Zur Verleihung des Lessing-Preises
[erschienen in: Lessing-Preis für Kritik 2024. Reden zur Verleihung des dreizehnten Lessing-Preises für Kritik an Georg Seeßlen sowie an die Freunde des Tel Aviv Museum of Art Deutschland e.V., hrsg. von der Lessing-Akademie e.V., der Braunschweigischen Stiftung und der Stadt Wolfenbüttel, Wolfenbüttel 2024, S. 67-81.]
Meine Damen und Herren,
liebe Mitmenschen,
ich glaube, es gibt kein Wort, das so viel Respekt und Zugewandtheit hat, wie Mitmensch. Wenn man fragen würde, was ein Mitmensch ist, dann würde ich sagen: Fragen Sie die Mutter von Forrest Gump. Sie würde sagen: Ein guter Mitmensch ist jemand, der mitmenschlich fühlt, denkt und mitmenschlich handelt. Forrest Gump, der ›Candide‹ des 20. Jahrhunderts, würde wahrscheinlich genau wissen, was Mitmenschlichkeit ist. Wir haben mittlerweile ein Problem damit, weil wir manchmal merken, dass mitmenschlich fühlen, denken und handeln in Konflikt miteinander geraten können, so wie Vernunft und Moral immer wieder miteinander in Konflikt geraten. Das ist wahrscheinlich das schwarze Erbe der Aufklärung: Dass wir wissen, dass wir immer nur in Konflikten, immer nur in der Bearbeitung von Konflikten leben können.
Ich danke daher Mitmenschen, dass sich mich ausgezeichnet haben. Ich danke für die wundervolle Laudatio, die nur ein kleines Problem hat. Sie verführt mich dazu, größenwahnsinnig zu werden. Was dabei hilft, der Gefahr der Selbstüberschätzung zu entgehen, ist ein Bild, das, wenn ich die diesbezüglichen Recherchen richtig deute, gute tausend Jahre alt ist. Es zeigt: Wir stehen als Winzlinge auf den Schultern von Riesen. Ich muss ergänzen: Wir stehen auch auf den Schultern von Riesinnen, und manchmal stehen wir auch nicht, sondern machen’s uns bequem.
Von allen Riesen ist Gotthold Ephraim Lessing wohl am ehesten ein »gentle giant«, ein freundlicher Riese, ein nobler Riese. Er ist, wenn ich mich nicht irre, der größte dramatische Poet der Mitmenschlichkeit in deutscher Sprache, einer, der Mitmenschlichkeit nicht propagiert, sondern anschaulich und anrührend zeigt, wie es geht. Oder eben auch: Wie es nicht geht.
Für mein berufliches Selbstverständnis ist allerdings eine eher kleine Schrift von besonderer Bedeutung: der Text Wie die Alten den Tod gebildet. Es ist weniger der Gelehrtenstreit, der mich nachhaltig fasziniert hat, als vielmehr die Fähigkeit, etwas genau anzusehen, geduldig zu beobachten und dann von einer scheinbar eher begrenzten oder abgeschlossenen Sache auf wesentliche, jeden Menschen betreffende Dinge zu schließen.
Ich denke mit Lessing darüber nach, wie die Antike im Logos wie im Mythos den Tod dargestellt hat, und gelange dann womöglich zu der Überlegung: Wie stellen eigentlich wir den Tod dar? Warum tun wir das, den Tod als Skelett oder als Kapuzenmann mit Sense darstellen? Und warum taten es die einen so und die anderen so?
Das Schöne an uns Winzlingen auf den Schultern von Riesen und Riesinnen ist unsere Fähigkeit, von einer Schulter zur anderen zu hopsen und dadurch manchmal sehr unterschiedliche Perspektiven zusammen denken zu können. Nicht alle Riesenschultern sind so angenehm wie die von Gotthold Ephraim Lessing. Wie oft habe ich die Schulter von Immanuel Kant erklommen – und bin wieder heruntergepurzelt. Oder die von Karl Marx etwa. Man kann da ziemlich weit sehen, aber es ist auch ziemlich kalt da oben. Ich springe dann gerne herunter auf die Schultern seines Freundes Friedrich Engels oder auf die von Rosa Luxemburg. Die sind vielleicht nicht ganz so riesig, aber dafür gibt es mehr mitmenschliche Wärme.
