Über Michaela Meise, Annette Kelm, Linda Spjut und Roseline Rannoch
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 54-59]
Die Pop-Art konnte bestimmte Themen, Materialien und Grenzen aufblasen, bis sie platzten. Abgesetzt haben sich diese Kleinstpartikel und Bröckchen überall. Pop ist heute so präsent, dass es oft kein ausdrücklich benanntes Thema mehr ist, vor allem in der zeitgenössischen bildenden Kunst. Das Set an Verfahrensweisen, das mit Pop in Verbindung steht – Stilisierungen, campe Materialerweiterungen, minimale Veränderungen des gefundenen, oft trivialen, alltäglichen oder vulgären Materials, (ironische) Affirmation ist uns nahezu zur zweiten Natur geworden.
Wenn Chris Kraus in »Where Art Belongs« mit Baudrillard behauptet, dass Kunst, genauso wie Pornografie, nicht mehr existiere, »because it is virtually everywhere«, lässt sich das erst recht und genauso simpel von der Pop-Art sagen. Zumindest hängt gegenwärtig kein Diskurs an ihr, der weitergetrieben wird. Auffallend ist mitunter lediglich die Sorge der Künstler vor dem Geschmacksurteil: ›zu poppig‹. Das ›zu‹ weist auf einen Unterschied hin, wenn auch bloß auf einen kleinen. Es scheint sich nur um eine minimale Verschiebung zu handeln, die ein negatives Werturteil nach sich ziehen könnte.
Diese »little note of ambiguity« stellt auch Hal Foster in seinem Buch »The First Pop Age« (Princeton 2012) bei all den von ihm ausgesuchten Künstlern der 60er Jahre heraus. Das Gefühl, dass die Pop-Art, sogar die Arbeiten der großen Männer Hamilton, Lichtenstein, Warhol, Ruscha, Richter, auch heute noch verteidigt werden muss, wird man bei Fosters interessanter Studie nicht los. Ihm gelingt das wie üblich über die Anbindung an den Formalismus des modernistischen Kunstdiskurses. ›Modernism You Can’t Dance to‹. Aber ist das nicht eine Aufwertungsstrategie, die Pop als politisch-ästhetischem Programm entgegensteht? Die Binaritäten – »high and low form and content, and immediacy and mediation, representation and abstraction, painting and photography, manual and machined, private and public, contemplation and distraction, and critique and complicity« –, die auch die Rede über moderne Kunst strukturierten, wurden im »First Pop Age« allerdings ineinander gefaltet. Das führte nicht geradewegs zu einer Gleichwertigkeit der Referenzen und Kategorien oder zu einem »nonjudgmental approach to popular culture«, den die Independent Group schon Mitte der 50er Jahre propagierte, sondern eher zu einer Auseinandersetzung mit den Ergebnissen der Geschmacksbildung und den dazugehörigen Referenzräumen: Foster markiert entsprechend »the very ambivalence of Pop towards high and low cultures« auf eine Weise, die beide Kategorien aufrechterhält: »often, rather than having it both ways, Pop values the two cultures even as it is also injects a modicum of doubt into our relations to each.«
Die Auswahl und Zusammenstellung der (pop-)kulturellen Vorlagen und die Form ihrer Darstellung wird, wie in der historischen Pop-Art, auch bei zeitgenössischen Positionen in den Vordergrund gestellt. Aber hat Pop noch den Elan, die Kategorien und Mechanismen unserer Wertungs- und Distinktionskataloge infrage zu stellen, zu schwächen? Oder geht es der Kunst nicht viel allgemeiner um die grundsätzliche Befragung des Materials (darunter eben auch Pop-Material), aus der dann wieder Kunst entstehen kann? Eine weitere Probe darauf sind die von Michaela Meise und Annette Kelm ausgewählten Internetfundstücke und abfotografierten Reproduktionen, die in ihrer ersten gemeinsamen Ausstellung im Bonner Kunstverein Ende 2011 unter dem Titel »Hallo, aber« zu sehen waren. Die Ideensammlung, der Dialog der befreundeten Künstlerinnen über Bilder, die sie sich hin- und herschickten und dann nach einer Auswahl an einen Plakatmaler übergaben, der die Motive an die Wand brachte, nahm in der Ausstellung den größten Raum ein. Ausgewählt und ausgestellt haben sie mehr oder weniger triviale Motive – Paisleytücher, ein Plattencover von Mike Oldfield, ein weiteres von Veronika Fischer und Band, neben einem sentimentalen Bild von Thomas Gainsborough aus dem 18. Jahrhundert, das zwei Jungen vor einer Landschaft beim Aufstellen eines Kartenhauses zeigt, Buchcover mit Tieren und Bildwitzen. Sie entschieden sich für eine »geschwächte Motivwahl«, für Dinge, die sich nicht selbst »zu ihrem guten Geschmack beglückwünschen und auf eine Art beliebig sind«. Die scheinbare Willkür der Auswahl, von den Künstlerinnen im Interview ausdrücklich herausgestellt, bewirkt eine paradoxe Rezeptionshaltung, die den Fokus gerade auf die Referenzsysteme legt, die hier gewissermaßen ins Leere laufen, und die kontextuelle und kulturelle Aufladung von Bildern allgemein befragt. Ist das noch ›low‹ oder schon Pop?
