Pop: Annäherung an ein gegenwärtiges Phänomen
von Nadja Geer
9.8.2024

Poptheorie 2012

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 108-115]

Kommunikation in der Konstellation

Der Immanenz des Pop, seinen Zeichen, Codes, Strukturen und Architekturen steht immer die Kontingenz seiner diskursiven Entdeckung gegenüber – der utopische Charakter des Schreibens über Pop hat hier seinen Ursprung. Die Texte spüren der Idee hinterher, die Pop haben könnte – oder, anders ausgedrückt, Pop hat diese Idee, aber seltsamerweise weiß man nicht genau welche und man weiß nicht genau, wo diese Idee aufzufinden ist.

Pop muss darum aber gerade nicht vollkommen auf dem Teppich bleiben, wie uns Thomas Hecken [in seinem Aufsatz in Heft 1 von »Pop. Kultur und Kritik«] nahezulegen scheint. Ist Pop wirklich am Ende seiner Bestimmung als imaginierter Widerstand angekommen? Warum so streng? Spielen wir doch noch ein bisschen weiter, aber nicht, indem wir dem »Machtspiel« noch ein paar Regeln hinzufügen, sondern indem wir das spielerische Moment, das Pop diametral dem Konzept der Moderne gegenüberstellt, noch weiter ausreizen.

Während die Moderne nach dem Krieg weiter an der Rationalisierung der Lebenswelt arbeitete, entfaltete sich im Pop der 1960er-Jahre – als Reaktion auch auf die kritische Ernsthaftigkeit der modernen Kultur – das Spielerische. Andy Warhols Factory: Das war doch auch ein großer Spaß. Die Posen, der Quatsch, das Eitle – alles Strategien, wie man im Nachhinein deuten würde, um sich dem Druck einer hierarchischen Moderne zu widersetzen. Wenn Roger Behrens schreibt, Pop sei »die Oberfläche als realisierte Utopie« (Behrens 2011), dann geht das für mich in die Richtung, in die auch Hecken Pop stellt: Es sei die größte Utopie des Pop, dass Pop endgültig aufräume mit dem Mythos vom Licht am Ende des Tunnels.

Ich glaube hingegen, dass das Prinzip Pop die Idee einer Utopie, das Prinzip Hoffnung, nicht ad acta gelegt, sondern individualisiert und verkleinert und damit lebbar gemacht hat. Die großen Geschichten wurden durch die kleinen ersetzt, der große Gegensatz durch viele kleine Gegensätze, die große Flucht durch viele kleine Fluchten. In der Praxis wurde Utopie zur Realutopie, und zwar in zwei Formen: Im realen Rausch und der Intensität des Nachtlebens sowie im imaginären Konstruieren von Möglichkeitsbedingungen einer anderen Gesellschaft, anderen Arbeitsbedingungen, einer anderen Kultur.

Beiden Formen ist gemein, dass es sich um Praxisformen handelt, einmal im Realen, das andere Mal im Möglichen. Auf ideale Weise kommen diese beiden Praxisformen in den nicht-diskursiven Inszenierungen von René Pollesch zusammen. Er spürt auf der Bühne dem hinterher, was Thomas Oberender (1997: 45) das »Einschmelzen von Glück ins Machbare«  genannt hat. Der Durchökonomisierung der Gesellschaft im Spätkapitalismus setzt Pollesch sowohl inszeniertes Pop-Wissen als auch inszeniertes Pop-Sein entgegen. Er kombiniert sozusagen die entlastende ›naive‹ Poprezeption des Fans – ich muss Pop nicht verstehen, ich muss nur Pop sein – mit einer bestimmten Form von Kritik, die er durch das Samplen ausgewählter, hipper Theorie performativ in Erscheinung treten lässt.

