Die Wiederholung dieser Szenarien schreibt dem (imaginären) Zuschauer eine spezifische Rolle zu. Sie behauptet, der Beobachter vor dem PC starre auf die gleiche Weise auf seinen (Lady Gaga zeigenden) Bildschirm wie der männliche Betrachter aus »Love Game« auf Lady Gaga. Dieser heteronormativen Blickweise (Mann blickt auf Frau) kann sich der Betrachter nicht entziehen, selbst wenn vor dem PC eine Frau sitzt. Für Lady Gagas Videos gilt: So wie sie ihre Umgebung nach sexuellen Abenteuern absucht, so betrachtet auch der Rezipient/die Rezipientin vor dem PC sie, allerdings mit männlich kodiertem Blick. In der Überkreuzung der beiden Ebenen konstituieren Video und Text somit einen zweiten, ebenfalls sexualisierten Blickkontakt. Wer Lady Gagas Video betrachtet, lässt sich unausweichlich auf eine sexuelle Kommunikation ein. Sie bindet den Zuschauer in eine Doppelstruktur ein, indem sie ihm einerseits kritische Distanz (Reflexion) gewährt, ihn andererseits aber in eine sexuelle Kommunikation hineinzieht. Lady Gagas ›sexyness‹ bleibt der Motor der Rezeption.

Für Lady Gaga dient dieses Blickregime als Ausgangspunkt, um ihre Rezipienten – von Video zu Video aufs Neue – in ein Machtspiel zu verstricken. Wie dieses funktioniert, zeigt am eindrücklichsten »Bad Romance«. Dort sitzt eine Gruppe schwarz gekleideter Männer am Ende eines Laufstegs, während weiß gekleidete Frauen auf sie zu tanzen; die Kamera teilt die männliche Perspektive und blickt frontal auf die tanzenden Frauen. Diese Aufnahme erlaubt, die Geschlechterrollen sowie die Blickstruktur routiniert zuzuordnen. Lady Gaga zitiert hier das Schema der phallozentrischen Beobachtersituation, das innerhalb der Kulturwissenschaft längst zu einem Topos geronnen ist. Immerhin kam ihm nicht nur bei Freud, Lacan und zuletzt Žižek, sondern auch in der Gender-, Film-, und Fetischismustheorie eine grundlegende Bedeutung zu. Damit man in keinem Fall verpasst, auf welchem Theorem das Video beruht, stattet Lady Gaga ihre männlichen Beobachter mit Phallussymbolen aus. Die Kamera fokussiert mehrfach übergroße Wodkaflaschen, aus denen sich die Männer genüsslich bedienen. Das Internet ist nicht einfach nur ein Ort des sexuellen wie konsumistischen Begehrens, sondern vermittelt seinen Nutzern in der »Fortsetzung des kinematischen Blicks« den Eindruck, dass er »alles bekommt, was er will« (Angerer 1999: 165). Dieses Omnipotenz-Gefühl suggeriert, man könnte mit Hilfe nur weniger Klicks über alle Informationen und Waren der Welt verfügen. Lady Gagas Video spielt in seiner Inszenierung aus, dass das Internet eine männlich konnotierte, fetischistische Sichtweise auf eine fetischisierte Welt evoziert. Der Eindruck verstärkt sich noch einmal, wenn man bedenkt, dass der Video-Clip seinerseits ja ein Marketinginstrument ist, das Lady Gaga als Produkt anpreist und den Zuschauer dazu bewegen will, diese Ware zu erwerben.

Allerdings spielt Lady Gaga diese Stereotype einer phallozentrischen Weltsicht nur ein, um sie zu subvertieren. Entscheidend ist, dass diese Durchkreuzung inzwischen ebenso routiniert abläuft wie die Etablierung des zu durchkreuzenden Modells. Selbst die Subversion besitzt einen topischen Charakter. Denn Theoretikerinnen wie Butler, Kristeva oder Mulvey haben diese längst durchgespielt – Lady Gaga ahmt die feministische Theorie nach. Obwohl das Ende des Clips also voraussehbar ist, ist die Art dennoch sehenswert, wie die letzte Filmsequenz von »Bad Romance« einen Einblick in das Intimleben des neuen Paares gewährt: Dort liegt Lady Gaga auf dem Ehebett. Die Matratze ist verkohlt, neben ihr liegt ein Skelett, über das sie – ganz fürsorgliche Ehefrau – noch ein paar Funkenfontänen aus ihrem BH sprüht.

