Alte, Untote und Tote
von Marcus S. Kleiner
10.8.2024

Age / Gender

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 70-74]

2012 geht bekanntlich die Welt unter, glaubt man zumindest der Kulturgeschichte im Medium des schaurig-visionären Maya-Kalenders oder jener Filmgeschichte, die Roland Emmerich mit seiner filmsprachlich eindrucksvollen »2012«-Untergangsfiktion erzählt. Der Untergang und seine Kulissen: Keine Traditionen ohne Institutionen, die Traditionen gesellschaftliche Rahmen und Räume geben. Auch sie werden untergehen, allerdings widerständiger sein als jene Traditionen, die nur als Untote umherirren in institutionellen Totenkammern.

Kurzum, ich adressiere drei Untergangskulissen: Es wird um Frauen sowie Männer in der Popmusik (Tradition) und ihre Funktion in der westlichen Popmusikindustrie (Institution) gehen; aber auch um das Altern in und mit Popmusik (Tradition) sowie den Möglichkeitsräumen zu deren Gestaltung in und außerhalb der westlichen Popkulturindustrie (Institution); und um deren mediale Repräsentationen im deutschen Pop(musik)journalismus (Institution), den ich gegenwärtig als beständige Totenrede zur Popmusik empfinde: ›The Writing Dead‹ (symbolische Sinnwelt).

Pop wird bald 60. Auch das Alter(n) spielt im Pop eine zunehmend wichtige Rolle, weil nicht nur die Pop-Traditionen und -Institutionen altern, sondern auch die Pop-Stars und die Pop-Fans. Gibt es vor dem Alter(n) mehr Pop-Demokratie als im Popbusiness? Können Popmusikerinnen und Popmusiker würdevoll altern oder verkommen sie zu Pop-Zombies?

»I’m a dirty old man / I do what I can« (Neil Young, »Dirty Old Man«). Männer können anscheinend alles, auch im Alter(n)!? Ganz im Unterschied zu Frauen, vermeintlich. Madonna hat mit »MDNA« 2012 ihr zwölftes Studioalbum veröffentlicht. Es geht, wie immer, um Sex, Liebe, auch um Kampfansagen an junge Kolleginnen. In aktuellen Videos und Bühnenshows räkelt sie sich immer noch in knappen Outfits über die audiovisuellen und Live-Bühnen, zeigt, was sie auch mit 53 Jahren für einen scheinbar makellos jugendlichen Körper hat. Dabei bekommt sie sehr viel von einem Pop-Zombie, weil sie sich nicht, wie in den 1980ern, auf den Entwurf von und das Spiel mit unterschiedlichen, mehr oder weniger selbstbestimmten Frauenrollen konzentriert, sondern sich an zeitgeistigen Formen von und Erwartungshaltungen an Pop-Weiblichkeit orientiert, denen sie mit Anfang 50 nicht mehr wirklich entsprechen kann, aber auch nicht muss bzw. müsste. Ein musikalischer, popkultureller und individueller Reifungsprozess ist hier nicht zu beobachten, auch kein Arbeiten an einer eigensinnigen und selbstbestimmten Kultur des Alterns im Bezugssystem Pop – hingegen nur ihre selbstmumifizierte, jugendliche Weiblichkeit der 1980er und frühen 1990er Jahre.

Der »Stern« verweist Madonna entsprechend von der ›ewigen‹ Pop-Jugend-Bühne: sie erliege dem Jugendwahn und wolle nicht wahrhaben, wie Jan Augustiny betont, dass ihr viele jüngere Kolleginnen musikalisch, ästhetisch und vom »sex appeal« her den Rang längst abgelaufen hätten, sie letztlich ein tristes Zitat ihrer selbst sei. Eine männliche Perspektive. Positiver wird sie aus weiblicher Perspektive bewertet. Katja Peglow spricht in »Intro« davon, dass Madonna als »die amtierende Queen of Pop ihren Thron härter denn je« verteidige. Ihr Kollege Felix Scharlau rümpft an gleicher Stelle die Nase über zu viel Eltern-Pop auf »MDNA«. Traurig berechenbar, die Damen und Herren PopjournalistInnen.

