›If I Die on Facebook‹
von Ramón Reichert
10.8.2024

Social-Media-Gedenkstätten

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 75-80]

»If I Die« ist der Name einer neuen Application Software, die es Facebook-Nutzern ermöglichen soll, nach ihrem Tod eine letzte Nachricht für die Freunde zu veröffentlichen. Stirbt der Nutzer und wird der Tod von sogenannten Trustees bestätigt, kann ein Abschiedsvideo und eine Textnachricht auf der Facebook-Timeline des Verstorbenen gepostet werden.

Gemeinsam mit einem Team aus Investoren, Psychologen und Pädagogen hat die israelische Webentwicklungsfirma Willook mit diesem Programm einen neuen Standard für die digitale Trauerkultur im Social Net gesetzt. In ihrem gleichnamigen Promotionvideo propagieren die Hersteller, den Tod als einmalige Chance zu sehen, um eine Wahrheit auszusprechen, die im Leben stets unausgesprochen blieb. Mit dieser Marketingstrategie versuchen sie, das Video mit einer Wahrheit aufzuladen, für die sich der Verstorbene nie mehr wird rechtfertigen müssen.

So gesehen partizipiert das von Willook entwickelte Imageprodukt in zweierlei Hinsicht an der kommunikativen Kultur der Sozialen Netzwerkseiten. Erstens ist das Videoformat »If I Die« an die Freunde adressiert, für die sich der Sterbende im Selbstentwurf in Szene setzt; und zweitens ist diese letzte Selbststilisierung in der Trauerbewältigung dem im Web 2.0 geltenden Medienhype um kulturelle Echtheitserfahrungen geschuldet.

In der von Geständnis- und Bekenntnisproduktion dominierten Peergroup-Kommunikation der Sozialen Medien überschreitet der Tod nur dann die Wahrnehmungsschwelle, wenn er im Rahmen authentischer Darstellungsästhetik vermittelt wird. Wahrnehmbar wird er, wenn er als ›echt‹, ›unverstellt‹ und ›spontan‹ in Szene gesetzt wird. Auf Freundschaftsnetzwerken, Internetforen und Gedenkseiten ist eine neuartige kollektive Praxis der Trauerkultur entstanden, die dazu geführt hat, dass die im Social Net vorherrschende Aufwertung authentischer Selbstdarstellung das text- und bildbezogene Handeln bei der Thematisierung von Sterbe- und Toderfahrungen überformt. Damit einhergehend verschiebt sich in den Kommunikationsräumen der Peer-to-Peer-Netzwerke auch die Repräsentationskultur des Todes.

Gedächtnisseiten für Online-Existenzen

Am 19. Jänner 2012 ging folgende Eilmeldung um die Welt: »Neun Tage nach ihrem schweren Trainingssturz ist Sarah Burke, die Ikone des Ski-Freestyle, in einer Klinik in Salt Lake City gestorben.« Kurz darauf gingen tausende Kondolenz-Nachrichten auf der Facebook-Seite des kanadischen Sportidols ein. Viele Menschen begrüßen es, dass verstorbene Bekannte nicht einfach aus der Netzwelt verschwinden. Darum arbeiten seit längerer Zeit die verschiedenen Community-Webseiten an Verfahren, die Benutzer nach ihrem Tod auf einer eigens für verstorbene Benutzer eingerichteten Internetseite zu verewigen. Facebook bietet mittlerweile an, Nutzerprofile in Gedächtnisseiten umwandeln zu lassen. Neben dem üblichen Kondolenzbuch enthält die Seite die Möglichkeit, Kommentare, Fotos und Videos zu hinterlassen.

Dieses Beispiel mag verdeutlichen, dass sich die kulturelle Praxis von Trauer, Tod und Sterben mit dem Internet maßgeblich verändert hat. In ihrem 1999 in der »Zeitschrift für Volkskunde« veröffentlichten Aufsatz »Virtuelle Friedhöfe« arbeiten Gudrun Schwibbe und Ira Spieker heraus, dass »virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes die private und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Tod in eine neue Beziehung zueinander setzen und daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungs- und Trauerkultur darstellen«. Die digitale Kommunikation im Netz führt mit der Prozessdynamik der Sozialen Medien zu einer neuen Sichtbarmachung des Todes. Mit dieser Gegenwartsdiagnose ist die Frage verbunden, wie sich die kulturellen Vorstellungen über den menschlichen Tod durch die Spezifik der Sozialen Medien verändert haben. Facebook etwa reagierte auf diesen neuen Trend und bietet heute einen Memorial-Service für verstorbene Online-Existenzen an. Sobald eine Todesmeldung von den Trustees beglaubigt wurde, bekommt der Tote eine Memorial-Page, auf der sich Freunde austauschen können.