Der Grund, warum das Theater von René Pollesch von seinem zumeist jungen Publikum so gut verstanden wird, liegt meiner Meinung nach in der spezifischen Konstellation von Polleschs Inszenierungen: In ihrer Mischung aus kritischer Gesellschaftstheorie und semantisch sowie emotional aufgeladenen Popsongs senden sie Signale aus, durch die eine idiosynkratische, indirekte Kommunikation mit den Gehirnen der Rezipienten stattfindet. Polleschs ganz auf momentane Reize setzende Inszenierungen greifen beim Zuschauer auf das diesem eigene Wahrnehmungsprogramm Pop zu. Darin unterscheidet er sich vom Popdiskurs, in dem Pop viel zu häufig als »Wahrnehmungstechnik« (Meinecke 2000: 17) gesetzt wird und der so aus Pop eine auf Spezialwissen aufbauende Technik macht, die man erst einmal erlernen muss, indem man sich Wissen aneignet und es ›richtig‹ einsetzt. Pollesch bricht das Geheimwissen Pop auf. Seine Inszenierungen sind ein ›Vorschlag‹, und er vertraut darauf, dass das Publikum die ihm dargebotene Konstellation schon verstehen wird. Indem Pollesch dem erlernten Wissen das erfahrbare Wissen entgegensetzt, dehierarchisiert er den Popdiskurs – ohne damit allerdings das kritische Potenzial von Pop zu schmälern. Seine choreografierten  Konstellationen sind für die Generation reizvoll, in deren Köpfen Pop und Politik zusammengehören.

Trotz seines grundlegend demokratischen Charakters ist auch Polleschs Pop-Theater in gewisser Hinsicht eine ›nicht-anschlussfähige‹ Kommunikation, es spricht nur zu den Pop-Sozialisierten. Polleschs Theater steht für den Kommunikationsumbruch, der die Gegenwart kennzeichnet: Heute geht zunehmend der Kontakt zu dem Kommunikationssystem ›Hochkultur‹ verloren. Polleschs Inszenierungen schließen den klassischen Bildungsbürger aus, da sie dem System des Bildungsbürgertums das System Pop entgegensetzen. Der Zugang zu diesem System als Wahrnehmungsprogramm ist unabdingbar, um Polleschs Choreografie einer kritischen Position zu verstehen.

Polleschs Theater stiftet somit eine Opposition zum bürgerlichen Theater, in dem sich der ›homo oeconomicus‹ an den gesellschaftlichen Verhältnissen abarbeitet, um seinen Platz darin zu finden. Im bürgerlichen Theater werden zumeist individuelle Kämpfe oder Entwicklungen dargestellt, getragen von Konzepten wie Ehre, Macht und Liebe: Allesamt Konzepte, die auf einer Anhäufung symbolischen Kapitals basieren, das dann irgendwann gewinnbringend eingesetzt werden kann. Das Prinzip des Anhäufens von Kapital jeglicher Art ist dem bürgerlichen Denken eingeschrieben. Pop hingegen, als ins Machbare eingeschmolzene Glück, wirft nichts ab. Pop ist der Augenblick, der Rausch und deshalb – aus einem bürgerlich-kapitalistischen Blickwinkel – die pure Verschwendung.

Dennoch ist Pop nicht der Vorschein einer proletarischen Revolution, ist nicht, im Sinne Heinrich Heines, das »neue Lied«, das dem himmlischen Eiapopeia Konkretion und Schärfe entgegensetzt. Pop ist höchstens das Eiapopeia der Erde. Doch fallen wir nur in einen Minutenschlaf, aus dem wir dann erfrischt wieder aufwachen. Größere Aufmerksamkeit gebührt den politischen Implikationen, die dieser kurze Augenblick einer Störung, diese Entlastung besitzt. Zu den traditionell mit Pop verbundenen kritischen Funktionen – der kulturellen Dehierarchisierung, also der Überwindung der bürgerlichen Hochkultur und deren im Geschmack inkorporierten sozialen Ausschlussmechanismen, und der Subversion des Warenfetischismus durch eine Implosion der Oberflächenästhetik – muss die oben anhand von Polleschs Theater beschriebene Wirkungsweise des Pop addiert werden: Als indirekte Kommunikation, die von einer bestimmten erlebbaren Konstellation ausgeht. Pop stellt der »Müdigkeit, man selbst zu sein« (Alain Ehrenberg), die Möglichkeit eines Aufscheinens der eigenen Individualität gegenüber, die nicht, wie noch in der traditionellen Kunst, durch den eigenen persönlichen Ausdruck erfolgt – was ja nur wieder zu Stress führt –, sondern die sich in dem Erleben und möglichen Verstehen einer Konstellation ereignet. Pop wäre also in diesem Sinne eine entlastende, ›überindividuelle‹, aber dennoch nicht unbedingt kollektive Kommunikation.