Vom Ende her gelesen führt der Video-Clip einen Geschlechterkampf vor, dessen Ergebnis nach Maßgabe der Theorie von vornherein feststand: Die Frau – so scheint es – verfügt über alle Macht, sie hat die Fäden ihrer Selbstdarstellung in der Hand, steuert die Blicke des Begehrens und die filmische Inszenierung. Das Video ersetzt das vermeintliche ›Objekt Frau‹ durch eine Herrscherinnenfigur. Im selben Zuge irritiert Gaga das heteronormative Blickregime, das sie auf der pragmatischen Ebene ihrer Darstellung etabliert hat. Wenn Lady Gaga den russischen Mafioso in »Bad Romance« zur Strecke bringt, erledigt sie gleichzeitig auch jenen (von ihr selbst geschaffenen) Zuschauertypus, welcher den Blick des omnipotenten Einkäufers geteilt hat. Der Rezipient unterliegt ebenso Lady Gagas Macht wie die intradiegetisch auftretenden Figuren. Er ist ein Spielball ihrer Herrschaft; bekommt jetzt aber die Möglichkeit, sich mit Lady Gaga und ihrer Macht zu identifizieren und damit seine Blickweise vom männlichen Register in das weibliche zu wechseln. Die weibliche Perspektive fällt hier mit der des reflektierenden Zuschauers zusammen, der vielleicht von Anfang an das Identifikationsangebot ausgeschlagen hat. Geht man davon aus, dass Lady Gaga von Beginn an eine Machtfigur darstellt, so erscheint ihre Selbstinszenierung als Fetisch in anderem Licht. Lady Gaga nimmt die Rolle des Opfers nur ein, um hinter dieser Maskerade ihre Stärke zu verstecken. Die Verkleidung dient als Lockmittel für den (heteronormativen) Blick, ohne den das subversive »Love Game« nicht in Fahrt kommen würde. Vom Ende aus betrachtet, steht in Lady Gagas Inszenierung nicht das Objekt des Begehrens im Zentrum des Interesses, sondern der Bruch der Begehrensstruktur.

Die in Ambivalenz mündende Inversionsfigur strukturiert alle Videos von Lady Gaga. Man kann sie in immer neuen Varianten und Spielformen beobachten. Besonders eindrücklich, wenn Lady Gaga am Beginn von »Poker Face« als Postfiguration der Aphrodite aus dem Swimmingpool einer Villa steigt. Als »Schaumgeborene« liefert sich die Popsängerin den sexuellen Blicken ihrer Zuschauer aus. Jedoch kodiert sie gleichzeitig, indem sie demonstrativ auf die Selbstreflexivität ihrer Inszenierung hinweist, die topische Darstellung weiblicher Erotik sowie die Bedingungen ihrer Beobachtung um (im Video wird Gaga rechts und links von Hunden flankiert und angeschaut!).

Dieselbe Doppelstrategie setzt sie in Gang, wenn sie sich in pornografischen Gesten vor den Augen ihrer Betrachter räkelt. Sie reizt ihr Spiel der Fetischisierung so weit aus, dass sie die Reziprozität der Blicke aufhebt, indem sie ihre Augen mit Hilfe von Masken verdeckt. Auch diese Inszenierung dient letztlich nur dazu, nach Beendigung der Maskerade in großformatiger Aufnahme dem Betrachter vor dem PC direkt in die Augen zu schauen. Das angestarrte Objekt starrt zurück. Wobei Lady Gaga zugleich die Rezeptionsbedingungen ihres Gegenübers reflektiert, indem sie ihre Hand wie die Linse einer Kamera um ihr Auge legt. Das Schema bleibt stets dasselbe, selbst dann, wenn Gaga ihren Zuschauern nicht nur sich selbst, sondern auch unterschiedlichste Waren als Objekt der Begierde anbietet. Die Waren sollen das konsumistische Begehren in Gang setzen, behaupten aber die Aura der Herrschaft über den potenziellen Käufer. Sie versetzen den Zuschauer in jene Situation der Ambivalenz, des Begehrens und der Reflexion, in das sich Lady Gagas Spiel mit dem Fetischismus einnistet.