Mittels der Memorial-Seiten bei Facebook kann die Trauerbewältigung und die Gedenkkultur auch zum Zielpunkt kommerzieller Bewirtschaftung werden. Mit dem Like-Button als Datensammler wird der Erweis der mitmenschlichen Anteilnahme, des Beileides oder des Mit-Trauerns zur Datenquelle für Facebook. Jedes Mal, wenn Nutzer kondolieren, wird Facebook per Cookie und IP-Adresse darüber informiert. In ihrer (kostenlosen) Trauerarbeit leisten die Nutzer Sozialer Netzwerke doppelte Arbeit bei der Produktion von Informationsgütern: Sie produzieren einerseits den Inhalt und generieren damit auch Marktforschungsdaten – über sich selbst und ihre Freunde.

Kostenlose Trauerarbeit

Mit der Investition des E-Commerce-Business in den Bereich der Sozialen Netzwerkseiten wurde die Trauer- und Gedenkkultur zum Gegenstand zahlreicher Dienstleistungsangebote. Die ersten Internet-Friedhöfe entstanden Anfang der 1990er Jahre in den USA. Dort gibt es heute über 100.000 Friedhofsportale und einschlägige Gedenkseiten. In ihrer Trauerarbeit stellen die Nutzer unterschiedlichste Dienstleistungen und Medienformate in Form von Filmen, Nachrichten, Magazinen und Musik-CDs zur Verfügung, die nicht mehr mit Geld bezahlt werden müssen: Entlang der Gratisökonomie des Netzes leistet die Nutzerbasis kostenlose Trauerarbeit und generiert kollektiven Trauerwert. Diese im Trauerbekenntnis enthaltene Strategie des Wertgenerierens vermehrt den Unternehmens- und Börsenwert von Communityseiten wie Facebook. So firmieren auch die Narrative des Sterbens und der Todeserfahrung als potenzielle Reklameflächen. Die Trauerarbeit wird zum Reklameträger, die Werbung glaubwürdiger und auch statistisch auswertbar macht. Diese Ökonomisierung des Todes im Netz stiftete weniger eine befreiende Sichtbarmachung eines lange unterdrückten Todeskultes, sondern hat heute neue strukturelle Zwänge entstehen lassen, die um das Erinnern und das Erinnert-Werden des Todes kreisen. Diese strukturellen Zwänge haben sich in das Innere der Software-Tools verlagert. Sie bieten den Trauernden weniger einen guten Abschluss der Trauerverarbeitung an, sondern sind daran interessiert, die Trauer auf den Seiten möglichst lebendig und aktiv aufrecht zu erhalten. Eine aktive Trauer-Community ist entstanden, die sich regelmäßig im Dialog mit den Toten untereinander austauscht und dadurch den Webtraffic der Gedenkportale steigert. In diesem folgt die aktive Trauerbeteiligung der Logik eines Geschäftsmodells. Auf der anderen Seite etabliert die kommerzielle Förderung der kontinuierlichen Trauerarbeit eine neue kulturelle Praxis des kollektiven Gedenkens.

