Impf-Selfies – individueller und kollektiver Körper
von Miriam Zeh
30.7.2024

Von Herden und Cyborgs

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 19, Herbst 2021, S. 60-64]

In den meisten Fällen ist der historische Moment bereits vorbei. Nur noch ein Heftpflaster auf dem Oberarm bezeugt, was hier gerade passiert ist: Das langersehnte Vakzin gegen Covid-19 hat den Körper eines weiteren Individuums erreicht – nach monatelangen Ausgangsbeschränkungen, Kontaktverbot und Schulschließungen kein kleiner Schritt, weder für den einzelnen Menschen noch für die globale Gemeinschaft. Da scheint ein wenig Pathos nur angemessen. »This is about saving lives«, ließ denn auch die frisch gewählte US-Vizepräsidentin Kamala Harris Ende Dezember 2020 über ihren Instagram-Account vermelden. Auf dem dazugehörigen, mit mehr als einer Million Likes markierten Foto lächelt die justament Geimpfte, wenige Sekunden scheinbar, nachdem die Injektionsnadel den linken Arm verlassen hat, ihrer behandelnden Ärztin entgegen – vor einer US-Flagge und einem Banner des United Medical Center, dem einzigen öffentlichen Krankenhaus in Washington, D.C.

Sogenannte Impf-Selfies – kurz Impfies oder »Vaxxies« nach einer Wortkreation der »New York Times« – verbreiteten sich im Frühjahr 2021, als die Impfkampagnen in vielen Ländern Fahrt aufnahmen, geradezu pandemisch in den Sozialen Netzwerken. Seit ihrer Emergenz treten sie in drei Variationen auf. Ein Impfie zeigt entweder den entblößt-bepflasterten Oberarm. Es hält fest, wie die Spritze noch im Körper steckt, oder es präsentiert – aus Datenschutzgründen am stärksten kritisiert – den aktualisierten Impfausweis. Die Debatte über Vor- und Nachteile bestimmter Vakzine für diverse Altersgruppen, wie sie nach erster Impfeuphorie bald auch in Deutschland geführt wurde, bildet der Entwicklungsverlauf des Impfies ebenso ab wie den Erfolg der Impfkampagne. Denn nicht nur die bloße Impfung, sondern auch ein bestimmter Impfstoff wurde mit der Zeit zum Distinktionsmerkmal in den Sozialen Netzwerken. So war der US-amerikanische Modedesigner Marc Jacobs zwar der Erste, der Anfang März den Hersteller seines Vakzins hervorhob. »I’ve been Pfizer’d«, schrieb er auf Instagram, sich selbst dabei über einen Spiegel ablichtend in pinkem Pailletten-Rock und Leoparden-Mantel. Doch auch hierzulande häuften sich spätestens mit der Aufhebung der Priorisierung für AstraZeneca Anfang Mai Impf-Selfies unter dem Hashtag #TeamAstrazeneca, die sagten: Nein, ich bin mir nicht zu schade für das Vakzin dieses Herstellers, auch wenn ich unter der zwischenzeitlich empfohlenen Altersgrenze von 60 Jahren liege.

In ihrer Masse ließ die öffentliche Inszenierung eines gemeinhin intimen und vor Blicken abgeschirmten Prozesses keinen Zweifel daran: Die Corona-Schutzimpfung ist politisch, und zwar gerade in ihrem kollektiven und durch die Impfies sichtbar eventisierenden Charakter – ein Merkmal, das auch die Abläufe in den großen Impfzentren aus hygienischen und rechtlichen Gründen gerade nicht besitzen sollten, obwohl sie sich für die Inszenierung eines Events bestens geeignet hätten.

Wolfgang Ullrich hat grundsätzlich ausgeführt, dass »ein Selfie zu machen heißt, ein Bild von sich zu machen, auf dem man sich selbst zum Bild gemacht hat«. Für Impfies gilt das in doppelter Hinsicht. Sie zeigen nicht nur das Bild eines Individuums, sondern machen auch einen politischen Körper sichtbar. Elisabeth I. sprach, als sie 1558 Königin von England wurde, davon, in zwei Körpern zu wohnen: »Ich habe, biologisch gesehen, einen natürlichen Körper, verfüge aber als Königin durch Seine Erlaubnis noch über einen politischen Körper für das Regieren.« Entlehnte die europäische Herrscherin diese Vorstellung der Theologie des Mittelalters, imaginierte bereits die griechische Antike den Staat als Geschöpf, als lebendigen Teil eines größeren kosmischen Organismus, in dem sowohl der Bürger als auch die Stadt Körper in einem Körper sind. Verfestigte sich zwar mit der Aufklärung die Überzeugung, dass unsere Körper uns gehören, zeigt die Corona-Pandemie, wie wir dennoch bis heute dem Paradox unterliegen, das Elisabeth I. formulierte, und nach wie vor zu einem aus vielen Körpern zusammengesetzten großen Körper gehören.

