Kredit und Krise
von Thomas Hecken
9.8.2024

Populäre Wirtschaft

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 31-39]

Es ist eine recht beliebte Wendung in renommierten Tageszeitungen, das Gebaren von Investmentbankern mit der Popkultur in Verbindung zu bringen. Selbst wenn das nur schwach begründet sein sollte, weil die »Gier« der Finanzmarktprofis andere, wichtigere Ursachen besitzt als Pornografie-, Techno- und Luxuslifestylekonsum, bleibt die Kritik in einer Hinsicht jedoch wertvoll: eine ›materialistische‹ Perspektive kann der Analyse der Geschehnisse tatsächlich nicht schaden.

Das gilt nicht nur mit Blick auf wenig erkenntnisfördernde Übernahmen aus der älteren Volks- oder Regionalkultur (besonders prominent in Deutschland Angela Merkels Bekenntnis zur sparsamen »schwäbischen Hausfrau«). Es gilt nicht zuletzt mit Blick auf den im Frühjahr 2012 vorübergehend erfolgreichen massenmedialen und politischen Großversuch, die Finanzkrise auf die Leistungsdefizite ›der Griechen‹ (das kleinere europäische Pendant der amerikanischen Häuslebauer) zu reduzieren. Das gilt aber auch angesichts wesentlich subtilerer Versuche, Staat und Finanzmarkt voneinander zu trennen und gegeneinander aufzurechnen.

Gegen solche Maximen, Vorwürfe und Bilanzen bleibt festzuhalten: Der Rahmen, in dem sich dann Gier und vieles andere individuell oder berufsmäßig entfalten kann, ist kein Konstrukt der Investmentbanken, sondern Ergebnis weltanschaulicher Debatten, exekutiver Initiativen und politischer Abstimmungen, am Ende in Gesetzes- oder Verordnungsform gebracht. Anders – in Ergebnisform – gesagt: In den überwiegenden Teilen der Welt hat man es gegenwärtig mit Staaten zu tun, die privatwirtschaftliche Unternehmen für die Zwecke ihrer Machtvermehrung einspannen wollen, ohne deren Entscheidungen direkt zu steuern. Weite Teile der jeweiligen Nationen werden darauf ausgerichtet, dass Unternehmen und Kapitaleigner sich der Bürger, der staatlichen Schulden und der heimischen Währung zu ihrem Zwecke, der Erwirtschaftung von Profiten, bedienen können. Wird dieses Angebot nur in geringem Umfang wahrgenommen, ist die ökonomische Grundlage des Staates ruiniert, damit zu nicht geringem Teil ebenfalls seine politische und militärische Potenz. Das ist der Zusammenhang, in dem auch die spezielle Entscheidung, bestimmte avancierte Finanzmarktprodukte zuzulassen, von vielen Ländern unterstützt wurde. Politische Debatten, Abstimmungen, rechtliche Ausgestaltungen haben diese Produkte gefördert und sichern sie bis auf den heutigen Tag.

Eine Verabschiedung von Verordnungen, die eine noch größere Kontrolle (nicht wenige rechtliche Vorschriften für Banken gibt es ja bereits), eine stärkere Besteuerung oder ein teilweises Verbot von Leerverkäufen, Swaps etc. vorsehen, könnte die Freiheit der Finanzmarktakteure demnach zweifellos (wieder) verringern. Dennoch ist es wegen der beschriebenen grundsätzlichen Lage falsch, darin einen fundamentalen Konflikt zwischen zwei Kräften zu sehen, gar mit einer moralischen Aufspaltung in die guten Bestrebungen des Staates und die finsteren Machenschaften der Banken. Umgekehrt ist es aber auch allzu idealistisch, das freie Wirken der Finanzunternehmen vor den Fehlsteuerungen der allesamt hoch verschuldeten Staaten verteidigen zu wollen.

Der Unsinn dieser Unterscheidungen und puristischen Schuldzuweisungen sollte einem klar werden, wenn man z.B. auf das gemeinsame Wirken von Staat und Banken schaut, Geld zu schöpfen. Zwar hat nur die staatlich eingerichtete Zentral- bzw. Notenbank die Möglichkeit, Geld drucken zu lassen und die Geldmenge über die Senkung oder Reduzierung der Leitzinsen stark zu beeinflussen, alle anderen, privaten Banken sind dennoch nicht bloß Zuschauer dieser Verrichtungen. Zur Geldschöpfung tragen sie durch ihre Kreditvergabe beachtlich bei. Kredite kommen nur zu einem kleinen Teil zustande, weil Geld, das sich auf einem Sparkonto befindet, anderen vorübergehend zur Investition zur Verfügung gestellt wird. Bei fast jeder Kreditgewährung kommt in Form einer (elektronischen) Überweisung neues Geld in die Welt. Die privaten Bankunternehmen müssen als Sicherheit für ihre Kredit-Geldschöpfung lediglich eine Mindestreserve bei der Zentralbank hinterlegen. Die Relation beträgt momentan in Europa 1 zu 100; für 1000 Euro Kredit sind also 10 Euro an Sicherheiten aufzubringen. Dazu müssen Banken nicht einmal auf die Sparkonten ihrer Einzahler zurückgreifen. Sie können dafür ihrerseits einen Kredit von der Notenbank bekommen, für den sie wiederum Sicherheiten hinterlegen müssen, z.B. Wertpapiere, nicht zuletzt Anleihen, die Staaten selbst begeben.