Der instabile Wert von zirkulierenden Bildern – leer oder aufgeladen, um eine weitere Differenzkategorie ins Spiel zu bringen –, wird umso augenscheinlicher, desto stärker die Verweigerung von Wertungen, eine Ästhetik des Neutralen, durchgespielt wird. Die Delegation der handwerklichen Umsetzung der ausgewählten, minimal bearbeiteten Bilder an einen Plakatmaler ist eine ästhetische Praxis – Reproduktion der Reproduktion –, die Martin Kippenberger Anfang der 80er Jahre in seiner Serie »Lieber Maler, male mir« vorgemacht hat. (Im Unterschied zu Kippenbergers Serie, die postum für zwei Millionen Pfund versteigert wurde, sind die Arbeiten von Michaela Meise und Annette Kelm mittlerweile einfach überstrichen worden). Die De- und Rekontextualisierungen, die Problematisierung von Kategorien wie Handschrift, künstlerische Autonomie und Authentizität werden durch die ganz andere ästhetische Handschrift der Reklamemalerei noch einmal umgeleitet. Die Bilder Meises und Kelms bzw. des Plakatmalers gerieten zu flachen, stilisierten, extrem künstlichen Oberflächen, die auch die Raumdimension seltsam veränderten und dennoch ganz verführerisch die Reize der Außenwerbung – man denkt sofort an Technicolor – transportierten. Die ästhetische Unentschiedenheit, die diese Arbeiten auslösen, die Verwirrung der eigenen ästhetischen Kategorien und Geschmacksurteile, ist Michaela Meise auch mit ihrer letztes Jahr erschienenen Platte »Preis dem Todesüberwinder« gelungen. Ihre Interpretationen sakraler Musik, Kirchenlieder des 16. bis 19. Jahrhunderts, sind an hippe Referenzräume schwer anschließbar, begeisterten dennoch, weil das Material, aus dem sie sich hier bediente, trivial, also aufgeladen und leer zugleich ist. In diesem Sinne kann auch Kirchenmusik Pop sein.
Weitaus brachialer gingen die Künstlerinnen Roseline Rannoch und Linda Spjut in ihrer als Metal-Performance angekündigten Arbeit »All We Knew Was We Wanted More Power« vor. Die Metal-Montur von Linda Spjut – übergroßes T-Shirt, Radlerhose, Trekkingsandalen – blieb die einzige direkte Bezugnahme auf die Musikrichtung. Während sie stark komprimierte, Drone- artige Delay Loops bastelte, kochte Roseline Rannoch auf hochhackigen Schuhen mit Arbeitshandschuhen und Stirntaschenlampe Metall. Das aus seiner festen Form gelöste Zinn warf sie dann in abstrakt-gestische Formen auf den Boden und auf einen Spiegel, der unter der Hitze des neuen Materials zu Bruch ging. Diese Gesten des Gestischen wurden betont emotionslos, aber dadurch latent aggressiv und schreiend komisch vorgeführt, das Material diktierte eh die Form. Die Kochshow mit lustigen Ingredienzien rief eine ganze Kette an Verweisen hervor – Pollocks »Drip Paintings«, männliche Industrial-Performances à la Einstürzende Neubauten, die »Fallen Paintings« von Lynda Benglis, die Ende der 60er Jahre eine feministische Umcodierung des Abstrakten Expressionismus im Sinne hatte, und Martha Roslers ebenso radikalfeministisches Video »Semiotics of the Kitchen«. Über die irritierende Kombination der verschiedenen Bezüge, in einem materialästhetischen Spiel, das auf vielen Ebenen die Klischees und Codierungen zwischen männlich und weiblich durcheinander wirbelte und mit einer kleinen Differenz zurückspielte, stellten sich hier ebenfalls die Logiken der Materialien, Verfahrensweisen, Musikstile und ihre Posen selbst aus: Obwohl nur Frauen anwesend waren, dachte man an Männer, die zu hart versuchen hart zu sein. Als dann wirklich ein Männerchor auftrat, den die schwedische Künstlerin und Musikerin Linda Spjut dirigierte, war klar, auch sie sind nur Material, mehr nicht. In düsteren, gutturalen call-and-response-Gesängen, die an Worksongs erinnerten (Metal kommt aus dem Bluesrock), durften die zehn Männer nur antworten, wenn sie gefragt wurden; sie wurden wie ein Keyboard gespielt… Danach löste Linda Spjut die Performance mit einem sehr einfachen und zuckersüßen Popsong auf, der jeden Besucher daran glauben ließ, dass hier ein neuer Popstar experimentiere, nicht allein ein Avantgarde-Projekt.