Von Lessings Versuch über die Darstellung des Todes in der Antike springe ich gern zu Kleists Über das Marionettentheater, und dann, zugegeben, ein ziemlich weiter Sprung, zu Sigmund Freuds Der Moses des Michelangelo. Und hopp, von da an weiter zu Walter Benjamins Berichten über Straßen und Menschen, hin zu Virginia Woolf, die die Frage nach dem Zusammenhang von Weiblichkeit und Schrift mit der überaus konkreten und zugleich metaphorischen Forderung nach einem eigenen Zimmer beantwortete, und hopp, wieder so ein gewagter Sprung, zu Roland Barthes’ Analysen der Markenwaren und Reklamebilder als Mythen des Alltags, auch zu Hannah Arendts Zeugnis vom Eichmann-Prozess, der immer nur auf diesen Schlüsselsatz von der »Banalität des Bösen« reduziert wird. Aber es kommt nicht auf diesen Satz allein an, es kommt darauf an, wie die Autorin zu ihm gelangt ist, durch eine genaue und ganz gewiss auch schmerzliche Beobachtung. Kritik heißt immer, die Adressaten am Prozess beteiligen. Es ist öffentliches Denken, auch mit Schwurbeln. Auch mit Fehlern. Auch mit Zögern.
Weiter gesprungen – etwa zu Hans Magnus Enzensbergers Betrachtung über die Gangster von Chicago als Modell einer terroristischen Gesellschaft und zu Susan Sontag und ihrer Frage nach der Krankheit, auch der eigenen Krankheit, schließlich vielleicht noch zu Klaus Theweleit, der sich die Mühe macht, vorfaschistische Militärliteratur auf ihre Männerphantasien und die Geschichte der Indianerprinzessin Pocahontas in Bezug auf die Kolonialgeschichte zu durchforsten. Ja, so ein Schulterspringer kommt schon herum.
Das alles sind sehr unterschiedliche Texte, aber sie haben etliches miteinander gemein. Das erste ist, dass sie nicht von Behauptungen oder Theorien ausgehen, sondern von Beobachtungen. Sie sehen nicht nur Dinge genauer an als gewohnt, sie sehen auch Dinge an, die man gemeinhin nicht genau ansieht. Sei es, weil sie so entlegen scheinen, oder auch so selbstverständlich, sei es, dass man sie tabuisiert hat oder auch verdrängt.
Dabei kommt es also gar nicht darauf an, ob die Autorinnen oder Autoren im herkömmlich diskursiven Sinn immer recht haben oder nicht – alle diese Texte sind ja auch kritisiert worden, und nicht nur von dogmatischen Holzköpfen. Worauf es vielmehr ankommt, ist, dass sie den Blick geöffnet haben, dass sie Felder der kritischen Wahrnehmung eröffneten, dass sie prinzipiell nichts für selbstverständlich und unwichtig nehmen.
Nicht nur Menschen, nicht nur Wesen, nicht nur Riesen und Riesinnen haben eine Seele. Alle Dinge, alle Texte, alle Bilder, alle Objekte von Arbeit, Krieg und Alltag, alle Momente, alle Beziehungen, alle Steine und Sandkörner haben eine Seele. Das weiß ich spätestens seitdem ich in Kyoto beim Versuch, die Drehorte des Films Rashomon von Kurosawa Akira wiederzufinden, in einem shintoistischen Hinterhof-Tempel gelandet bin.
Wenn ich also Kritik sage, dann kann ich das mit Michel Foucault tun, der übrigens behauptet, Kritik und Aufklärung seien ursprünglich nur zwei Worte für ein und dieselbe Sache gewesen, nämlich als Geste gegen Macht, gegen Ungerechtigkeit und Beschränkung.
Was die Kritik in der Kultur anbelangt, so würde ich dies als die Suche nach dem finsteren Herzen bezeichnen, oder nach den derben Spuren der Macht in allem. Drückt sich nicht in jedem Tatort-Krimi, in jedem Zeitungsbericht, in jedem Comic Strip immer auch ein Kampf um die Macht aus? Um die Macht der Definitionen, der Vorbilder, der Wahrnehmungen, der Geschmäcker usw. Aber es gibt eben immer auch das zweite in der Arbeit der Kritik, nämlich die Suche nach der Seele in den Dingen.
Zum Beispiel die Seele einer Kamera-Einstellung, die immer noch da ist, obwohl der Film vor einem halben Jahrhundert abgedreht war, und die eine Grenze erkannte, die Grenze zwischen der Kultur und der Natur. In Kyoto, nur zum Beispiel.
Und dann stellt sich da eine ganz andere Frage: Drückt sich nicht auch in jedem Tatort-Krimi, in jedem Zeitungsbericht, in jedem Comic Strip auch die Suche nach der Gnade, nach Hoffnung und Erlösung aus? Und weil das so ist, weil es diese doppelte Suche nach dem finsteren Herzen und nach der lichten Seele gibt, darf man sich, bei allen Mühen und bei all den Schwierigkeiten, das Gleichgewicht auf den Schultern seiner Riesinnen und Riesen zu bewahren, die Kritikerin und den Kritiker als glückliche Menschen vorstellen. Egal, was ich mit einem kritischen Blick betrachte, wie gesagt, von den Schultern der Riesinnen und Riesen herab, stets stellen sich die beiden Wesenheiten dar, der Schrecken der realen Welt, einschließlich der Interessen und der Lügen bei ihrer Entstehung, und die Sehnsucht nach der Verbesserung, einschließlich der verborgenen Träume, von denen manchmal nicht einmal die Urheber und die Adressaten von Kunstwerken und Alltagsobjekten wissen.