Hauptziel der Geldschöpfung ist, dass sich das neue Geld als Kapital bewährt, mit seinem Einsatz Profite erzielt werden. Natürlich auch von den Banken selbst. Ihnen vorzuwerfen, sie würden auf große Renditen abzielen, sollte für einen Anhänger des kapitalistischen Wirtschaftssystems eine Nullinformation bzw. eine närrische Aussage sein. Den Finanzinstituten vorzuwerfen, sie gingen Risiken ein, ist prinzipiell ebenfalls albern. Genau darum geht es ja: Sich zu verschulden, Kredite zu gewähren, um anderen Zahlungen zu garantieren – aus dem einen Grund, damit später daraus Kapitalerträge erwachsen. Ohne Risiko ist das nicht zu haben (im Nachhinein ist es natürlich mehr als leicht, ein zu hohes Risiko festzustellen; wenn eine entsprechende Auskunft nicht früher kommt, ist sie gar nichts wert). Die Wetten auf zukünftige ertragreiche Geschäfte, die jetzt bereits durch Kredit vorweggenommen sind, können selbstverständlich scheitern, Aktien Kursstürze erleiden, Staatsanleihen nicht bedient werden usw. Auch jene Derivate, die ursprünglich einmal zur Absicherung, zur Verringerung anderswo eingegangener Risiken eingeführt wurden, zählen heute zuverlässig selbst zu Risikopapieren, weil sie a) zur Spekulation dienen und b) mit ihrer teils enormen Hebelwirkung bei anfänglichen Erfolgen als möglicherweise trügerische Sicherheit für hohe Kreditzusagen fungieren.

Um das prinzipiell Unsinnige ihrer Argumente zu verdecken, verlegen sich grundsätzliche Anhänger des Wirtschaftssystems, die gleichwohl mit kritischen Einschätzungen nicht zurückhalten wollen, gerne auf spektakuläre Beispiele. Unzählige Hollywoodfilme und Fernsehkrimis ergehen sich in Panoramen des Betrugs und tödlicher Machenschaften. Insiderhandel an der Wall Street, Korruption auf staatlicher Seite, das gibt eindrucksvolle Bilder von übergroßen Limousinen, Nachtclubs, auffälligen Anzügen und Hosenträgern her. Was ist das aber gegen das legale Geschäft? Nicht viel, auch wenn die Kontoströme sich hier zumeist in zurückhaltenderen Schauwerten niederschlagen.

Und was ist das ressentimentgeladene Urteil des Anhängers der modernen Populärkultur über die »Bankster« schon gegen das Urteil, das große Teile der Finanzbranche im Moment der nicht zuletzt von ihnen selbst ausgerufenen Krise gegen ihr eigenes früheres Treiben richten? Die Einstufung, dass die aufgehäuften Kredite (bzw. Schulden) in viel zu großem Maße in der Welt sind, um insgesamt profitable Geschäfte zu stiften, wird dann gleich flächendeckend (die Banken leihen sich untereinander kein Geld mehr) und an vielen auserwählten Objekten (von einzelnen Unternehmen bis zu ganzen Staaten oder Kontinenten) wirksam. Wenn sie nur von genügend potenten Finanzmarktakteuren geteilt wird, ist die Prognose, dass bestimmte Anlageprodukte eine fragwürdige Zukunft besitzen, bereits die Erfüllung der Prognose: Unternehmen bekommen keinen Kredit mehr, Staaten können neue Anleihen nicht mehr zu finanzierbaren Konditionen auflegen etc. – damit steht das Unternehmen vor dem Aus, die laufenden Anleihen der betroffenen Staaten verlieren immens an Wert, selbst die fortgesetzte Erfüllung der älteren, niedrigeren Zinsverpflichtungen steht in Frage.