Thanatografie 2.0

Seit den 1990er Jahren haben sich Gedenseiten, meistens in Form von Online-Friedhöfen, in stets steigender Zahl im Web durchsetzen können. Während das Thema der virtuellen Internetfriedhöfe in Deutschland überwiegend die Medien beschäftigt, boomen in den Vereinigten Staaten die virtuellen Schauplätze des Erinnerns und Gedenkens. Ein virtueller Friedhof bietet einen Ort des Erinnerns für die Toten, und für die Hinterbliebenen stellt er einen Raum für Trauer und Erinnerung zur Verfügung. In seiner Selbstbeschreibung stilisiert er sich als ein immaterieller Ort, der von Raum und Zeit losgelöst ist, ähnelt jedoch in seiner ikonografischen Darstellung oft den Epitaphien mittelalterlicher Bestattungsorte. Das text- und bildbezogene Handeln auf den Gedenkseiten etabliert aber eine vollkommen neue Medialisierung der Trauerkultur. Die Entstehung virtueller Friedhöfe ist als ein Teil der generellen Entwicklung im Internet anzusehen, wo Menschen das früher der privaten Sphäre Zugehörige jetzt in den Sozialen Medien des Web 2.0 veröffentlichen und dort auch verhandeln. Die digitalen Grabfelder repräsentieren heute umfassende Datenbanken von tausenden Einträgen, die teilweise bis mehrere tausend Nachrufe auf verstorbene Personen enthalten. In einem »Gästebuch« können Fremde Gedanken und Eindrücke äußern. Die Online-Gräber können sie sich vermittels unterschiedlicher Suchfunktionen erschließen. Tote können von ihnen nach unterschiedlichen soziodemografischen Daten ausgewählt werden. So können in den Datenräumen der Online-Gedenkseiten auch unangemeldete User/innen zwischen mehreren tausend Einträgen navigieren. In Anlehnung an das Anzünden einer Kerze steht es ihnen frei, virtuelle »Candles« am Cyberfriedhof zu hinterlassen, durch ein Fotoalbum verstorbener Online-Existenzen zu browsen und sich in das öffentliche Kondolenzbuch einzutragen. Die Verfügbarkeit von persönlichen Daten und Informationen hat aber auch zur Plünderung toter Profilseiten geführt, die als Versatzstücke der Remix- und Mashup-Culture einverleibt werden und dann etwa auf YouTube in Videocollagen auftauchen.

Abhängig vom Anbieter des virtuellen Friedhofs können »Memorials« über die Verstorbenen, die z.B. aus einer umfassenden Biografie, aus Fotos, Abbildungen, Musik und einem Video bestehen können, erstellt werden. In der Regel fehlt eine Grabsteinschrift und eine Todesanzeige. An ihre Stelle rückt die im Social Net weit verbreitete Bildkultur, das Individuum mit Hilfe eines aussagekräftigen Porträtfotos darzustellen. In diesem Sinne kann ein Online-Memorial als eine mediale Reinszenierung des Lebens eines Verstorbenen aus der subjektiven Sicht der Hinterbliebenen angesehen werden. Indem die Hinterbliebenen bestimmen, welche Aspekte der Biografie ausgewählt und öffentlich zugänglich gemacht werden, fließen Momente der Selbstdarstellung in die virtuelle Thanatografie ein.

Eine Erinnerung an den Toten als Lebenden

In Anlehnung an den bürgerlichen Grabmalkult des 19. Jahrhunderts versuchen die virtuellen Gedenkstätten, den Tod zu überwinden, indem sie ihn in der Feier der diesseitigen Erfolge und der dauerhaften Erinnerung verewigen. Bei allem Wandel der digitalen Gedenkkultur im Web 2.0: Auffallend ist die gesellschaftliche Praxis, dem Tod etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen. Dieses Dauerhafte wird in der Trauer-Community im Leben des Verstorbenen gesucht. In den von den Hinterbliebenen verfassten Lebensgeschichten erhält der Tote eine biografische Kontextualisierung, mit der ein nachträglicher Distinktionsgewinn erzielt werden kann. Für die Distinktionsarbeit am Tod stehen auf Gedenkseiten bestimmte Slot-Filler-Korrelationen zur Verfügung, die den Verstorbenen in einer Timeline nach Wohnort, Beruf, Hobby, Reisen etc. klassifizieren.