An dieser Stelle zeigt sich ein weiterer Unterschied zu Madonnas Inszenierung. Selbst wenn diese wie im ›drag dance‹ von »Express Yourself« die Artifizialität der Genderkonstruktionen und deren Komplexität ausstellt (Schwichtenberg 1993: 134ff.) oder in den Bettszenen von »Justify my Love« queeres Begehren inszeniert (ebd.: 137), bleibt bei ihr der »heterosexuelle Blick« doch immer möglich (Diederichsen 2010). Deutlich zu erkennen ist dies an der Männerfigur, die Madonnas Liebesspiel mit einer Frau aus nächster Nähe beobachtet (Schwichtenberg 1993: 140). Lady Gaga hingegen durchkreuzt radikal das heterosexuelle Begehren und erteilt ihm eine deutliche Absage. Ein zweiter Unterschied zu ihren Vorgängern kommt hinzu. Den Schlusspunkt der Inszenierung bildet keineswegs eindeutig die weibliche Herrschaft und Souveränität. Das Geschehen geht nicht spurlos an Lady Gaga vorbei. Wenn sie sich auf dem Bett präsentiert, dann nicht als strahlende Schönheit, welche ihre Macht lustvoll genießt. Man sieht sie vielmehr als einsame, in der Leere des Schlafzimmers verlorene Figur. Während Madonna in »Justify my Love« äußerst gut gelaunt den Ort des Liebesspiels wieder verlässt, bleibt Lady Gaga in der Ambivalenz von Abhängigkeit und Freiheit gefangen am Schauplatz des Geschehens zurück. In Lady Gagas Fall ist also nichts gewonnen, was sich feiern ließe. Da Lady Gaga aber bis zu diesem Punkt streng nach den Vorgaben von Judith Butlers Gendertheorie vorgegangen ist, könnte man mit Butler davon sprechen, dass die Sängerin die ›Theorie der Parodie‹ ihrerseits parodiert. Allerdings verwendet sie die Form des Pastiche, die sich dadurch auszeichnet, dass sie das Lachen der Parodie verloren hat (Salih 2004: 113). Lady Gagas Inszenierung verlacht die Theorien und ihre Inszenierungen nicht, aber sie lotet ihre Grenzen aus.

Das Spiel mit dem Sexus (IV.)

Lady Gaga forciert ihr Machtspiel mit den sexuellen Blicken ihrer Betrachter, indem sie dazu übergeht, die Performativität ihres eigenen Geschlechts zu inszenieren und die heteronormativen Begehrensstrukturen zu sprengen. Lady Gagas Videos bedienen sich weiterhin des Materials, das sie (unter anderem) in Madonnas Videos und in Judith Butlers Theorien vorfinden. Wichtiger als diese Adaption selbst ist, dass die Konstruktion der Geschlechtszugehörigkeit kein isolierter Aspekt bleibt. Sie fügt sich in das Machtspiel der sexualisierten Blicke ein. Das geschieht zunächst, indem Lady Gaga ihre Strategie der wiederholten Subversion fortsetzt. Wie Judith Butler auf dem Feld der Theorie, so vertraut Lady Gaga darauf, dass Repetition – Butler nennt diese im Anschluss an Derrida späterhin »reiteration« – jene Instabilitäten erzeugt, welche die traditionellen Ordnungsstrukturen unterminieren (Butler 1997: 331). Lady Gagas neue Facette ihrer Selbstinszenierung setzt damit ein, dass sie sich als omnipotente Herrscherin ihrer Welt mehr und mehr phallische Symbole aneignet. Das bekannteste Beispiel hierfür ist wohl ihr »disco stick« aus »Love Game«. Ihr wiederholter Bruch mit den weiblichen Stereotypen sorgt dafür, dass sie alle jene »Wirkungen aufhebt, von denen das ›biologische Geschlecht‹ stabilisiert wird« (Stauffer 2008: 213). Narkotisiert sie die essenzialistische Begründung des Geschlechts bei ihren Auftritten, verbreitet sich gleichzeitig im Frühjahr 2009 das Gerücht, sie sei ein Zwitter. Das führt zur Frage, ob Lady Gaga qua ihres eigenen Körpers die Ordnungen des Begehrens durchkreuzt – gefeiert als »the great leveller«, »who appeals equally to both camps« (Henderson 1993: 121). Lady Gaga inszeniert sich so, als würde sie das Queere nicht nur in die Kultur einschleusen, ohne selbst davon berührt zu sein. Bis zu »Born this way« inszeniert sie die Drag-Performance nicht nur als Maske, die man souverän auf- und absetzen kann, sondern als Teil ihres Körpers.

