Die Angst des Geisteswissenschaftlers vor den Medien
von Bernhard Pörksen
10.8.2024

Vor dem Social-Media-Engagement

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 21-25]

Es ist nun mehr als ein Jahr her, da erschien in der »Zeit« ein mit Wucht als Titelgeschichte lanciertes Gespräch zwischen dem Philosophen Richard David Precht und dem Widerstandskämpfer und Bestsellerautor Stéphane Hessel, das auch heute noch, in der Rückschau und aus der Distanz gelesen, etwas Peinliches und doch elementar Richtiges hat. Peinlich, weil mitunter einfach naiv. Richtig, weil hier ein Plädoyer für das öffentliche Engagement von Geisteswissenschaftlern gehalten wird, dessen es dringend bedarf. Es geht in diesem Dialog um die Ironie, den symbolischen Wert des Fragezeichens, die Notwendigkeit einer Utopie und die Konturen einer Bildungsreform in den Akademien und Universitäten des Landes, einer Pädagogik des Engagements. Kurzzeitig klingt auch die Sehnsucht nach dem platonischen Philosophenkönig und einer »Weltregulierung« an. Die Leitformel dieser leicht überbordenden Diskussion lautet: »Mischt Euch ein!«

Das alles klingt, wie gesagt, ein bisschen peinlich und penetrant, aber das Gefühl des Unwohlseins ist in Form eines kleinen Gedankenexperiments noch deutlich steigerbar. Was würde passieren, so kann man sich fragen, wenn man diesen Imperativ der Einmischung, diese so absolut formulierte Aufforderung zur scharfen, mediengängigen Zeitdiagnose, in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten des Landes ausrufen und auf Einlösung drängen würde? Auf der Vorderbühne der direkten, der öffentlich einsehbaren Reaktion würde die Formel »Mischt Euch ein!« zunächst eine Reihe von Fragen auslösen. Zum Beispiel: Was ist mit Einmischung gemeint, wie lässt sich der Begriff definieren? Kann ein derart unterkomplex angelegtes Verständnis von Einmischung überhaupt funktionieren, wissen wir doch spätestens seit den Tagen von Niklas Luhmann, dass allenfalls wechselseitige Systemirritation möglich ist, Einmischung also ohnehin nur nach Maßgabe systemischer Eigengesetzlichkeit möglich erscheint? Ist diese Forderung nicht eigentlich ein weiterer, dieses Mal karitativ getarnter Anschlag auf die Autonomie von Wissenschaft und fügt sich in all die Versuche, das Erkenntnisinteresse dem Verwertungsinteresse unterzuordnen und das Prinzip der Wertfreiheit zu ruinieren? So würde man also womöglich auf der Vorderbühne gegenhalten, gleichzeitig gewiss konstatieren, dass Wissenschaftler auch eine Bringschuld gegenüber der Öffentlichkeit besitzen, um dann ansonsten weiter dem eigentlichen Geschäft nachzugehen, Forschungsanträge zu formulieren, Aufsätze abzuschließen, zu lehren, Studiengänge zu akkreditieren und sich mehr oder minder fröhlich der Selbstverwaltung zu widmen.