In wenigen Momenten unserer Gegenwart dürfte die Metapher des individuellen Körpers als Teil des Staatswesens so nahe liegen wie beim Impfen. Impfstoffe werden einerseits vom Staat reguliert, empfohlen und vertrieben. Andererseits entlarven Impfies, die gerade in Zusammenhang mit Impfneid in die Kritik gerieten, einen wesentlichen Charakterzug jeder Impfdebatte: Sie ist immer auch ein Diskurs über Machtverhältnisse. Schürten die Corona-Impfies, so der Vorwurf, bei vielen die Angst, nicht früh genug dranzukommen und länger als andere ohne Impfschutz in der Isolation ausharren zu müssen, bekommt der persönliche Affekt eine politische Dimension, wo beim Impfen beide Körper betroffen sind, sowohl der vornehmlich selbstbestimmte, biologische als auch der politische, kollektiv beeinflusste. »Eine einzige Nadel durchsticht hier beide«, schreibt Eula Biss in ihrem Essay »Immun«. »Dass manche Impfstoffe in der Lage sind, eine kollektive Immunität zu generieren, die der individuellen Immunität überlegen ist, hinterlässt den Eindruck, als ob das Politische nicht nur über einen Körper, sondern sogar über ein Immunsystem verfügt, das in der Lage ist, sich als Ganzes zu schützen.«

So wird ein Impfie auch zu einem Akt politischer Teilhabe am Ganzen. Er scheint besonders bedeutsam, nachdem in der Corona-Pandemie die Möglichkeiten zur privaten wie politischen Versammlung zeitweise eingeschränkt waren und häufig mit Bangen den Beschlüssen der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz entgegengefiebert werden musste. Darüber hinaus hebt das Impf-Selfie, in der Regel durch die frisch geimpfte und in die Kamera lächelnde Person selbst geschossen wie hochgeladen, Selbstbestimmung und Zuspruch hervor, wie es für internationale Impfkampagnen keineswegs selbstverständlich ist. Denn die Kulturgeschichte des Impfens ist voller Gewaltmetaphorik. Dass eine Impfung im Britischen umgangssprachlich mit »a jab« (einem Begriff aus dem Boxen – dem kurzen, geraden Faustschlag) und im Amerikanischen wie Deutschen mit martialischer Rhetorik als »a shot« bezeichnet wird, stellt keinen Zufall dar.

Immunität ist riskant, scheint uns bereits der Barockmaler Rubens warnen zu wollen, wenn er den Säugling Achilles in den Styx getaucht malt. Das Bad im Grenzfluss zwischen Welt und Unterwelt soll den Jungen unverwundbar machen. Nur an einem dicken Beinchen hält seine Mutter ihn fest – gerade noch hoch genug, um Achilles nicht dem dreiköpfigen Hund zum Fraß vorzuwerfen, der schon an der richtigen Stelle im Fluss lauert. Entsprechend skeptisch reagiert die (west-)deutsche Bevölkerung auf Impfpflicht und -kampagnen. Otto von Bismarck konnte 1874 eine erste Impfpflicht gegen Pocken im Deutschen Kaiserreich nur durchsetzen, weil Geldstrafen, Haft oder auch Zwangsimpfung all jenen drohten, die sich der Immunisierung verweigerten. Menschen, die lächelnd ihre Spritze gegen Pocken, Diphtherie oder Tuberkulose empfangen, finden sich folglich selten abgelichtet.

Selbst jener Begriff, der eigentlich den positiven Effekt einer durchgeimpften Bevölkerung bezeichnen soll, weckt eher negative Assoziationen: »Herdenimmunität« erinnert an Schlachtvieh, an eine denkfaule Masse, von der sich gerade die Menschen mit kritischem Pioniergeist absetzen. Die Querdenker- sowie viele Anti-Impf-Bewegungen greifen immer wieder auf dieses Narrativ zurück. Dabei ließen sich deutlich positiver konnotierte Gruppenmetaphern als die Herde finden, etwa das Kollektiv oder die Kooperation, wie sie im Bienenstock praktiziert wird. Auch der Eingriff ins menschliche Immunsystem könnte wertschätzender gerahmt werden. Träumt bereits Donna Haraway in ihrem »Manifest für Cyborgs« von einer Welt, in der wir alle »Cyborgs, Hybride, Mosaike, Chimären« sind und »niemand mehr seine Verbundenheit und Nähe zu Tieren und Maschinen fürchten braucht«, bringt jede Impfung uns dieser Utopie einen Schritt näher – zumindest nach Cyborg-Forscher Chris Hables Gray. Er stellt die These auf, dass alle geimpften Menschen Cyborgs sind. Schließlich seien unsere Körper auf Erkrankung programmiert und würden von technologisch veränderten Viren modifiziert.

