Ein Retro der Zweifler und Zauderer
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 66-69]
Bei Facebook gibt es die ulkige Seite »Musikjournalistensprech«, auf der regelmäßig repräsentative Phrasen gepostet werden. Viele meinen, das in letzter Zeit beliebte Musikkritikerwort ›hypnagogisch‹ gehöre wegen seines inflationären Gebrauchs da auch hin. Ein Redakteur untersagte mir sogar den Gebrauch dieses angeblichen Gummisignifikanten, zu beliebig sei sein Einsatz inzwischen geworden. Außerdem diene der Verweis aufs Hypnagogische längst als Alibi für jene allzu schäbigen LoFi-Produktionen, die unter dem Label ›Hypnagogic Pop‹ erscheinen.
Ist das wirklich so? Vielleicht lohnt es sich ja doch, den Hypnagogic-Pop-Hype ernst zu nehmen. Erst einmal zum Wort selbst: ›Hypnagogisch‹ beschreibt den Geisteszustand beim Einschlafen, den Übergang in die Welt der Träume, wenn das Unbewusste langsam seine Schleusen öffnet und Realität und Traum sich vermengen. Weil in dieser Phase des Entschlummerns das Unbewusste besonders viele Bilder produziert, spricht man auch von der ›hypnagogischen Fantasie‹. Der schottische Musikjournalist David Keenan hat daraus 2009 den Begriff ›Hypnagogic Pop‹ abgeleitet. Neben dem typisch verhallten, verrauschten und dösigen Klangbild ist damit eine ›fantastische‹ Heimsuchung durch Verdrängtes und Vergessenes gemeint: Im Pop-Selbst melden sich diffuse Erinnerungsfragmente zu Wort, die sich einst im Unbewussten eingenistet haben. Die Geister der Kindheit steigen empor, selbst längst generalverdrängte Peinlichkeiten wie das von den linksliberalen Eltern geschätzte esoterische Synthie-Gekniedel, Yacht Rock oder smoother Konsenspoprock der 80er Jahre werden im Hypnagogic Pop zum musikalischen Stoff. Forschungen haben gezeigt, dass das entschlummernde Gehirn Gedächtnisinhalte ins Bewusstsein holen kann, die für das Wachbewusstsein unerreichbar bleiben. In diesem Sinne steht ›hypnagogic‹ als Emblem für eine ästhetische Praxis: Die hypnagogische Fantasie kennt keine Grenzen, auch keine des Geschmacks; bei Musikern wie dem Hypnagogic-Pop-Urvater Ariel Pink, James Ferraro oder Oneohtrix Point Never kommt allerlei schäbiges und minderes Klangmaterial vor, Samples aus »Beverly Hills, 90210« oder die gesamplete Stimme von Chris de Burgh.
In letzter Zeit gab es immer mehr Veröffentlichungen, die dem typischen Klangbild des Hypnagogic Pop entsprechen. Das Konzept des Hypnagogischen könnte durchaus einen schüchternen Paradigmenwechsel innerhalb einer dominant gewordenen Retropopkultur signalisieren. Die obligaten Retrostile der nuller Jahre wie Electro Clash oder Neo-Garagenrock basierten klanglich auf dem Prinzip der Reizoptimierung: Die zahllosen Gang of 4-Epigonen nutzten digitale Aufmöbelungs- und Veredelungstechniken paradoxerweise, um originaler zu klingen als das Original. Die Genauigkeit, mit der bestimmte Styles, Sounds und Stimmungen nachgebildet wurden, hatte oft etwas Obszönes. Zugleich platzierte diese Art von klangästhetischem Re-Enactment den Hörer an einen bestimmten Punkt seiner Biografie oder an einen bestimmten, klar definierten Sehnsuchtsort. Typische Bands wie The Strokes oder Bloc Party stabilisierten unser Bild der Popmusikgeschichte und nutzen so dem Selbstvergewisserungsbedürfnis des Hörers. Hypnagogic Pop eignet sich Geschichte anders an. Hört man sich beispielsweise eine typische Hypnagogic-Platte wie das Ende 2011 erschienene Album »Pan Am Stories« von Rangers (alias Joe Knight) an, dann lösen sich die vielen Referenzpunkte (Easy Listening, Shoegaze etc.) in einem prekär eiernden Klanggewebe auf. Knight destabilisiert unser nostalgisches Begehren und lässt es im Ungewissen. Hypnagogic Pop ist mit seinen bewusst schludrigen Sounds eine Bewegung gegen die restaurative Genauigkeit. Es kommt nicht mehr auf Stimulus-Response-Funktionalität an, auch das Phantasma eines idyllischen Orts ungebrochener Authentizität spielt keine Rolle mehr. Die spezifische hypnagogische Arbeit am Atmosphärischen optimiert nicht bestimmte Reize, stattdessen hinterlassen Platten wie »Pan Am Stories« das Gefühl einer emotionalen Dissonanz: Es wirkt zusammen, was nicht zusammen gehört. Die Quellen werden undeutlich und versanden in einem Strom des Ungefähren. Wie Knight wissen die besten Hypnagogiker um das Brüchige jeder Erinnerungsarbeit und verwandeln dieses Wissen musikalisch. Auch David Speck alias Part Time verunsichert unsere Erinnerung wie die aus dem Nichts aufsteigenden Erinnerungsinhalte der hypnagogischen Dämmerphase. New Age Sounds, Synthesizerklänge und diverses Erinnerungsgeröll wie schmierige Miami-Vice-Filmmusik und New-Romantic-Kitsch treten auf seinem beeindruckenden Album »What Would You Say?« in unwahrscheinliche Kommunikation miteinander. Dazu singt Speck mit distanzierter, entfremdeter Stimme, als wolle er mitteilen, dass ihm seine bruchstückhaften Sound-Memorabilia selbst nicht ganz geheuer sind. Gerade im künstlerisch bejahten Verzicht auf Souveränität können die genannten Musiker eminent zeitgenössisch sein, stilisieren und ästhetisieren sie doch Symptome eines passiven und erschöpften Subjekts. Die Wiederkehr des Verdrängten bedrängt die Musiker, aber sie versuchen gar nicht erst, künstliche Kontrolle über das Erinnerungsmaterial auszuüben.