Diskurs und Distinktion

Polleschs Pop-Theater prozessiert eine offene Form von Kritik. Schwieriger wird es, wenn in der Produktion diskursiver Wahrheiten kritische Standpunkte an Pop herangetragen werden. Da es sich bei Pop um ein Phänomen handelt, das theoretisch von unendlich vielen Blickwinkeln betrachtet werden kann, wird Pop auch immer wieder zur Untermauerung einer persönlichen Weltsicht benutzt. Der Popdiskurs generiert seine eigenen Wirklichkeiten und wird darum manchmal vielleicht auch blind gegenüber gesellschaftlichen Wirklichkeiten. So kann aus feministischer Sicht eine Allianz zwischen Phallogozentrismus und Popdiskurs kritisiert werden. Denn auch wenn es oft äußerst kreative und originelle Köpfe sind, die dem Pop Sinn einhauchen, so sind es doch zumeist männliche Köpfe.

Deshalb stellt sich die Frage, wie man Pop zur Sprache bringen kann, ohne männlich- dominante Muster zu replizieren. Dieser Versuch wurde in den letzten dreißig Jahren im außeruniversitären Popdiskurs durchaus unternommen – allerdings nicht konsequent genug; darum blieb oft ein Widerspruch zwischen dem, was gesagt, und dem, wie es gesagt wurde. Zwar verfolgte der Popdiskurs inhaltlich die Emanzipation des Mannes von überkommenen Imagines der Männlichkeit – Disko statt Rock, Dandy statt Soldat, queer statt straight –, formal gesehen aber war und ist er männlich-autoritär.

In den letzten drei Jahrzehnten hat das männliche Subjekt des außeruniversitären Popdiskurses hart daran gearbeitet, dass die Beschäftigung mit Popmusik zu einem angesehenen und anspruchsvollen Segment der deutschen Diskurskultur wird. Dabei glich das Reden und Schreiben über Pop nicht selten einem Kampf. Die 80er-Jahre-Modelle der Subversion oder Sabotage verweigerten ebenso die Kommunikation wie die oftmals bei Pop-Intellektuellen spürbare Attitüde des ›Macht-an-sich-reißen-wollens‹. Sichtbar wird darin die ambivalente Haltung der Popkritik zwischen gesellschaftskritischem Eingreifen und einer Art »arroganten Protosolipsismus«, wie ihn Dick Hebdige seiner eigenen jugendlichen Persona als Popkritiker im nachfolgenden Essay hier im Heft zuspricht.

Die charakteristischsten Merkmale der linken Popkritik waren Sophistication und Radikalität. Ihre »Polarisierungsthesen, Entscheidungsgesten und das Befriedigungsverlangen« (Bude 2010: 70) können im Nachhinein als wenig mehr als eine bürgerliche Form der Aufmerksamkeitsökonomie gelesen werden. Um diese Aufmerksamkeit musste sich die Generation der »78er« sorgen, wie Reinhard Mohr schreibt, denn sie drohte durch den »imaginären Rost des Zeitgeistes« (Mohr 1992: 10) zu fallen. Zu ihrem Kennzeichen wurde ein nietzscheanisches »Eminent-sein-Wollen im Geistigen« (Bohrer 2007: 663). Über die Sophistication als ironische Pop-Gewitztheit und -Gelehrtheit begannen die Bohemiens des Popdiskurses ein Kräftemessen mit den Bürgern – sprich: dem bürgerlich dominierten Feuilleton. Dabei wurde in den unterschiedlichsten Medien und Formaten nicht nur ein Generationenkonflikt ausgefochten, sondern es wurde auch neu definiert, was als legitime Kunst und Kultur gelten sollte. Mit Hilfe der Sophistication wurde die Kunst des Pop gegen die Kunstsinnigkeit des Bildungsbürgertums in Stellung gebracht – insofern kann man auch Polleschs oben beschriebenes Theater als Produkt der Auseinandersetzung sehen, die vom Popdiskurs bereits länger geführt wurde.

Bei der Frage nach der Funktion der Sophistication im Spiel um die Macht in der bundesrepublikanischen Kulturlandschaft kommt die Ökonomie des Symbolischen ins Spiel. Genau hier geriet der Popdiskurs in Deutschland in eine Aporie, an der der Denkstil der Sophistication nicht unbeteiligt ist. Denn die Sophistication wandte sich einerseits mit einer neuartigen, jungen Form der Intellektualität gegen alte elitäre Strukturen, andererseits arbeitete sie mit ihrem Habitus der Distinktion, der einer allgemeinen Verständlichkeit entgegenwirkte, undemokratischen und elitären Strukturen wieder zu. Anspielungsreichtum, Spezialwissen und geheimbündlerische Strategien bildeten im Popdiskurs kommunikative Hürden und ließen den Diskurs, mit einem Wort von Heike Blümner, zur »Penisfechterei« (2001: 51) geraten. Hier mag denn auch der entscheidende Grund zu finden sein, warum sich die meisten Frauen aus dem außeruniversitären Popdiskurs zurückzogen. Selbst Clara Drechsler, die man als Grande Dame der Pop-Gewitztheit bezeichnen kann, hielt es nicht allzu lange aus in einem Milieu, in dem Wissen vorausgesetzt und gesetzt, aber nicht unbedingt friedvoll kommuniziert wurde: »Etwas zu kapieren oder erklärt zu bekommen, war eine Belohnung, kein Recht« (Drechsler 1995: 56).