Demzufolge bleiben die Unterschiede zwischen den Internet-Gedenkstätten und den traditionellen Orten von Tod und Trauer grundlegend. Auf den Friedhöfen und ihren Grabstätten ist der Tod nach wie vor ein materieller Sachbestand – und sei es als Leichnam in eingeäscherter Form. Bei den Internet-Gedenkstätten hingegen spielt der tote Körper keinerlei Rolle – es bleibt ohne Bedeutung, wo die eigentliche Bestattung geschah. Das Internet ist somit ein ›entkörperlichter‹ Ort von Trauer und Gedächtnis. Zugleich ist dieser virtuelle Gedächtnisort stets veränderbar. Im Gegensatz zu den steinernen Grabmälern der Friedhöfe kann er den wechselnden Stadien von Trauer, Verlustbewältigung und Erinnerung immer wieder neu angepasst werden. Der entscheidende Punkt ist, dass die digitale Trauerkultur sich am Mediengebrauch des Social Net orientiert. Die in den ›Favoriten‹ abgelegte Trauerseite ist jederzeit erreichbar und von allen Orten zugänglich. Diese einfache und rasche Verfügbarkeit eines Ortes, an dem man eines Toten gedenken kann, hat zur Veralltäglichung der Trauerarbeit geführt. Der Ort des Gedenkens ist nicht nur jederzeit zugänglich und erreichbar, er stellt auch keinen Rand und kein Außen mehr dar, das sich in einem bestimmten Distanzverhältnis zur privat-häuslichen Sphäre der Trauernden situieren würde. Die rasche Verfügbarkeit hat zur Etablierung von Trauertagebüchern, Online-Diaries der Trauer geführt, in welchen Trauernde tägliche Emails mit den Toten unterhalten. Hier firmiert der Tote nur noch als ein temporär Abwesender und kann als Dialogpartner jederzeit technisch aufgerufen werden. Tote werden im Social Net adressierbar. Die verbraucherfreundlichen Tools der Social Media simulieren eine kommunikative Beziehung mit den Toten und verwandeln sie in Untote. Indem die Trauer- und Gedenkseiten auch Gedächtnisfunktionen übernehmen, verwandeln sie den Tod in ein praktisches, delegierbares Problem. Neben der Datenbankpflege stellt uns die Softwarearchitektur die ›Newcomer des Tages‹ vor, erinnert uns an die Sterbetage, versorgt uns mit den aktuellen Tipps und Ratschlägen zu Dienstleistungen im Fachbereich der Trauerbewältigung. Seiten wie www.ewiges-leben.de simulieren, dass der Tote unsterblich ist und folglich nicht vergessen werden soll. Sie suggerieren die jederzeit mögliche Kommunikation mit den Toten per Mail-Kontakt. Vor diesem Hintergrund kann nun die durch die digitale Kommunikation ermöglichte Verschiebung der Trauerkultur gefasst werden. Denn das Geschäftsmodell der Online-Gedenkseiten ist ausschließlich an der Aufrechterhaltung der Erinnerungskultur interessiert. »Mit den Internetfriedhöfen stellt man sich dem endgültigen Punkt, dem Tod, nicht, es hat nichts von Vergänglichkeit und Verwesung, weil man durch Tagebücher oder Briefe immer wieder etwas zu den Traueranzeigen hinzufügen kann«, halten Gudrun Schwibbe und Ira Spieker in »Virtuelle Friedhöfe« fest. Aus der Sicht des E-Commerce-Business schädigt das Vergessen die Besucherfrequenz der Seite, und das Vergessen führt im schlechtesten Fall zur Aufgabe des Online-Grabes. Darum zielt die Bewirtschaftung der Trauerarbeit darauf ab, die Erinnerung an die Toten als ›unverzichtbaren‹ Teil des Lebens der Hinterbliebenen zu deklarieren.

Zusammenfassend kann das Internet als ein maßgeblicher Kulturraum betrachtet werden, in welchem sich ein neuer Produktions- und Rezeptionskontext von Sterbe- und Todeserfahrung herausgebildet hat. Heute belebt eine dynamische und aktive Erinnerungskultur das Geschäft der Online-Trauer. Dagegen ist das Vergessen-Können eine Gefahr für die Portale. Deshalb etablieren die Repräsentanten der Trauerarbeit 2.0 eine Mnemotechnik der schlechten Unendlichkeit, denn sie zielen darauf ab, dass die Arbeit am Gedenken nie zu Ende kommen darf. In diesem Sinne produzieren sie den Menschen als Mängelwesen, das mit seiner Trauer nie fertig werden soll. Zur Aufrechterhaltung seiner aktiven Trauerarbeit werden gratis verfügbare Tools zur Verfügung gestellt, die dafür sorgen sollen, dass Todeserfahrungen zur Shareware von kollektiv geteilter Alltagskommunikation im Social Net werden. Am Fluchtpunkt dieser Entwicklung steht der Like-Button, mit dem Facebook die mitmenschliche Anteilnahme in eine One-Click-Kondolenz transferiert. Die Erfahrbarkeit von Sterben und Tod vermischt sich immer auch mit der Angst der Verbliebenen vor der kommunikativen Leere. An dieser Schnittstelle nistet sich das Geschäftsmodell der Memorial Sites ein, die eine ewige Erinnerung an die Toten in Aussicht stellen und damit die Trauernden im Netz auffordern, ihre Trauerarbeit als offenes und unabgeschlossenes Projekt zu betrachten. Doch trotz Social Net gibt es bis heute keinen Kontakt mit dem Jenseits, mit den Toten. Es kommt keine Antwort zurück. Die Trauernden verfangen sich selbst in den Feedbackschleifen unaufhörlicher Trauerarbeit und fungieren letztlich als Datensammler für das Social Media Marketing.

 

 

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