Auf der Hinterbühne der nicht direkt sichtbaren Kommunikation hätten all die Reaktionen der Abwehr vermutlich eine etwas andere Gestalt. Erneut in Form von ein paar Fragen: Was werden sie sagen, die Kolleginnen und Kollegen? Hat man nicht einst Göttinger Wissenschaftler öffentlich als Feuilleton-Politologen geschmäht, um dann ihr Institut zu demontieren und mehr oder minder gleichzeitig an ebendieser Universität einen neuen MA-Studiengang für Pferdewissenschaften als nützliche Zukunftsofferte zu preisen? Sind Medien nicht große Vereinfachungs- und Verzerrungsmaschinen, die eine Geschwindigkeit und eine »Überbietungsdynamik« (Peter Weingart) erzeugen? Muss man die Öffentlichkeit also womöglich als einen Ort der gefährlichen Infektion betrachten, die die eigene fachinterne Reputation im Tausch gegen ephemere Medienprominenz schwächt, dem ›echten Denken‹ entgegensteht? Natürlich, dies hier sind bislang eher Karikaturen der Sorge, keine repräsentativen Befunde. Und selbstverständlich, es existiert wohl kein Bereich, den Hochschulen bundesweit so geschlossen ausbauen wie die PR- und Presseabteilungen; auf die Großveranstaltung mit kalkulierbarem Medieneffekt mag kaum noch eine Universität verzichten. Auch stellen sich Geisteswissenschaftler, wenn sie denn einmal explizit befragt und in die entsprechenden Untersuchungen überhaupt einbezogen werden, als besonders medienaffine Zeitgenossen dar, bei denen es die strikte Trennung von (esoterischer) Fachkommunikation und (exoterischer) Darstellung gar nicht gebe. Überdies gibt es, auch dies stimmt, eine allerdings äußerst überschaubare Zahl von Geisteswissenschaftlern, die mit einem klaren Konzept in den Medien auftauchen, sich als Hermeneuten des Sozialen oder als Irritationsagenten verstehen, den Reichtum der Alternativen des Denkens und Wahrnehmens präsent halten. Aber sie sind selten. Und es finden sich auf den Podien, in den Feuilletons, in den Literaturhäusern immer dieselben, die sich aktiv einmischen, selbstbewusst eigene Themen setzen und sich von wissenschaftsimmanent mächtigen, extern aber seltsam anachronistisch und angstbesetzt wirkenden Unterscheidungen (Prominenz versus Reputation, Oberfläche versus Tiefe, Fachkompetenz versus Pop Science) nicht einschüchtern lassen. Dabei wären Anlässe und Themen für öffentliche Einsprüche in großer Zahl vorhanden – und doch muss man sich fragen: Wo sind die Medienwissenschaftler, die das Ende der Privatheit reflektieren, überraschende Positionen zur Wirkmacht der Netzalgorithmen beisteuern oder aber eine totalitär gewordene Vorstellung von Transparenz kritisieren? Wo die Pädagogen, die die Krisenzeit der Reformpädagogik und das Desaster ihrer Selbstdemontage zeitnah mit eigenen Interventionen und Büchern begleiten? Wo die Literaturwissenschaftler, die Plagiatsvorwürfe von Helene Hegemann bis Karl-Theodor zu Guttenberg als Transformation der Textkultur analysieren oder bei Bedarf auch einen Christian Kracht vor Denunziation und Rassismusverdacht beschützen und an ein paar Standards der Literaturexegese erinnern? Wo bleiben die Philosophen, die die Auseinandersetzung mit der Neurobiologie, die lange schon genuin philosophische Fragen traktiert, als notwendigen Zweitjob verstehen oder durch ihre Beiträge zur europäischen Idee und dem Projekt der Aufklärung die Öffentlichkeit elektrisieren? Die Geisteswissenschaften der Gegenwart regiert, dies erscheint offensichtlich, eine seltsam mutlose Diskursverweigerung, eine große Verzagtheit, die wissenschaftshistorisch erklärbar ist, aber wissenschaftspolitisch fatal. Denn sie spielt der Marginalisierung der Geisteswissenschaften weiter in die Hände, räumt das Feld der öffentlichen Deutungen voreilig und führt den täglichen Relevanz- und Nützlichkeitstest eben nicht mehr unter den Augen eines größeren Publikums durch. Der Grund für diese Verzagtheit ist eine tiefe, durch quantifizierende Erhebungen und Interviews auf der Vorderbühne kaum dechiffrierbare Selbstbewusstseinskrise der Geisteswissenschaften, die Rituale und Standards naturwissenschaftlicher Forschung imitieren und sich der Relevanzfrage durch einen methodologischen Opportunismus entziehen, der im Extremfall auch ihre Abschaffung legitimieren könnte.