Das Machtspiel mit dem Zuschauer vor dem PC erreicht seinen Kulminationspunkt in dem Moment, als Lady Gaga in »Telephone« am Gefängnisgitter ihrer Zelle steht. Aus dessen Perspektive rekurriert diese Szene auf die durchaus pornografische Bildtradition der »Baubo«, die Darstellung des nackten Geschlechts (Gsell 2001). Die Aufnahme verspricht, die Gerüchte durch Tatsachen zu ersetzen (Horn 2010): Der Kamerablick fokussiert sich derart auf das Geschlecht, dass er Lady Gaga sogar den Kopf abschneidet. Um einen objektiven Blick zu simulieren, imitiert er die Aufnahme einer Überwachungskamera. Aber das Bild löst das Versprechen, Lady Gaga nackt zu sehen, nicht ein. Der Blick auf das Geschlecht bleibt absichtlich versperrt, als müsste man ihn im Sinne der Zensur unkenntlich machen. Für den Betrachter entzieht sich das Geschlecht (Vagina und/oder Penis) den Blicken. Stattdessen inszeniert das Bild das ›symbolische‹, das kodifizierte Geschlecht. Die Szene ist explizit nicht sexus- oder penis-, sondern phalluszentriert. Damit fügt sie die Performanz der Geschlechtszugehörigkeit zum Repertoire von Lady Gagas Spiel- und Machtformen hinzu. Das ironische Spiel der Verweise setzt umgehend ein. Denn der Video-Clip schaltet direkt im Anschluss das Urteil zweier Augenzeuginnen ein, auf deren Urteil der Zuschauer angewiesen ist. Die Szene konnotiert den Blick der Macht jetzt weiblich und als Bestandteil homosexuellen Begehrens; später sieht man eine der Wärterinnen in einer Partnerbörse für lesbische Frauen surfen. Nach einem prüfenden Blick sagt die eine Wärterin in einer auffällig tiefen Stimme zur anderen: »I told you, she doesn’t have a dick«. Die zweite antwortet »I’m sorry«, wobei die Kamera ihren Gummiknüppel an ihrer Seite als ein weiteres Phallussymbol zeigt. Ob Lady Gaga ein Zwitter ist, bleibt offen. Dass sie über die Rede herrscht, die hier als ›weiblicher Phallus‹ in Szene gesetzt wird, beweist die Darstellung dafür umso eindrücklicher (vgl. Nyong’o 2010).

Enterotisierung der Beziehung (V.)

Hat Lady Gaga kein sicher bestimmbares Geschlecht mehr, so entzieht sie sich zugleich jeder Norm des Begehrens. Um beides zu markieren, dient ihr u.a. auch ihre Mode. Sie schmückt sich nicht, weil sie ihre Bestimmung als sexuelles Objekt hingenommen hat, sondern um die Stabilität der Geschlechter zu unterlaufen und Widersprüche und Paradoxien zu provozieren. Für den sexualisierten Blick des Zuschauers hat dies weitreichende Folgen. Für ihn sind nicht nur die Bilder von Lady Gaga, die er nicht ›real‹ kennt, von ihrem Körper entkoppelt. Der ständige Tausch der Rollenvorbilder und Identifikationsmuster, die er sich zu eigen macht, führt sogar dazu, dass sich die Bilder seiner Einbildungskraft von seinem eigenen Körper lösen. In der Beziehung mit Lady Gaga wechselt der Zuschauer ständig sein Geschlecht. Diese Figuration einer Beziehung entspricht exakt der intimen Kommunikation, wie sie Eva Illouz  (2011: 413f.) allgemein für das Internet und seine Partnerbörsen beschreibt. Man kann Lady Gagas Inszenierung als Appell lesen, die sexuelle Lust komplett auf das Internet zu kaprizieren, weil sich dort Spielflächen und -möglichkeiten eröffnen, die weit über die realen Einschränkungen durch den eigenen Körper hinausreichen. In »Born this way« findet Lady Gagas Inszenierung in einer hyperbolischen Ausstellung des ›Natürlichen‹ ihren Höhepunkt. Man könnte Lady Gagas Darstellung einer ›Weltgeburtsszene‹ mit dem Titel von Marcia Ians Buch überschreiben: »Remembering the Phallic Mother«. Lady Gaga setzt das Phantasma der phallischen Mutter in Szene. Sie beleuchtet, was Lacan und Freud aus dem Fokus geriet:

