Schimmernder Dunst – Konsumrealismus und die paralogischen Pop-Potenziale
von Moritz Baßler und Heinz Drügh
9.8.2024

Literarisches Coca-Cola-Country

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 60-65]

Schon weil bis heute niemand, auch wir nicht, so genau sagen kann, was Popliteratur eigentlich ist, wäre es jenseits medienaktueller Kursschwankungen wenig überzeugend, sie totzusagen. Versteht man darunter zunächst schlicht jene Literatur, die weiß, dass unsere dominante Kultur über Markt und Medien organisiert ist, und dies weder kaschiert noch sich selbst davon ausgenommen wähnt, so könnte man unseretwegen auch einfach von ›Literatur‹ sprechen, gäbe es nicht nach wie vor ein breites Schrifttum, für das dies eben nicht zutrifft und das sich gerade deshalb im emphatischen Sinne für ›Literatur‹ hält. Immerhin ist mit der letzten explizit so bezeichneten Welle von Popliteratur in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die Grenze zwischen Popkultur und literarischem Text allgemein sehr viel durchlässiger geworden. »Konsumgüter definieren die Charaktere«, lautet ein Grundsatz von Jan Brandts »Manischem Realismus«, »Medien werden als Teil der Wirklichkeit wahrgenommen« ein anderer – hier haben wir eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner. Heute spricht auch ein gut bildungsbürgerlicher Roman wie Anna Katharina Hahns »Am Schwarzen Berg« ganz selbstverständlich von Abba, Orangina und TKKG – die Katalogtexturen der Neunziger haben ihren historischen Zweck erfüllt, die Bresche ist geschlagen.

Anders als gängige Einschätzungen in den Feuilletons es suggerieren, hat die Popliteratur den Kapitalismus und seine Kultur ja nie bloß breitbeinig affirmiert. Sie hat nur die Lebensumstände in westlichen Überflussgesellschaften als ›conditio‹ zeitgenössischer Existenz anerkannt und in ihrem Funktionieren ästhetisch in den Blick gerückt, und zwar ebenso in ihren beglückenden wie in ihren deprimierenden Facetten. Den Erzähler von Rolf Dieter Brinkmanns Roman »Keiner weiß mehr« zieht es ebenso manisch in die Kaufhäuser, wie er Waren und Kunden, laut seiner berühmten Tirade, »zusammenficken« möchte. Und der Held von Christian Krachts Roman »Faserland« ist bekanntlich nicht bloß ein Konsumknecht oder Markenfetischist, sondern auch ein deprimierter Wohlstandsverwahrloster mit beträchtlicher Neigung zum Erbrechen.

Lässt man sich von der nicht sehr erhellenden Debatte um seinen vermeintlichen Protofaschismus den Blick auf Krachts jüngsten Roman »Imperium« nicht gänzlich verstellen, so bemerkt man, dass dieser Text neben vielem anderen auch eine Geschichte darüber erzählt, wie wir (als Konsumenten) geworden sind, was wir sind. Mit der Figur des esoterischen Vegetariers, genauer Frukti-, noch genauer Kokovoren August Engelhardt taucht der Text, vergleichbar T.C. Boyles heiterem Roman »The Road to Wellville« über den Lebensreformer und Gründer der Firmendynastie Kellogg, in die Frühgeschichte einer auch heute noch bedeutsamen naturbewussten Ernährungsweise ein. Auch wenn die Zeit der Listen und Markenkaskaden in der Popliteratur passé zu sein scheint, verzichtet »Imperium« nicht darauf, Produkte wie Palmin-Kochfett oder den berüchtigten Brotaufstrich Vegemite beim Namen zu nennen sowie – und dieser Zusatz ist entscheidend – kulturpoetisch mit der vorherrschenden Kolonialpolitik und Rassenideologie zu verknüpfen. Ebenso witzig wie melancholisch wirkt das Ende des Romans, in dem das mal auf liebenswert-skurrile, mal auf dämonische Weise irrationalistische Europa als Vormacht durch die moderne, in ihrer technischen Effizienz durchaus zuckrig-süß und keineswegs unangenehm daherkommende Zentralmacht Amerika abgelöst wird: »Schwarze GIs« geben dem alt und vergessen auf seiner Insel in den Wahnsinn weggedämmerten Engelhardt, »aus einer hübschen, sich in der Mitte leicht verjüngenden Glasflasche eine dunkelbraune, zuckrige, überaus wohlschmeckende Flüssigkeit zu trinken« – wobei es sich natürlich um nichts anderes handelt als um das Symbol des amerikanischen Imperiums: Coca-Cola. Aus dem portablen Radio eines Soldaten (in der Perspektive des Insel-Einsiedlers: eine »kleine, perforierte Metallschachtel«) hört Engelhardt eine »enigmatische, stark rhythmische, doch überhaupt nicht unangenehm klingende Musik«, und in Gestalt eines Hot Dog verspeist Engelhardt »zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert ein Stück tierisches Fleisch«.