Pop, Kritik und Narzissmus

Dem Foucault’schen Denken folgend stand die Popkritik lange Zeit für eine Kritik ohne normative Perspektive. Mit anderen Worten: Man war sich zwar einig, aber man wusste nicht wirklich worüber. Der Standpunkt der Popkritik fluktuierte und passte sich dem jeweiligen Zeitgeist an. In dem Versuch, Distinktionen im intellektuellen Diskurs zu setzen, wurden nicht selten Differenzen und Hierarchien aufgebaut, die nichts mehr mit dem dehierarchisierenden Wesen des Pop gemein hatten. Der Popdiskurs wurde zu einer Art fröhlicher (Geheim-)Wissenschaft, zu einer Wissenschaft also, die nicht unter der Knute des wissenschaftlichen Denkens stand. So verabschiedete man einerseits, durchaus zu Recht, den herkömmlichen Typus des Akademikers, der noch geprägt war von einer patriarchalen Form der Maskulinität – mit dem Mann als Versorger und von sich selbst absehenden Familienoberhaupt, das sich um seine Kernfamilie ebenso besorgt zeigen muss wie um die Gesellschaft seines Landes. Andererseits ließ der Popdiskurs so aber auch die Grundforderung der Wissenschaft zurück: Die Nachvollziehbarkeit des Wissensgewinns. Kommt ein Wissenschaftler dieser Forderung nicht nach, setzt er sich dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit aus – ein Vorwurf, den eine außeruniversitäre Form der Intellektualität nicht zu fürchten hat.

Da die Popwissenschaft zunächst außeruniversitär stattfand – in Kneipen, im Club, in Musikmagazinen wie »Sounds« und »Spex« –, musste sie ihren experimentellen Charakter nicht offenbaren. Es entwickelten sich hochverfeinerte Debatten, in denen die ästhetische Kultivierung wichtiger war als die Kommunikation. Der Humus dieses Denkens war ein elitäres Bewusstsein, sein »Narzissmus der kleinen Differenzen« (Sigmund Freud) drückte sich in einem gebrochenen, anspielungsreichen und ironischen Schreibstil aus, der vorrangig auf der Ebene des lustbesetzten Vorzeigens des eigenen symbolischen Kapitals operierte. Aus diesem fantasievollen Denken resultierte der ›Glamour‹ des Popdiskurses, auf den die Akademiker jetzt mit Neid schauen. »Shine on you crazy diamond«, sangen Pink Floyd zu Ehren von Syd Barrett, »shine on«, schrieben sich auch die Pop-Intellektuellen auf die Fahne und kreierten damit eine Intellektualität, der man ihre ›Sexyness‹ nicht absprechen kann.

Wenn die außeruniversitären Pop-Intellektuellen also lange Zeit als Glamourboys in Erscheinung traten, schließt sich daran automatisch die Frage an, ob ihre Anwesenheit in der deutschen Kulturlandschaft die Existenz intellektueller Glamourgirls verhindert hat oder ob es doch nicht eher an uns ist, glamouröses Denken einfach selbst zu produzieren – so wir dies wollen. Auch die »Zeit«-Autorin Susanne Mayer machte sich vor ein paar Jahren unter dem Titel »Unsere Glamourgirls« Gedanken darüber, warum es in Deutschland keine glamourösen weiblichen Intellektuellen gebe. Mayer kam zu dem wenig konstruktiven Schluss, dass sich Frauen in der »deutschen Landschaft« nicht zu produzieren wagten, weil die »Rolle der intellektuellen Frau« »nicht deutlich vorgezeichnet« sei (2008: 45). Offensichtlich spiegelt der intellektuelle Popdiskurs nur den Mainstream wider.