›Modernism You Can Dance to‹ bzw. »Avant-Pop«, wie Thomas Hecken den Begriff in seinem gleichnamigen, dieses Jahr erschienenen Buch gebraucht, um ein aktuelles kulturelles Paradigma zu beschreiben, das nicht mehr gegen die Bildungsbürger in Stellung gebracht werden muss, aber intern über Differenzierungen, Verfeinerungen und Distinktionen immer wieder einen Unterschied zu einem aus verschiedenen Gründen als konventionell gedachten Pop setzen möchte. Es gehe den Avant-Pop-Künstlern oftmals nicht mehr nur um eine komplexe, »besonders kultivierte Pop-Fassung«, die sich von der Lust nach Unterhaltung, Verführung und von den »Kleinbürger- und Teenagervarianten unterscheide«, indem sie die »Verfremdung, Verfeinerung, Vermischung gängiger Pop-Genres« weiter vorantreibe, nein, man versuche auch einen Unterschied einzuziehen, indem man auf die »gesteigerte Künstlichkeit« bestimmter popkultureller Phänomene, die früher als ›low‹ galten, setzt.
Roseline Rannochs Ausstellung »Beat Me« (Mitte 2012 im Dortmunder Museum Ostwall) ist ein weiteres, besonders prägnantes Beispiel dafür. Rannoch legt die männliche popkulturelle Ikone SpongeBob – »gay icon«, fetischisiert und geschlechtslos, Namensgeber und Vorbild einer Glaubensgemeinschaft (Church of SpongeBob), Regressionsbeispiel par excellence, Merchandise-Superstar und ach ja! Serienheld – auf den Seziertisch. Auf der einen Seite befinden sich SpongeBob-Kuscheltiere und kleine Plastikfiguren in Serie – von groß nach klein –, nur unterbrochen von einer Zitrone. Auf der anderen Seite, direkt gegenüber, sieht man Abgüsse aus Zinn, Aluminium und Zink: Silbrig-glänzend, gleichzeitig primitiv und deformiert, unbeholfen und verwundet sehen SpongeBobs Reproduktionen aus. Und obwohl sie Abgüsse der gelben, industriell gefertigten Figuren sind, scheinen sie die ›zuvor Dagewesenen‹ zu sein, auf ein primitiveres Entwicklungsstadium hinzuweisen. Die Frage nach Original und Kopie ist hier auf den Kopf gestellt, denn der Abguss ist eine Reproduktion und könnte gleichzeitig die Urform sein. Eine radiale antiprismatische Plexiglasscheibe trennt die beiden Ebenen. Doch je nach Blickwinkel und Standort im Raum überlagern sich beide Seiten in der Scheibe, die manchmal ganz analog und ›slick‹ wirkt, aber im nächsten Moment eher wie ein 3D-Hologramm zu funktionieren scheint. SpongeBob morpht in ihr zu einer instabilen Form, die Materialien und Oberflächen vermischen sich und werden zu einer neuen Form zwischen weich, organisch, starr und kühl. Das Bild wird durch die Überlagerungen insgesamt instabil, dreidimensional und flach zugleich. Die einzelnen Ebenen und Elemente des »Versuchsaufbaus«, Rannoch nennt die Arbeit »Hologramm (SpongeBobs)«, stehen mal gegeneinander, mal arbeiten sie miteinander. Die Indifferenz dieses materialästhetischen Spiels ist aber kein Selbstzweck, vielmehr sprengt sie die binäre Logik von Form und Inhalt, Produktion und Reproduktion, Handwerk und vorgefundenem Material (»Handmade Readymade«: Brian O’Doherty). Auch das ist zweifelsohne Pop, selbst wenn man nicht immer drauf tanzen kann.