Ist die Krise vorbei, ohne dass es zur Umwälzung der Marktordnung gekommen ist, beginnt der Zyklus von neuem. Angesichts der Konkurrenz der Staaten untereinander, ihr Land und ihre Währung von Kapitalbesitzern so stark wie möglich nutzen zu lassen, kann man sich leicht ausrechnen, was leichter an Summen durchgestrichen wird, um Unternehmer, Investmentbanker, Kreditgeber, Anleihekäufer etc. wieder zuversichtlich zu stimmen: Zinszahlungen für Anleihen oder Zahlungen für sog. Sozialausgaben; die auf den Konten großer Vermögen in vielen Jahren um sechs bis zehn Prozent anwachsenden Guthaben oder die selbst in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs geringeren Lohnsteigerungen der abhängig Beschäftigten.

Aber nicht nur solche Kriterien gehen in das Urteil der Banken und Ratingagenturen über Regionen und Nationen ein. U.a. wird das politische Personal in die Lagebeurteilung einbezogen. Dabei fiel nicht nur der griechische Premier, der den geplanten enormen Souveränitätsverlust des griechischen Staates durch eine Volksabstimmung legitimieren lassen wollte, durch, sondern auch der beim Wahlvolk und einer großen Zahl an Fernsehzuschauern mit seiner renovierten Variante chauvinistischer Populärkultur über Jahrzehnte erfolgreiche Berlusconi.

Stärker politisch begründet ist zumindest zum Teil auch die Entscheidung, welche Staatsanleihen erworben werden. Zur anfänglichen Verwunderung mancher Kommentatoren sind Anleihen europäischer Länder wie Spanien, die vergleichsweise gering verschuldet sind, mit viel höheren Zinsen belegt als das Hochschuldnerland USA. Sicher, die ökonomischen Gründe dafür sind nicht zu vernachlässigen, u.a. die angekündigte, in größerem Stil noch ausstehende Sozialisierung spanischer Banken-Abschreibungen und die rezessiven Konsequenzen der auferlegten Sparpolitik. Beachtenswert ist selbstverständlich auch die Konstruktion der EU, die den einzelnen Mitgliedsländern zwar keine souveräne Währungs-, Zoll- und Haushaltspolitik mehr gestattet, aber europäische Anleihen (Euro-Bonds) nicht vorsieht – so dass die einzelnen europäischen Staaten in ihrem nur gemeinschaftlich durchzuführenden Projekt, mit den USA um Kapitalmacht und politischen Einfluss zu konkurrieren, in und mit dieser Gemeinschaft weiter ihre nationalen Interessen pflegen können (und dies selbstverständlich nach allen Kräften tun). Die Einschätzung der Kreditwürdigkeit Spaniens durch finanzstarke internationale Anleger orientiert sich nach der Finanzkrise darum nicht mehr an den gesamteuropäischen Daten.

Dennoch muss es noch andere Gründe geben, immerhin steht das Wirtschaftswachstum (nicht das vorübergehende Wachstum der Börsenkurse) der USA im Frühjahr 2012 in keinem rechten Verhältnis zu den immensen Staatsschulden und zur beachtlich vergrößerten Geldmenge. In diesem Fall kann ein Blick auf die Populärkultur rasch weiterhelfen. Die Bekanntheit und der Konnotationsreichtum der Dollarnote entspringt selbstverständlich nicht nur ihrer ästhetischen Kraft, sondern aus der Geltung der amerikanischen Währung. Der Dollar wird buchstäblich von aller Welt benutzt, um in und mit ihm Geschäfte zu machen, obwohl sich die Leitwährung seit vielen Jahrzehnten von der festen Umtauschbeziehung zum Gold befreit hat, das Risiko, in den Dollar zu investieren, demnach theoretisch größer geworden ist.

Was Poststrukturalisten seit Baudrillard erfreut oder erstaunt als weiteren Verlust eines »transzendentalen Signifikats« außerhalb ihrer literarischen Exerzitien registrieren, kommt aber ohne Anhalt nicht ganz aus. Die oft schamlose Feier der gewaltsamen Macht in der Populärkultur zeigt hier den Weg. Es wäre doch allzu weltfremd gedacht – und zu wenig ›materialistisch‹ –, wenn die militärische Überlegenheit der USA nicht mit ins Kalkül gezogen würde. Schließlich sind es ihre Truppen, die, vor allem auf den Meeren, den in ihrem Sinne freien Handel überhaupt erst möglich machen. Die Idee, dass die Kapitalströme der westlichen Welt – selbst bei anhaltend hohen fernöstlichen Wachstumsraten – einmal überwiegend nach China fließen könnten, liegt deshalb nicht nahe, auch wenn noch mehr Cola-Getränke und Wal-Mart-Exportgüter dort anzutreffen sein sollten.

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