In der Popmusik und im Popbusiness bleiben Feminismus, Postfeminismus und Gender fast ausschließlich Text, Forderung, Mahnung, Zeigefingerpolitik der Pseudo-Kritischen und mental Haltungsschwangeren, Gute-Gefühle-Produktion für die, die nichts verändern wollen und auch nur tanzen, wenn es zuerst andere tun, nur denken, was schon andere gedacht haben, und sich auf das intellektuell-kritisch-haltungsvolle ›mood management‹ fokussieren. Gefühlt riskant, genial dagegen: »Aber Hier Leben, Nein Danke!« (Tocotronic) Journalismus und Wissenschaft reichen sich die Hände. Die performative Produktion von Wirklichkeit besitzt eben deutlich Grenzen.

Haltung muss man haben und ausbilden, sie dauernd schreibend anzupeilen, zu fordern, mobilisierend aufrüttelnd zu präsentieren und sie sozial zahm im popmusikjournalistischen, pophistorischen oder popdiskursiven Verhaltenskäfigen zu belassen, ist eine klassische deutsche Doppelmoral der schreibenden Kulturkapitalisten: »Gutes tun, Gutes tun, Gutes tun ist gar nicht schwer. Man kann soviel Gutes tun zu Hause und im Kreisverkehr.« (Funny van Dannen)

Mit Pop ist keine Politik zu machen. Punkt. »Get up, stand up« klappt am besten im Club, auf Konzerten oder Festivals. Innerlich natürlich auch jeden Tag. Pop verändert, im besten Fall, Ästhetik und Lebenswelt, Konsum und Medienkultur, immerhin, aber nicht die Gesellschaft als politisches System, das Wirklichkeit legitim gestalten und sanktionieren kann, Entscheidungen für uns trifft, an denen wir zumeist nicht beteiligt sind. Wege von einer popkulturellen Politik des Selbst bzw. eines Ethos der Selbstgestaltung zu einer Subversion oder Transformation gesellschaftlicher Wirklichkeit zeichnen sich bis heute noch nicht ab – sind aber andererseits in ihren unterschiedlichen Medialisierungsformen bis zur Unkenntlichkeit zertrampelt worden. Auch Pop ist nur in seltenen Fällen basisdemokratisch, sowohl industriell als auch journalistisch und real gelebt, ein Ausdruck für die Kreativität und Freiheit der vielen Eigensinnigen, sondern zunächst und zumeist eine Anpassungskulisse für Mitmacher, die Style, Haltung, Gemeinschaft oder Meinung shoppen, aber auch für Bedeutungskämpfer, die Diskursgewalt begehren.

Mit und durch Pop muss man auch keine Politik machen. Diese Erwartungshaltung ist eine grandiose Fehleinschätzung der kulturellen Möglichkeiten von Pop – und eine lebensweltliche und diskursive Blenderkulisse. Pop kann, und das ist viel wichtiger, vorausgesetzt man versteht Popkultur und Popmusik als existenziell bedeutsam, eine transformatorische Bildungskultur für jeden Einzelnen werden. Popbildung durch Musik, Filme, Serien, Comics, Stil usw. kann zu einem alternativen oder primären Bildungsangebot im Kontext der Identitätsausbildung und des Selbstmanagements werden – muss es aber nicht. Pop hat aus dieser Perspektive das Potenzial, politisierend zu sein und als ein Medium der politischen Meinungsbildung zu fungieren.

Apropos Identität. Pop war, ist und bleibt primär ein Identitätsmarkt – wie jeder Markt häufig ein sehr fremdbestimmter. Selbstbestimmung ist schwierig, weil Identität ein Krisenphänomen ist, auch und gerade mit Blick auf die Sozialisation in populär- und popkulturellen Umwelten. Eine der wenigen avancierten Punk-Bands der 1970er Jahre, X-Ray Spex, mit ihrer Sängerin Poly Styrene und der Saxofonistin Lora Logic, bringt das in ihrem Song »Identity« auf den Punkt: »Identity / Is the crisis / Can’t you see / Identity identity / When you look in the mirror / Do you see yourself / Do you see yourself / On the t.v. screen / Do you see yourself / In the magazine / When you see yourself / Does it make you scream.« Im Song wird keine schnelle Alternative zur Krise angeboten, sondern die Problematik der populärkulturellen Identifikationsmöglichkeiten aufgezeigt, durch die ein möglichst selbstbestimmter Identitätsaufbau stattfinden könnte bzw. durch die dieser allererst be- und verhindert wird.