Macht man sich einmal die Mühe, in Anthologien die Aufsätze, in denen das Wort ›Pop‹ fällt, hinsichtlich des Geschlechts der Autoren zu überprüfen, dann kann man ungefähr ein 3:1-Verhältnis feststellen – bestenfalls. Autorinnen schreiben über Kunst und Kritik, sie schreiben über Kapitalismus und Konsum, sie schreiben über Jugendkulturen, aber sie theoretisieren Pop nicht. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass Frauen sich – mal mehr, mal weniger – bewusst dagegen wehren, dass der Popdiskurs kein herrschaftsfreier Diskurs ist in seiner außeruniversitären Form, der ewigen Setzung, der Ironie, dem Präsentieren eines sich mühselig angeeigneten Spezialwissens. Somit handelt es sich beim Popdiskurs, zumindest im Sinne von Jürgen Habermas, auch nicht um einen demokratischen Diskurs. Frauen scheinen zu demokratisch zu sein – wenn auch nicht für den Pop, der in sich ja dehierarchisierend wirkt, so doch für den Popdiskurs. Gedrechselt und gewitzt, besserwisserisch und kompetitiv, elegant und sophisticated scheint in den Texten des außeruniversitären Popdiskurses ein penetranter Narzissmus auf.

Es scheint, als sei somit im Popdiskurs der Narzissmus wieder bei seinem männlichen Ursprung angelangt, der mythischen Figur des Narziss. Noch in den 1950er Jahren hat sich allerdings Simone de Beauvoir mit dem Narzissmus als Kompagnon des weiblichen Geschlechts auseinandergesetzt. Für sie war es sogar »wahr«, dass »die Umstände die Frau stärker als den Mann dazu ermuntern, sich der eigenen Person zuzuwenden und sich selbst zu lieben« (Beauvoir 2011: 782). Die Narzisstin sehe fremden Beifall als eine »unmenschliche, geheimnisvolle, unberechenbare Macht« an, die man »durch Zauberkraft beschwören muss« (ebd.: 799). Analog dazu waren es im Jazz »sophisticated ladys«, die sich in Szene setzten und durch auffälligen Stil hervortaten.

Nun, in den 1980er-Jahren, die ich als Geburtsstunde des Pop in Deutschland betrachte, waren die Umstände leider etwas anders gelagert: Der damals recht geläufige Ausdruck ›Poser‹ lässt es erahnen: Im Pop und in dem daraus resultierenden Diskurs wurde Narzissmus zu einer Strategie der männlichen Selbstermächtigung. Er kann für den Versuch stehen, aus dem ödipalen bürgerlichen System auszubrechen, das dem Mann immer die Rolle des sich fortpflanzenden Versorgers zugedacht hatte. Ohne von weiblicher Seite richtig bemerkt zu werden, wurde im ästhetisierten Popdiskurs der 80er Jahre aus dem Narzissmus und der Pose plötzlich ein männliches Konzept – und beileibe nicht nur im Diskurs. Ich erinnere mich an die Lieblingsbeschäftigung einer befreundeten Jungsclique, »Spex«-Leser und im Dresscode der Hamburger Band Palais Schaumburg folgend, die sich damals im Stadtpark zu Fotosessions trafen. Sie lichteten sich in einem Stil ab, den man nur mit Hilfe eines Buchtitels fassen kann: »Brideshead Revisited«. In Vorkriegsschick gewandet, mit Knickerbockern und Tolle, posierten sie für die Kamera – vom weiblichen Geschlecht aber, das doch nach Simone de Beauvoir zum Exhibitionismus neigt, war auf ihren Aufnahmen keine Spur.

Mag man dies als bloße Anekdote abtun, es bleibt für den Popdiskurs dennoch die Frage: Warum zeigten die Frauen hierin solche Enthaltsamkeit, ist doch die Fähigkeit zur intellektuellen Pose per se ebenso wenig männlich wie ein signifikanter literarischer Stil? Vielmehr wird die performative Geste erst in dem Moment männlich, in dem sie nicht als solche selbstreflexiv erkannt und markiert wird. Weibliches Lesen ist, wie Barbara Vinken (1992: 17) schreibt, das Aufweisen einer Differenz. Männlicher Stil ist, so könnte man analog dazu formulieren, das Verdrängen dieser Differenz. Wenn man erkennt, dass »die Ambivalenz im Inneren jeder Konstruktion des Phallus zu keinem Körperteil gehört, sondern grundlegend übertragbar ist« (Butler 1997: 96), dann wird auch der Stil zu einer Taktik, einer Strategie im Symbolischen, die unabhängig von einer Geschlechteridentität eingesetzt werden kann. Dennoch kommt Stil  – auf jeden Fall im Popdiskurs – fast ausschließlich als eine Taktik im Dienste der »Ausdehnung und rationalen Rechtfertigung des ›Gebiets der Männlichkeit‹« (Butler 1991: 34) zur Anwendung.