Ins Coca-Cola-Country höchstselbst, hier »CobyCounty« genannt, springt Leif Randts jüngster Roman, der sich wie »Faserland« auf Soma liest, wie ein totalitär gewordener ›pursuit of happiness‹. In Randts fiktivem Szenario liegt die Beteiligung an Bürgermeister-Wahlen, an welche die Protagonisten vor allem die Erwartung haben, dass sich möglichst wenig ändern möge, dennoch bei sagenhaften 96 Prozent, das Wetter ist meist wunderbar, die Stadt ist ein Magnet für Kreative und Selbständige, kurz: alle »leben […] gerne hier«. Selbst sich zu übergeben unterläuft einem, anders als in »Faserland«, nicht einfach, wenn man es mit dem Konsum übertreibt, sondern wird als »rebellische Geste« semantisiert und damit wieder in den pastellfarbenen Kapitalismus des County eingemeindet. Wim, der Erzähler, hegt gar »eine gewisse Vorfreude« auf seine Konvulsionen, glaubt er dabei doch in schönstem Werbesprech »irgendwie ganz bei mir und maximal ehrlich zu mir selbst zu sein«. Werbung selbst scheint sich indes nach Auffassung des Erzählers »erledigt« zu haben. Denn »die meisten wissen jetzt wohl, dass die Shampoos von Colemen@Aura einfach die besten sind«. Randts Roman tastet folglich mit durchaus kritischem Duktus den soziokulturellen Background der kapitalistischen Überflussgesellschaft ab. Er tut dies freilich – und damit bleibt er ein pop-affiner Text – nicht in der überheblichen Form einer third-person-Argumentation, der zufolge es immer nur die Anderen sind, die dummen Konsumenten, die Lemminge des Konsumkapitalismus, die dessen vielfältigen Lockungen erliegen. Die naiv wirkende, im Duktus an »Faserland« erinnernde Rollenprosa wirft die Frage auf, ob es den Ort jenseits dieser total(itär) gewordenen Utopie bzw. Dystopie CobyCounty überhaupt gibt bzw. ein solcher angesichts der Segnungen des Kapitalismus überhaupt erwünscht ist (am Ende könnte dies ja auch eine von Kokovoren bevölkerte Insel sein).

»Mitnichten ein Nachläufer der Pop-Literatur« sei Randts Roman, schrieb Thomas Assheuer in der »Zeit«, dafür sei er »viel zu raffiniert«. Die Gegenthese lautet: Das kultursensible, kritische Potenzial, das Pop in seiner Einlässlichkeit für die Konsumkultur immer schon gehabt hat – gemäß dem Motto ›We’ve got to get in to get out‹ – ist mit einem Roman wie Leif Randts »Schimmernder Dunst über Coby County« erkennbar in der Mitte der Literatur angekommen, und zwar mit deutlich größerem Gefühl der Gegenwärtigkeit als die vielen Nachkömmlinge eines immer noch von Heidegger inspirierten Lobs provinziellen Landlebens. Die Welt der Warenfetische ist nun einmal, mit allen Ambivalenzen, das Afrika in uns, wie Hartmut Böhme in seinem großen Buch über »Fetischismus und Kultur« schreibt, und, ob wir wollen oder nicht, das »kreative Zentrum« kultureller Bedeutungsproduktion.