Man muss kein Befragungsunternehmen beauftragen, um zu erkennen: Wissenschaft heißt heute primär und vor allem in ihren Erfolgen messbare Naturwissenschaft; schon dies ist ein die Marginalisierung stützender Bias, der sich interessanterweise auf anderen Reflexionsstufen, nämlich der wissenschaftstheoretischen und wissenssoziologischen Forschung, wiederholt. Es gab lange Zeit (inzwischen haben hier Forschergruppen um Peter Weingart und Hans Peter Peters nachgelegt) kaum substanzielle Auseinandersetzungen mit der Rolle der Geisteswissenschaften in der aktuellen Wissenschaftsforschung, aber ein paar Kilometer Literatur zur allmählichen Medialisierung der Natur- und Lebenswissenschaften. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass es zu einer allmählichen internen Entdifferenzierung von Wissenschaft und ihrer Organisations- und Publikationsformen kommt, orientiert man sich doch zunehmend an den Exaktheitsvorstellungen der Naturwissenschaften bzw. der ›hard sciences‹. Und man kann gerade in den Berufungsverfahren für Geisteswissenschaftler sehen, dass die einstige Leitfigur der Autoren-Existenz durch den Herold der neuen Zeit, die Indikatoren-Existenz, abgelöst und verdrängt wird. Diese Indikatoren-Existenz wird in formal ausgerichteten Ritualen einer scheinbaren Objektivierung von Qualität (Höhe der eingeworbenen Gelder, Zahl der Aufsätze im Verhältnis zum Lebensalter, Beteiligung an einem SFB etc.) klar bevorzugt. Die Figur des wortmächtigen Individualforschers, des Theoretikers mit universalem Anspruch, des Sinnspezialisten, der seine großen Monografien, seine Essays und öffentlichen Einsprüche formuliert, hat es unter diesen Bedingungen naturgemäß schwerer. Das weiß jeder, der heute antritt. Diese Entwicklung begünstigt, so muss man vermuten, eine medienferne Erkenntnisproduktion und eine öffentlichkeitsscheue Hermetik, weil sie erprobte Instrumente der Intervention entwertet, fachextern kaum einsetzbare Gattungen und Äußerungsformen belohnt und das obsessive Interesse des Einzelnen eher geringschätzt – zugunsten der Integration in den übergeordneten Verbund, das gemeinsame Projekt, das dann institutionelle, nicht aber individuelle Sichtbarkeit garantieren soll.

Der Bologna-Prozess verschärft womöglich die Verzagtheit in den Geisteswissenschaften noch einmal, weil die laufenden Reformanstrengungen ein strategisches Dilemma, eine Aporie offenbar werden lassen, die kaum lösbar ist, aber geeignet erscheint, die Selbstbewusstseinskrise weiter zu vertiefen. Denn mit dieser Reform wird Employability, Berufsfähigkeit, hochschulübergreifend und europaweit als Studienziel deklariert, zumindest auf der Bachelor-Ebene. Man stellt also – in Fachhochschulen und Universitäten gleichermaßen – die Relevanzfrage an alle Fächer und fordert einen Kompetenzerwerb, der sich auch an den Erfordernissen des Arbeitsmarktes orientiert. Die Schlüsselfrage aber lautet damit, welche Form der Employability Geisteswissenschaftler überhaupt garantieren können, sieht man vom Lehramt und dem Beruf des Wissenschaftlers einmal ab, den man allerdings kaum breit empfehlen kann. Welchen Marktwert, genau diese Anfrage setzt die Reform, hat das Erkenntniserlebnis, das gute Argument, die ins Offene weisende Reflexion? Wie wird man im Sinne von Bologna marktrelevant, ohne gleichzeitig die Frage zu provozieren, ob eine praktizistisch verstandene Relevanzidee nicht von der Fachhochschule oder den Berufsakademien deutlich besser bedient werden könnte? Wie entkommt man, weiter gefragt, der Gefahr, aus der Not heraus und um den Preis einer ins Lächerliche abgleitenden Selbstpräsentation mit »Berufsattrappen« (Jürgen Kaube) zu argumentieren, die einem Realitätstest nicht standhalten, sich schon bald als unseriöse Luftnummern entpuppen? Nun, man kann argumentieren, dass schon die Frage falsch gestellt ist – und dass man auf einem mit solchen Nützlichkeitserwägungen verseuchten Terrain nur verlieren kann. Ganz in diesem Sinne haben einzelne Geisteswissenschaftler (Konrad Paul Liessmann, Jochen Hörisch) Bücher des Aufschreis verfasst, die eine berühmte, eine prophetische Rede des Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich aus dem Jahre 1987 über den Kurs der Universitäten und die libidinöse Verwahrlosung der Alma Mater in Zeiten einer neuen Sachlichkeit variieren. Der apokalyptische Abgesang (in Kurzform: »Dies ist nicht mehr meine Universität!«) oder aber der Versuch einer Revitalisierung eines Ideals, für das Wilhelm von Humboldt als Chiffre steht, sind mögliche Reaktionen, denen eines gemeinsam ist: Sie sind sichtbar. Eine andere, auch denkbare, indes notwendig unsichtbar bleibende Reaktion aber ist, dass sich die Selbstbewusstseinskrise der universitären Geisteswissenschaften verstärkt und die Verzagtheit weiter zunimmt. Denn auch der Verdacht, schlicht und einfach nicht nützlich zu sein, nicht genügen zu können und womöglich prinzipiell an der reforminduzierten Relevanzhürde des Marktes und dem paradoxen Primat der Praxisorientierung ohne Praktizismus zu scheitern, kann den Gang in die Öffentlichkeit blockieren.