»Vergessen wird die ursprüngliche Bisexualität, die gerade auch im Fetischismus in verwandelter Form reinszeniert wird. Vergessen wird auch, dass im archaischen Bild der Mutter, das von beiden Geschlechtern entwickelt wird, die Signifikanz des Phallischen, nämlich Macht und Integrität, gerade nicht androzentrisch, sondern maternal phantasiert wird. Die Mutter ist der gefürchtete, verkannte und geheimnisvolle Fetisch beider Geschlechter.« (Böhme 2006: 459)

In der ersten Sequenz der offiziellen Version des Videos gebiert Lady Gaga als »Mother Monster« ihre eigene Welt. Sie stellt sich damit in die Nachfolge von Hesiods »Theogonie«. Als »Mutter Natur« verfügt sie in ihrem Schöpfungsmythos sowohl über alle Herrschaft als auch über beide Geschlechter. »I’m born this way« lässt sich in diesem Kontext als Bekenntnis zur totalen ›Queerness‹ lesen. Ihr inszenierter Körper widersetzt sich jeder normativen Zuschreibung durch die Geschlechterrollen. Lady Gaga entledigt sich der Gefangenschaft in dieser Rolle und flieht das Gefängnis ihres eigenen Körpers. Sie entwirft eine Welt, in der das ›natürliche Geschlecht‹ keine Rolle mehr spielt. Sie zeichnet das Bild einer postgender und somit auch postfeministischen Zeit.

Allerdings lässt man, wenn man Lady Gagas Inszenierung als Hymnus für ein sexuelles ›Alles ist möglich‹ liest, einen wesentlichen Aspekt ihrer Ästhetik unter den Tisch fallen und unterschlägt, dass diese Inszenierung innerhalb des durch alle Videos errichteten Blickregimes stattfindet. Dieser Eindruck verstärkt sich durch die Artifizialität, mit der Lady Gaga den Ursprung (archè) setzt. Das Narrativ, das den Ausgangs- und Anfangspunkt von Lady Gagas inszenatorischem Universum als ›natürlich‹ legitimieren soll, weist ironisch distanziert auf die eigene Künstlichkeit hin. Denn die Namensgebung »Mother-Monster« stammt von Lady Gagas Fans. Die Mutter wird in diesem Fall durch ihre Kinder gezeugt. Lady Gaga wird durch einen widernatürlichen, quasi monströsen Geburtsakt zur Mutter ihrer »Little Monsters«. Wenn man unterstellt, dass der seinerseits ›entkörperte‹, ›monströse‹ Rezipient weiterhin einen sexualisierten Blick auf Lady Gaga wirft, dann evoziert der Video-Clip das Bild einer äußerst befremdlichen Beziehung, die jenseits normativer Ordnungen und Vorstellungen abläuft. Das Monströse, das Lady Gaga in ihrer Vorliebe für das Groteske, Geschmacklose, Trashige und Exzentrische bis hin zur Verkleidung als Teekanne ausbuchstabiert, fungiert hier als Metapher, dass dem sexuellen Blick unausweichlich etwas Projektives, dem Gegenüber Fremdes anhaftet. Ohne die sexuelle Beziehung zwischen Zuschauer und Protagonistin käme zwar die Subversion der Topoi überhaupt nicht in Gang – in diesem Sinne fungiert die Sexualität als das Movens von Gagas Inszenierung –, aber diese zielt darauf ab, sich von der Sexualität zu lösen. Erste Ansätze hierfür sind bereits in »Poker Face« angelegt. Wenn Lady Gaga dort – kaum ist sie aus den Wellen des Pools entstiegen – in der Umkehr des Pygmalion-Mythos zur Statue versteinert, dann sorgt ihre Leblosigkeit für eine Enterotisierung. Diese Strategie des Entzugs prägt ebenfalls Lady Gagas Auftritte als eine Art Modeskulptur, die nur noch als abstrakte Form im Raum steht. Auch in ihrer Vorliebe für verletzte, verstümmelte, versehrte, vollkommen in Verbände eingehüllte oder verdinglichte Körper findet dies Ausdruck. Lady Gagas Inszenierung läuft auf eine Entsexualisierung und Enterotisierung hinaus.