Als »Energiezentrum« werden die »großen Verbrauchermärkte« im Übrigen auch in Michel Houellebecqs mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten Roman »Karte und Gebiet« bezeichnet. Darunter nichts als eine jener vom Autor so gerne angebrachten Zynismen zu verstehen, griffe zu kurz, hält man sich die jüngste Konjunktur des Supermarktsujets vor Augen. So eröffnet ein Autor wie David Wagner seinen Roman »Vier Äpfel« ganz im Geiste Prousts: »Lange Zeit bin ich gar nicht gern in Supermärkte gegangen«. Er spekuliert dabei aber nicht bloß auf die durch die Fallhöhe von Combray zu REWE verursachte Kontrastkomik. Der Supermarkt wird vielmehr in Wagners kultureller Phänomenologie zu einem »Museum der Dinge und Marken«, ja zum »zeitgenössischsten Ausstellungsraum überhaupt«: »denn hier steht und liegt ja das, womit und wovon wir leben«. Bemerkenswert bleibt indessen, dass solche Streifzüge durch die Welt der Käuflichkeit heute keineswegs mehr ein irgendwie im selbst käuflichen Pop angesiedeltes Nischenphänomen sind, sondern umgekehrt, durch das Ästhetisch-Salonfähig-Werden des Pop nun auch in ›der Literatur‹ angekommen sind. Dass man Phänomene der Massen- und Populärkultur für literaturfähig hält, ist in vieler Hinsicht Verdienst und Erbe jener nicht beschönigenden literarischen Realismen, in deren Reihe auch die Pop-Ästhetik gehört. Dass dies Formen der Kritik nicht ausschließt, sondern erst legitimiert, wird bei Houellebecq geradezu emblematisch deutlich in jenem vom Protagonisten, dem Künstler Jed Martin, schließlich zerstörten Gemälde »Damien Hirst und Jeff Koons teilen den Kunstmarkt unter sich auf«, das zwei Hauptakteure jener oft kritisierten Drift der Gegenwartskunst zum Markt wie zur Celebrity-Kultur zeigt.

Anstatt sich von einer so verstandenen Popliteratur zum Zwecke bürgerlichen Distinktionsgewinns immer noch reflexhaft zu distanzieren (ihr die künstlerische Seriosität abzusprechen, im Zweifel auf internationale Produktion hinzuweisen, die viel Bedeutenderes hervorbringe etc.), wären Literaturkritik und -wissenschaften also zunächst einmal aufgefordert, das in ihr manifeste Verhältnis von Konsum und Literatur auf der Höhe seiner Komplexität zu erfassen.

Wim in »Schimmernder Dunst« etwa arbeitet als Literaturagent. »Unter den Jungautoren, die wir vertreten«, so bemerkt er, »gibt es einen Trend zur Erinnerungsprosa, zur sinnlichen Nostalgie.« Was für CobyCounty gesagt wird, gilt auch für unser Coca-Cola-Hinterland: In der Tat geht es – im Gegensatz zum urbanen ›Gerade Eben Jetzt‹ der Neunziger – in vielen Gegenwartstexten um die Rekonstruktion einer Popsozialisation, die in Deutschland immer noch vorrangig in der Provinz erfolgt: »Du trägst dein Dorf immer mit dir rum« (wie es im Hit aus der »Dorfpunks«-Inszenierung von Studio Braun hieß). Groß angelegte Roman-Projekte wie das Gesamtwerk von Frank Schulz, Gerhard Henschels Romane und neuerdings Jan Brandts ostfriesische 900-Seiten-Saga »Gegen die Welt« wären hier zu nennen. Wenn die Literatur der Neunziger sich (und uns) eine globale Popenzyklopädie im Modus meta-ironischer Sophistication erschlossen hatte, dann wird Pop jetzt und hier historisch und als ›local knowledge‹ erfasst. Wobei ›historisch‹ vor allem eine (auto‑)biografische Prägung bezeichnet, in der die Helden in ihrer ästhetischen Selbstpositionierung längst nicht mehr so frei erscheinen wie ihre Vorgänger der »Tristesse Royale« – tatsächlich hat man in der sensiblen Phase eben wohl doch eher Sweet, AC/DC oder Heavy Metal gehört als Devo, Pulp oder TripHop. Selbst unsere Poptheorie entstand ja weitgehend auf Schulhöfen, woraus bereits Dietmar Daths Brief-Essay-Roman »Die salzweißen Augen« erzähltechnische Konsequenzen gezogen hatte. Und wo es kein Dorf ist, da ist es der Kiez, in dem die Helden von Rocko Schamoni und Heinz Strunk, die Partymacher in Tino Hanekamps »So was von da« oder Frank Schulz’ neuerfundene Detektivfigur (»Onno Viets und der Irre vom Kiez«) die Freuden und Probleme einer in die Länge gezogenen Post-Adoleszenz ausleben. Denn Pop-Existenz und erwachsenes Erwerbs- und Familienleben – das geht nach wie vor nicht zusammen. »Ohne die Werktätigen«, lautet die T-Shirt-reife Einsicht bei Hanekamp, »wären wir selber welche.«