Identität verlangt Identifizierung. Die Pop-Muster, mit denen Frau und Mann sich identifizieren können, sind allerdings zumeist festgelegt. Auch die vermeintlich subversivste Musikerin, ebenso wie ihre männlichen Kollegen, identifiziert sich zunächst mit dem, was ihr vorgegeben ist – auch und gerade in der Negation. Keine Madonna, keine Lady Gaga, ihre einzig legitime Nachfolgerin, allerdings nur in Anbetracht der Bedeutung von Madonna in und für die 1980er-Popjahre, keine Nico, keine Kathleen Hanna, keine Peaches, keine Courtney Love, keine Corin Tucker und auch keine Brody Dalle, um nur einige wenige Popmusikerinnen zu nennen, die versuchen, eigensinnige Frauenrollen im Popbusiness zu etablieren, haben hieran grundsätzlich etwas geändert.

Im großen Pop’n’Roll Swindle wird Frauen nur der Raum zur Identifikation oder Anti-Identifikation geben – in Form von repräsentativen oder repräsentationskritischen Rollen, die sie neben den Regenten oder repräsentativen ›Outlaws‹, also den Männern, einnehmen können: ›Queen‹, ›Diva‹, ›Lady‹, ›Girl‹ etc., wenn sie als Konformistinnen aufgefasst werden, oder als ›Sister‹, ›Riot Girl‹, ›Bitch‹ usw., sobald sie sich als Konformistinnen des Andersseins präsentieren. Hierbei werden hin und wieder noch selbstbestimmtere Rollenmodelle toleriert, wie etwa Patti Smith oder Kim Gordon, die sich als Künstlerinnen verstehen.

Popmusikerinnen als Repräsentantinnen sind auch an zentralen Popmedialisierungsorten, wie etwa auf den Covern der Musikmagazine, im Vergleich zu den Popmusikern viel seltener präsent. Erscheinen sie an diesen prominenten Orten, werden sie fast durchgehend stark sexualisiert bzw. in erotischen oder zweideutigen Posen und Positionen abgebildet, häufig überzogen cool oder mit Pseudo-Understatement, auch und oft gerade die Nicht-Konformistinnen, für die selbstbestimmte Sexualität und das demonstrative Abweichen von Schönheitsnormen nicht selten ihre wenn nicht einzige, so doch plakativste ›Fuck-You‹-Haltung zum System sind. Letztlich werden hier alle männlich konnotierten Erwartungshaltungen an die Rolle der Frau im Popbusiness erfüllt. Positionen, Negationen von Positionen, Ironisierungen, subversive Affirmationen, Nonkonformismus bleiben an das rückgebunden, wovon sie sich absetzen wollen und von dem sie bestimmt werden in ihrer (Nicht-)Identität sowie in ihren (Nicht-)Identifizierungen.

Pop ist Männersache, auch 2012 noch. Eine Subversion ist nicht in Sicht. Seit die erste Spielart der modernen Popmusik, Rock’n’Roll, von weißen, amerikanischen Mittelstandsmännern etabliert wurde, gilt: Männer machen Pop, Frauen repräsentieren Pop. Folgerichtig werden die 2012er Alben einiger der großen alten bzw. alternden Popmänner, etwa das von Leonard Cohen (»Old Ideas«) oder Bruce Springsteen (»Wrecking Ball«), in der deutschen Poppresse im Gegensatz zum Madonna-Album fast durchgehend als reife Alterswerke bezeichnet und als popmusikalische Formen von Weisheit, Erkenntnis, Aura usw. gefeiert – auch, wenn sie letztlich das abliefern, was sie immer schon in dieser oder vergleichbarer Art abgeliefert haben, bei allem Respekt vor der Qualität ihrer Musik. Auch ihre Formen der Selbstinszenierung stehen dabei völlig außer Frage, sind auch im Alter(n) immer passend, altersgerecht. Die strotzende Jugendlichkeit von Bruce Springsteen in seinen frühen Sechzigern, die in deutlichem Kontrast zum Dauer-Dandyismus Cohens und seiner markant-filigran-zerbrechlichen Männlichkeit steht, wird nicht in vergleichbarer Weise als despektierlich erachtet, wie dies bei Madonna der Fall ist.