Naheliegend scheint es mir, den Widerstand intellektueller Frauen gegen das intellektuelle Posieren diskursgeschichtlich zu erklären: Vielleicht wehren wir uns so gegen Nietzsches Übertragung eines misogynen Klischees in den philosophischen Diskurs, gegen seine Behauptung, die Oberfläche sei des »Weibes Gemüth« (Nietzsche 1976: 69). Das kulturell und kapitalistisch instrumentalisierte Zur-Schau-Stellen des weiblichen Körpers könnte das Zur-Schau-Stellen des eigenen weiblichen Geistes ebenfalls desavouiert haben. Dennoch scheint es mir geboten, dass wir uns eine performative Intellektualität aneignen, wie sie die Glamourboys bereits besitzen; wir sollten das ›coole Wissen‹ des Pop keinesfalls dem männlichen Geschlecht überlassen.  Denn glaubt man Jon McKenzie, dann heißt es zukünftig: Perform or else – stell dich dar oder verschwinde in der Versenkung.

Doch auch wenn man sich auf das Performative des Popdiskurses einlässt, bleibt eine Differenz zum Pop bestehen. Pop als situative Kommunikation in der Konstellation zu denken – als verlängerten Augenblick – bedeutet, ihn als zeitlich bedingt zu konstituieren. Damit ist Pop gebunden an die Wahrnehmungsmuster, Konventionen und Bedingungen der jeweiligen Gegenwart, wodurch es letztlich unmöglich ist, ihn außerhalb dieses Koordinatensystems zu bestimmen. Möglich wäre jedoch, nach seiner Wirkungsform und seinem Materialverhältnis zu forschen – anders ausgedrückt: nach seiner »agency«. Würde man also das anthropozentrische Denken durch ein neues Denken vom und im Material ersetzen, ließe sich der Phallogozentrismus im Pop vielleicht überschreiten. Denn dieses Denken der »New Materialisms« (vgl. Coole/Frost 2010) würde es ermöglichen, sich der subjektiven Verwobenheit in den Prozess des Signifizierens kritischer zu widmen. Damit könnte schließlich die Raumsituation, die Polleschs Inszenierungen rahmt, ein Modell bilden, um sich Pop künftig theoretisch anzunähern: So wie der Zuschauer in Polleschs Inszenierungen gleichzeitig distanziert und involviert ist, so könnte auch eine zukünftige Poptheorie der Immersion ins Material Rechnung tragen.

 

Literatur

Beauvoir, Simone de (2011): Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau [Le Deuxième Sexe (1949)], Rowohlt bei Hamburg.

Behrens, Roger (2011): Alles Pop, Ende Pop, Internetquelle: beatpunk.org/popkritik/alles-pop-ende-pop (letzter Zugriff 10.04.2012).

Blümner, Heike (2001): Pop oder was aus einem verlockenden Versprechen wurde, in: Jochen

Bonz (Hg.): Sound Signatures, Frankfurt am Main, S. 55-60.

Bohrer, Karl-Heinz (2007): Kein Wille zur Macht, in: Merkur 61, S. 659-668.

Bude, Heinz (2010): Aufsteiger, Absteiger, in: Die Zeit/Zeit Literatur, Nr. 40, September, S. 69-70.

Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main.

Butler, Judith (1997): Körper von Gewicht, Frankfurt am Main.

Coole, Diana/Frost, Samantha (Hg.) (2010): New Materialisms. Ontology, Agency, and Politics, Durham und London.

Drechsler, Clara (1995): Lebe sparsam – und koche nach Rezept, in: Spex, Nr.10, S. 56-59.

Mayer, Susanne (2008): Unsere Glamourgirls, in: Die Zeit, 5. September, S. 43.

Meinecke, Thomas (2000): Ich als Text (Extended Version), in: Ute C. Krupp/Ulrike Janssen (Hg.): Zuerst bin ich immer Leser. Prosa schreiben heute, Frankfurt am Main, S. 14-26.

Mohr, Reinhard (1992): Zaungäste, Frankfurt am Main.

Nietzsche, Friedrich (1976): Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883–1885], Frankfurt am Main.

Oberender, Thomas (1997): Angst in der Popmoderne, in: Die Zeit, 11. Juli, S. 45.

Vinken, Barbara (1992): Dekonstruktiver Feminismus, Frankfurt am Main.

 

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