»In der internationalen Presse kursiert seit Jahren die Ansicht, dass die Texte aus CobyCounty stilistisch zwar perfekt seien, dass ihnen jedoch der Bezug zur existenziellen Not fehle.« Das kann man von den Pop-Sozialisations-Romanen nun allerdings auch nicht behaupten, vielmehr lauern unter der Popoberfläche hier doch auffällig häufig Törleßke Gewalt, sozial prekäre Verwahrlosung, pathologische Borderline-Zustände und sogar AIDS und Krebs. Die Popliteratur der 1990er Jahre hatte diese Art schwerer Zeichen weitgehend vermieden und sich damit wohltuend vom zur selben Zeit propagierten ›neuen‹ realistischen Erzählen unterschieden. Tappt die neueste Variante der Popliteratur, indem sie den Pop in der Lebenswirklichkeit erdet, erneut in die Realismusfalle?

In Thomas Melles »Sickster« sind die Protagonisten immerhin schon ins neoliberale Arbeitsleben vorgedrungen (»Manche mögen’s erwachsen.«), ihre Tätigkeit als »nervöse Supertasker« im Marketing mündet allerdings unmittelbar in Alkoholismus und Psychosen: »Ihr naht euch wieder, krankende Gewalten.« Doch haben diese nicht das letzte Wort des Romans: Just aus der psychiatrischen Anstalt heraus wird hier ein ›practical joke‹, ein situationistischer Erstschlag gegen die etablierte Ordnung inszeniert, der das literarische Spiel gegenüber dem vermeintlichen Ernst des Lebens rehabilitiert. Im fiktionalen Entwurf eines Grenzbereichs von Pop zur Lebenskunst gelingt es dabei, wie prototypisch bereits in den »Hartmut«-Romanen von Oliver Uschmann oder auch bei Schamoni, die Verfestigung der aufgerufenen Problembereiche zu schweren Sinnankern der Eigentlichkeit zu vermeiden.

Vielleicht ist Pop, mit einem Wort von Melles Figur Magnus Taue, einfach »zu schön, um ihn mit den Donnerwolken der Faktenlage zu verdüstern.« Wenn PeterLicht singen kann: »Der Kapitalismus, der alte Schlawiner, jetzt ist er endlich vorbei« (»Lied vom Ende des Kapitalismus«) und Tarantino die nationalsozialistische Elite durch eine Jüdin in einem Pariser Kino verbrennen lässt (»Inglourious Basterds«), dann blitzt ein paralogisches Potenzial von Pop auf, das doch gerade in Erzählliteratur seinen Ort finden müsste. In ihren avancierteren Formen, bei Kracht, Randt, auch Herrndorf, tendiert diese denn auch über eine wie auch immer reflektierte Wiedergabe unserer Lebenswelt hinaus. Krachts dritter Roman (»Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«) hat ja explizit die Form eines parahistorischen Romans, in »Imperium«, so hat die Kritik schnell festgestellt, stimmt kaum ein historisches Faktum genau – wenn man 1995 »Faserland«, den Auslöser des Popliteratur-Booms, etwas genauer gelesen hätte, so hätte einem auch dort schon die Poetologie eines Erzählens ›an der Baumgrenze‹ auffallen können, das sich der Protagonist erträumt:  »und ich könnte so tun, als würde ich alles wissen. Ich könnte […] alles erklären, und die Kinder könnten niemanden fragen, ob es denn wirklich so sei, weil sonst niemand da oben wäre. Ich hätte immer Recht. Alles, was ich erzählen würde, wäre wahr.« Der Traum eines paralogischen Erzählens, das sich nicht ständig gegenüber irgendwelchen historischen Wahrheiten zu rechtfertigen hätte und trotzdem wahr wäre, Döblins Traum, »dem Wissen und der Wissenschaft zum Trotz mit der Realität zu spielen« und dabei Welten zu erschaffen, in denen wir uns mit Lust und intellektuellem Gewinn aufhalten – das ist das genaue Gegenteil eines Literaturbegriffs, der eine politische Einschätzung zur Lage Israels in linksbündige Zeilen packt und das für ein Gedicht hält. Statt immer noch oder schon wieder nach einem Realen zu suchen, das vermeintlich wirklicher ist als die Simulakren unserer Medienkultur, statt (kunst‑)religiöse Transzendenzen, magische Hinterwelten und dabei immer wieder aufs Neue die schweren Zeichen von Auschwitz bis Securitate, von Golgatha bis zur Atomrakete zu bemühen, legt unsere Literatur einen schimmernden Dunst über CobyCounty, in dem wir uns trotzdem, oder gerade deshalb, viel besser erkennen.

 

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