Auch Interpreten, die offiziell nicht unter die Rubrik ›Hypnagogic Pop‹ fallen, sind längst von dem frei flottierenden hypnagogischen Wissen informiert. Cuticle hat mit »Mother Rhythm Earth Memory« Anfang des Jahres ein wunderbares House-Album vorgelegt, auf dem er das hypnagogische Subjektivitätsmodell auf ganz eigene Weise aufführt. Als hätte der Musiker einst Daft Punk und Metro Area in der Schulpause als Hintergrund-Muzak in der Eisdiele gehört, verarbeitet er bestimmte und unbestimmte Einflüsse zu einem seltsam zaudernden Hedonismus. Überhaupt lässt sich inzwischen von dem inoffiziellen Genre ›Hypnagogic House‹ sprechen, dazu wären neben Cuticle andere Acts der Labels Not Not Fun und 100% Silk aus Los Angeles zu zählen: Fort Romeau, Sir Steven oder Innergaze, von dem das vielsagende Stück »Hypnogogisco« stammt. Sie alle vollführen einen postmodernen Eiertanz auf dem Fundus von Dance Music und verfügen keineswegs souverän über das Archiv. Das Hypnagogische macht sich hier stilistisch durch eine vage Bezugnahme auf House der späten achtziger und frühen neunziger Jahre bemerkbar – Musik, welche diese jungen Musiker eher halbbewusst wahrgenommen haben und die sich jetzt nach und nach ins Bewusstsein stiehlt.
Während der Vergewisserungs-Retro für klare Verhältnisse sorgt, destabilisiert Hypnagogic Pop unser Geschichtsbild. Seine Protagonisten arbeiten an den Peripherien von Pop, entdecken Obsoletes und veredeln es zu neuer und bisher ungehörter Musik. In lange Zeit abjekten und unhippen Musiken wie New Age oder 80er-Schweinerock machen sie ungehobene Potenziale und ungelebte Möglichkeiten aus. Die genealogische Spekulation überträgt sich auf den Hörer: Re-Issues und skurrile YouTube-Musikclips lassen sich darauf hin befragen, ob und wie sie dem einen oder anderen Hypnagogiker als Einflussquelle gedient haben könnten. Selbst ein glitzerndes Pop-Album wie »One Second of Love« von Nite Jewel scheint nicht unbeeindruckt vom Grundkonzept des Hypnagogischen, mit gelungenen Flüchtigkeitsfehlern vermeidet es den hypergenauen Referenzialismus des Proto-Retro.
›Hypnagogic‹ ist in der Popmusik des Jahres 2012 zu einem ästhetischen Passepartout geworden, zu einer Art Meta-Atmosphäre, die in unterschiedlichsten Kontexten aufgerufen wird. Es gibt längst Anzeichen von hypnagogischem Teenie-Bop (»Just A Dream« von Die Jungen) und hypnagogischen Gabba (»To Life« von Blue Angels). Und eines der großartigsten Stücke des Jahres, »I Kontact« von Outer Limitz, ist eine ›hypnagogische‹ Aneignung des guten alten New Jack Swing. All diese Schrullen machen gute Laune, weil sie neue Referenzräume eröffnen. Wenn man so will, erfindet die hypnagogische Phantasie die Vergangenheit neu, sie unternimmt eine Umverteilung der Zuschreibungen wichtig/unwichtig. Diese renovierende und innovative Kraft des Hypnagogic Pop kommt dabei ohne die pathetische Kategorie ›Zukunft‹ aus, die beispielsweise für das Selbstverständnis von Techno und Cyber-R&B noch wichtig war. Die Gefahr jeder Musik, die von nerdigen Energien getrieben ist, ist natürlich, dass es zu beflissen und potenziell klugscheißerisch zugeht. Aber ein Retro der Zweifler und Zauderer bleibt ein großer Fortschritt für den Pop, ein Zeichen gegen die Regression, vor allem, wenn man an die ewigen Identitätshuber denkt: Sixties-Revivalisten, Hardcore-Rave-Puristen, lebenslängliche Indiepopper und andere regressive Pop-Subjekte. Hypnagogic Pop naturalisiert vergangene Pop-Stile nicht mehr zu handlichen Entitäten und Identitäten. Genauso wenig verliert er sich in einem allwissenden Eklektizismus. In den besten Momenten dieser Musik wissen wir nicht mehr, wo wir stehen und wo wir damals standen.