Es sind solche Überlegung zur Dominanz der Natur- und Lebenswissenschaften und den Folgen der Bologna-Reform, die es erlauben, ein Versäumnis der Geisteswissenschaften präziser zu benennen. Es besteht darin, dass es nicht gelungen ist, ein Relevanzkonzept zu entwickeln, das wissenschaftsintern eigenständig und reputationsfähig, extern vermittelbar und öffentlich anschlussfähig erscheint. Reputationsfähigkeit ist bedeutsam, weil es nur so gelingt, die eigene Relevanz- und Erkenntnisidee intern abzusichern. Externe Vermittelbarkeit stellt den Anspruch, verschiedene Perspektiven zu verschränken, die äußeren Ansprüche und Nützlichkeitsforderungen nicht nur als frevelhafte Ökonomisierung wahrzunehmen, sondern gleichsam in verschiedenen Köpfen zu denken. Mediale Anschlussfähigkeit verlangt gerade von Geisteswissenschaftlern, dass sie den Eros einer nie endenden Erkenntnissuche mit journalistischem Tempo, verbindlichen Deadlines und sprachlicher Klarheit kombinieren. Geisteswissenschaftler müssen lernen, sich als Spezialisten für das Allgemeine zu begreifen, als Ideengeber, die produktiv irritieren, weil sie stets perspektivische Alternativen bereithalten. Sie müssen die entscheidenden Übersetzungsvorgänge selbst und mit Bordmitteln leisten, sind also auch in eigener Sache Dolmetscher des Denkens, weil sie nur so und nur dann öffentlich mit Natur- und Lebenswissenschaftlern konkurrieren können, die ohnehin befragt werden, wenn der neue Impfstoff entwickelt wird, die Krebstherapie vor dem Durchbruch steht oder aber die Verbreitungswege einer Epidemie zu recherchieren sind. Diese hier offensiv empfohlene Selbstmedialisierung wäre – im Idealfall – nicht nur lästige Pflichtübung, sondern auch Kreativitätskatalysator und Erkenntnischance, zwingt doch das besondere Reizklima der Öffentlichkeit dazu, das eigene Denken zu schärfen, und wirkt in Form von ad hoc entstandenen Begriffsbildungen und in der Hitze der Situation vorgebrachten Zuspitzungen wieder produktiv auf die Forschung zurück. Aber wie dem auch sei: Die Angst des Geisteswissenschaftlers vor den Medien – sie ist vor allem ein Symptom, Ausdruck und Indiz eines Verlustes von Frechheit und innerer Freiheit. Fast scheint es, als fürchte man im Moment der Spiegelung zu erkennen, dass der methodologische Opportunismus nichts gebracht hat und man die eigene Sprache und Stimme zu verlieren droht.

 

 

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