Das Phantasma einer kommunikativen Anerkennung (VI.)

Lady Gaga provoziert jenseits all ihrer ›Verkleidungen‹ unablässig die Frage nach ihrer Authentizität. Diese hofft der Rezipient vor allem außerhalb der Videos und der künstlerischen Inszenierung zu finden. Indem Lady Gaga Interviews, politischen Auftritten, Show-Besuchen etc. ein besonderes Gewicht gibt, indem sie also die Trennung zwischen Paratext und Text, zwischen Künstlerin und Kunstwerk aufhebt, evoziert sie ständig die Frage, wer sie wirklich ist. Das ist dezidiert etwas anderes, als wissen zu wollen, wie sie nackt aussieht. Das Problem, wer sich hinter der wahrnehmbaren Oberfläche einer Person verbirgt, zeichnet besonders die Kommunikation innerhalb der individualisierten Liebe aus. Den Liebenden präsentiert sich nämlich nichts anderes als Oberfläche. Sie müssen aber erkennen, wer ihr Gegenüber wirklich ist; was er in den jeweiligen Situationen denkt und fühlt. Wer sich mit Lady Gaga auseinandersetzt, dem oktroyiert sie exakt einen solchen Deutungsprozess auf, den manövriert sie in die Rolle des individuell Liebenden. Konfrontiert mit Lady Gagas exzessiver Inszenierung von Oberflächen, versucht der Zuschauer wie ein Liebender die Äußerungen des Gegenübers auf dessen Inneres zu verrechnen. Diese Rollenzuschreibung verstärkt sich noch durch die Funktionsweise des Internets, weil sich die Kommunikation per PC in die Intimsphäre des Users einfügt und den Eindruck vermittelt, er dringe in das Private der Künstlerin ein. Das Netz evoziert persönliche Nähe, es verursacht eine räumliche Implosion und offeriert, in kurzer Zeit »alles über den anderen wissen zu können« (Beck 1999: 244, 252f.).

Lady Gaga schreibt ihrem Leser die Position des Liebenden aber nicht zu, weil sie tatsächlich auf Authentizität aus wäre, sondern weil sie das »Ausloten des Unauslotbaren« (Fuchs 2003: 38) lustvoll in Szene setzt. Sie etabliert die Liebeskommunikation als Modell einer unendlichen, stets aufgeschobenen Annäherungsbewegung (vgl. Luhmann 1986: 178). Die Sängerin funktionalisiert ihre ›Autobiografie‹ konsequent als Rollenmodell, um ihre Person aus den disparatesten Einheiten wie eine Bastelbiografie zusammenzusetzen. Dabei entzieht sie sich ihren Fans nicht nur, sondern gibt unter dem Hinweis, dass sie das ja nie selbst sei, hochgradig Intimes und Privates von sich preis. Auf diese Weise erzeugt sie eine neue, virtuelle Form der Beziehung zwischen Star und Fan. Zeichneten sich Stars vormals dadurch aus, dass sie weit weg sind, aber dennoch sehr hell leuchten, so unternimmt Lady Gaga große Anstrengungen, nicht mehr aus der Ferne einer anderen Welt zu leuchten. Sie markiert, dass sie die Schwierigkeiten, Gefahren, aber auch Möglichkeiten mit ihren Fans teilt. Statt sich auf eine Idealisierung durch Distanz zurückzuziehen, versucht sie das Phantasma von Egalität und Nähe zu ihren Fans zu gestalten. Ohne die Distanz letztgültig zu überwinden, legt sie es mit Hilfe von Interaktivität gezielt auf ein intimes Gespräch mit ihren Rezipienten an.