In der Popmusik und in der Popmusikindustrie ist insgesamt kaum Platz für eine intensive Auseinandersetzung mit dem Altern, diesem elementaren Aspekt des Menschseins. Nicht Vergänglichkeit, sondern Vitalismus dominiert zumeist. Das Credo der Rockmusik: »Sex’n’Drugs’n’Rock’n’Roll«. Das Dauerthema populärer Musik: »Love is all around«! Nicht zu vergessen im Kontext popkultureller Bewegungslehre: »Rhythm is a dancer« bzw. »Dance to the rhythm«!

Was tun? Aus dem jungen Wunsch der jungen Tocotronic, »Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein«, sollte, mit Blick zurück auf den X-Ray-Spex-Schrei, ein Freudenschrei werden, Teil einer alternden Popmusikkultur zu sein und sein Alter(n) popkulturell gestalten zu können – und ein Entsetzensschrei vor allem popkulturell bzw. popmusikkulturell bedingt Prätentiösen, das vor dem Alter(n) davon läuft und zur Teenager-Spätlese mutiert, wie im Gedicht »Einsamkeit eines alternden Stones-Fans« (1974) von F.C. Delius: »Er latscht in den Diskshop und gleich / auf die Platte los, die er will, die neuen Stones. / Um ihn rum, Kopfhörer um die Ohren, / die 10 oder 15 Jahre jüngeren Typen, / die längst was andres hören.«

Der Untergang kommt bestimmt. Aber was können wir aus prominenten populär- und popkulturellen Untergangsnarrationen und Katastrophenvisionen lernen? Es geht weiter, anders, aber weiter. So oder so, es wird eine Postapokalypse geben, an der wir beteiligt sind, so oder so. Es wird Leben, Sozialität, Kulturalität, Identität geben, so oder so. Pop ist und bleibt eine Transformationskultur und Wahlgemeinschaft. Auch in Emmerichs Film »2012« gibt es die Postapokalypse, die gestaltbar ist, die Liebe, Versöhnung, Verzeihen, Schönheit, Sonnenschein auf ruhigen Ozeanen und vieles mehr bereithält. Kein Weltuntergang also, ein Neuanfang nach dem Untergang. Bleibt die Frage: Was hören die Überlebenden für Musik? Was ist der Sound der Postapokalypse? Gibt es dann immer noch ›Gender Trouble‹ und patriarchale Popsysteme? Werden die schreibenden Pop-Zombies weiterhin popkulturell und popmusikalisch belanglose Pamphlete und Totenreden ins Land werfen? Wird es eine neue popkulturell motivierte Kultur des Alter(n)s geben?

Wenn Pop-Alter(n) thematisiert und inszeniert wird, etwa in Form von gealterten Popmusikern, dann muss diese Inszenierung aktuellen jugend-/popkulturellen Selektionskategorien entsprechen und medial verwertbar sein – dies gilt auch für die negative Darstellung gealterter Popstars. Alter(n) wird in der Popmusik in Verbindung mit dem Tod gebracht, der aber letztlich nur glorifizierend (»Live fast, die young«) oder defätistisch thematisiert wird bzw. werden kann. Im Gegensatz zum Tod ist Alter(n) jedoch erfahrbar und erlebbar – und auch gestaltbar. Hieraus sollte das produktive Potenzial der Auseinandersetzung mit dem Alter(n) gewonnen und eine popkulturelle Kreativität des Handelns sowie Denkens erzeugt, Möglichkeitswelten und Imaginationsarsenale, soweit wie überhaupt realisierbar, eröffnet werden.

Popmusik, als einflussreiches Feld kultureller Produktion und Rezeption, könnte als kommunikatives, kulturelles und soziales Gedächtnis im Umgang mit dem Alter(n) zugleich fungieren. Zudem als Archiv, Aufschreibsystem und Artikulationsinstanz für individuelle Auseinandersetzungen mit dem Alter(n), wodurch verstärkt zur öffentlichen Thematisierung angeregt, also die gesellschaftliche Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung der alternden Gesellschaft mitbestimmt, zumindest aber die individuelle Beschäftigung mit diesem Thema angereichert werden könnte. Ob sich hierbei allerdings die popkulturell festgefahrenen Geschlechterverhältnisse mit verändern und neu gestalten lassen, bleibt fraglich. Closing Time.

 

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