Einer Weiterentwicklung der Impf-Selfies, die auf TikTok oder auf Instagram über die Reel-Funktion geteilt wird, gelingt die positive Wendung der gewaltvollen Kulturgeschichte des Impfens über ein anderes Argument: Die kurzen Videos heben vor allem die persönlichen Freiheiten hervor, die mit einer vollständigen Impfung einhergehen. So zeigt eine vielfach imitierte Videosequenz etwa zu der Überschrift »What went through my mind getting the covid vaccine« eine rasche Abfolge von Urlaubsschnappschüssen, Konzerten, Hochzeiten oder gemeinsamen Abenden mit Freunden aus dem persönlichen Fotoalbum – alles, was während der Corona-Pandemie schmerzlich vermisst wurde. Arrangiert sind die Fotos und Videoschnipsel zu gefühliger Klaviermusik, ähnlich wie in einem Werbeclip oder Filmtrailer. Dabei ist die Hervorhebung persönlicher Vorteile (vor staatlichem oder globalem Nutzen) dem Ergebnis einer Impfkampagne keinesfalls abträglich. Sämtliche Kosten-Nutzen-Analysen und Herdenimmunitätsmodelle kommen zu dem Schluss, dass Impfen sowohl für das Individuum als auch für die Öffentlichkeit gleichermaßen von Vorteil ist. Ein an der Harvard-Universität entwickeltes Modell fand mithilfe der Spieltheorie sogar heraus, dass »eine Gesellschaft aus gänzlich eigennutzorientierten Mitgliedern eine Epidemie überwinden kann.«

Anderen Impf-Reels oder -TikToks geben Songs wie »RGF Island« von Fetty Wap einen spielerisch-altruistischeren Anstrich. Ausgewählt wird daraus nämlich der repetitive Refrain: »I do this for my squad, I do this for my gang«. Für die klangliche Untermalung des eigenen Impftermins stellte der Streaming-Anbieter Spotify im April 2021 sogar eine eigene Playlist zusammen: »Your Best Shot – Songs to Soundtrack Your Vaccination Journey«. Eine (Helden-)Reise illustrieren viele Impf-Reels oder -Tiktoks tatsächlich, indem Nutzer:innen zum Beispiel zuerst ein Impf-Outfit wählen, zum Impfzentrum fahren und zum Abschluss stolz ihren bepflasterten Arm oder den Impfpass präsentieren. Auch Covid Merch kann dabei als Requisite genutzt werden: von bunten Pflastern über Buttons, Aufnähern und T-Shirts mit Aufschriften wie »Relax, I’m Vaxxed« bis hin zu Glückwunschkarten, auf denen die Daten für »1st Dose«, »2nd Dose« und »Party Time« eingetragen werden können. Fast ausschließlich werden in diesen Videos, ebenso wie auf den Impfies, Emotionen wie Freude, Erleichterung und Dankbarkeit gezeigt. Es finden sich zwar auch Nutzer:innen, die ihre – häufig milden – Nebenwirkungen nach der Impfung dokumentieren. Allerdings sind sie die Ausnahme, was auch die Impf-Playlist von Spotify bestätigt. Sie basiert nach Aussage der Plattform auf über 7.000 Playlists, die Nutzer:innen auf der ganzen Welt im Zusammenhang mit einer Impfung erstellt und benannt haben, darunter etwa »Hit Me With Your Best Shot« von Pat Benatar, »Gimme! Gimme! Gimme!« von ABBA oder »The Cure« von Lady Gaga. In ihrer Stimmung hätten laut Spotify die so zusammengestellten Lieder vor allem eines gemeinsam: »optimism, excitement and humor are key themes«.

Bis sich Hunderte von vollständig geimpften Menschen wieder bei einem analogen Event treffen können, wird es sicherlich noch eine Weile dauern. Derweil jedoch finden sie sich in den Sozialen Netzwerken unter Hashtags wie #vaxxed oder #happyvaccine zusammen, sowohl als individuelle wie als politische Körper. Sie geben ihrem Impftermin Eventcharakter, illustrieren ihn als heroische Reise und schreiben damit die gewaltvolle Kulturgeschichte des Impfens hoffnungsvoll und selbstbestimmt weiter.

 

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