Wie weit Lady Gaga dieses Modell ausbuchstabiert, erkennt man daran, dass sie über die Videos hinaus ihre intime Kommunikation mit ihrem Zuschauer per Facebook und Twitter forciert. Noch heute behauptet ihr Manager, er verfüge nicht über ihr Twitter-Passwort, sie versende jede ihrer Nachrichten selbst. Gerade die Kommunikation per Twitter erzeugt mit ihrer Erlebnisrhetorik, die stets postuliert ›Ich erlebe gerade jetzt und lasse dich persönlich und unmittelbar teilhaben‹, einen hohen Grad der Intimität. Gaga suggeriert ihren Fans, sie bilde mit ihnen eine Schicksalsgemeinschaft, in der man sich über das Ende der Liebesideale und der Sexualität nichts vorzumachen habe, die Aporien der Sexualität und Liebesbeziehung kenne und im Wissen um die Grenzen beider Konzepte vertraulich miteinander kommuniziere. Dieses Phantasma reziproker Anerkennung folgt dem Muster einer romantischen Liebesbeziehung (vgl. Honneth 1994: 153f.). Die Beziehung zwischen Lady Gaga und ihren Fans ist zwar nicht eine solche Liebesbeziehung, aber sie pflegt die Fiktion, eine solche zu sein.

Dabei fordert Lady Gaga ihren Fans Wertschätzung ab. Ihre Leitmetapher »Ruhm« ist alles andere als zufällig exakt jene Kategorie der Aufmerksamkeitsökonomie, die auf der Anerkennung außerordentlicher Leistungen beruht (vgl. Franck 1999). Anerkennung lässt umgekehrt ebenfalls Lady Gaga ihren Fans zukommen. Lady Gaga deutet die Aussagen ihrer Zuschauer via YouTube, Fanseiten, Blog etc. und richtet sich teilweise nach ihnen. Eindrücklich hat das bereits ihre Taufe als »Mother-Monster« gezeigt, mit der Lady Gaga die Idee ihrer Fans bis hin zur »Monster-Ball«-Tour ausweitete. Wenn Lady Gaga in »Born this way« singt: »My mother told me when I was young / We are all born superstars«, schließt dieses Szenario gezielt die Kommunikation zwischen »Mother Monster« und »Little Monster« ein. Die Beuys’sche Maxime des »Jeder ist ein Künstler«, die Lady Gaga verbreitet, führt gemeinsam mit der Internettechnologie – die es äußerst einfach macht, selbst zu Tastatur, Kamera oder Aufnahmegerät zu greifen – dazu, dass so viele Gaga-Fans ihrerseits Musik ins Netz stellen. Konsequent wiederum erweckt Lady Gaga den Anschein, sie rezipiere diese Werke, beglaubigt durch prominente Beispiele wie den zwölfjährigen Greyson Chance, der in einer Talentshow eine eigene Version von »Paparazzi« darbot und, von Lady Gaga auf Facebook empfohlen, inzwischen selbst über Millionen Klicks und ein eigenes Album verfügt.

Die Wirkkraft dieser (imaginierten) intimen Beziehungen ist nicht zu unterschätzen. Eva Illouz hat eindrücklich gezeigt, dass derartige virtuelle Kommunikation »fiktionale Gefühle« erzeugt und den Status eines »selbstzweckhaften Tun[s]« erreicht hat (2011: 417). Einzig gespeist aus fiktionalem Material und technologischen Artefakten, ist diese Form der eingebildeten, intimen Kommunikation »undurchlässig gegenüber der Interaktion im wirklichen Leben« (ebd.: 422). Lady Gaga baut eine virtuelle Intimbeziehung mit ihren Zuschauern auf, die keine Verankerung im ›realen Leben‹ mehr benötigt. Der Beobachter vor dem PC schaut bei ihrem lustvoll gefährlichen Seiltanz zu, ohne selbst den Drahtseilakt riskieren zu müssen. Das ist ihm Genuss genug. Zugleich gibt Lady Gaga die theoretisch versierten, exzentrischen, spielerischen Inszenierungsmuster vor, die als Vorbild für die eigenen Inszenierungen des digitalen Selbst z.B. in Partnerbörsen fungieren. Lady Gagas Appell lautet, sich in Sachen Liebe und Sexualität auf die virtuelle Welt zu beschränken. Sie erlaubt der intimen Kommunikation weitaus mehr Spielraum und hebt zudem den Schmerz, den die aporetischen Konzepte erzeugen, spielerisch auf. Nicht zuletzt bietet Lady Gaga ihrem Zuschauer eine eigenständige virtuelle Beziehung an, die – wenn sie die anderen Beziehungen nicht ersetzen – zumindest parallel zu diesen verlaufen soll.

 

Literatur

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