Was diese beiden Suchen verbindet, die Suche nach dem Unterdrückenden in allem, was man untersuchen kann, und die Suche nach dem Erlösenden in zumindest einigem, was es zu untersuchen gilt, das ist nichts anderes als die Kultur der Demokratie und die Demokratie der Kultur.
Nur die Demokratie ermöglicht diese doppelte Suche, und umgekehrt ist diese Suche nach dem Unterdrückenden und nach dem Befreienden in allem, dem großen Kunstwerk und der alltäglichen Mythe, eine Grundlage der Demokratie oder, anders gesagt, eine Grundlage der Organisation von Mitmenschlichkeit.
Wir wissen, wie sich Imperien ausdrücken, wie sich Feudalismus ausdrückt, wie sich Diktaturen ausdrücken, wie sich Faschismus ausdrückt, wie sich Klassenhierarchie ausdrückt usw. Aber wie drückt sich Demokratie aus? Gewiss nicht durch Staatsempfänge und Wahlplakate, nicht durch Talkshows und nicht durch Politiker:innen-Tweets. Demokratie drückt sich durch die Freiheit der Kultur aus. Durch die Freiheit der Kunst. Durch die Freiheit der Kritik.
Und dabei meine ich durchaus mehr als die Freiheit der Spektakel, die Freiheit des Marktes und die Freiheit der Abwesenheit oder wenigstens Verborgenheit von Zensur. Es geht um die Freiheit, die man weder erkaufen noch erzwingen kann, die Freiheit als Projekt der Mitmenschlichkeit. Mitmenschliches Verhalten, Demokratie und freie Kultur bilden ein magisches Dreieck; verändert sich das eine, verändern sich auch die anderen, und, wie wir gerade überdeutlich sehen, wird das eine von Anti-Demokratie, Anti-Humanismus und Anti-Aufklärung angegriffen, sind auch die anderen gefährdet und verletzt. Aber andererseits kann auch das eine das andere stützen und schützen.
Wir Kritikerinnen und Kritiker haben eine Aufgabe in diesem Dreieck. Wir suchen die finsteren Herzen und die Seelen des Utopischen in allen Dingen, im Kunstwerk wie im Gesetzesentwurf, verwandeln sie in einen Baustein der Kultur, auf den die beiden großen Projekte bauen können, Mitmenschlichkeit und Kultur. Na ja, jedenfalls versuchen wir uns daran. Mal klappt das, und mal weniger. Aber eines ist hoffentlich klar: Es gibt keine Demokratie ohne Mitmenschlichkeit, es gibt keine Demokratie ohne Kultur, und es gibt keine Kultur ohne Kritik, die im Nachklang zu Foucault zumindest nicht denkbar ist ohne ihr Pendant, die Aufklärung.
Übrigens erhöhe ich mit einem solchen Gedanken nicht nur die Kritik, ich bürde ihr auch eine massive Verantwortung auf. Und das in einer Zeit, ich brauche das niemandem von Ihnen zu sagen, in der es wahrlich nicht besonders gut steht. Es steht nicht gut um die Demokratie. Es steht nicht gut um die Mitmenschlichkeit. Es steht nicht gut um die Kultur. Und ja, auch die Kritik hat, möglicherweise, schon bessere Zeiten erlebt.
Der Vorsitzende der Eurokommunistischen Partei Italiens, Enrico Berlinguer, hatte am Ende der siebziger Jahre jenen viel diskutierten Pakt der Demokraten namens »historischer Kompromiss« vorgeschlagen, und zwar unter dem direkten Eindruck des Putsches gegen die gewählte, linksliberale Regierung in Chile und der Ermordung von Salvador Allende. Ein historischer Kompromiss, und zwar aus der Einsicht heraus, ich zitiere: »dass die Einheit der Arbeiterparteien und der Linkskräfte für eine Verteidigung und den Fortschritt der Demokratie nicht ausreicht, wenn dieser Einheit ein von der Mitte bis zur extremen Rechten reichenden Parteienblock gegenübertritt«. Das klingt sehr aktuell, nicht nur in Italien. Aber natürlich kann man diese Aussage auch umkehren: die Einheit der Konservativen und Liberalen, der bürgerlich-demokratischen Mitte würde nicht ausreichen, der Gefahr von rechts zu begegnen, wenn sie sich nicht mit der Linken, nicht nur den sozialistischen Parteien oder den entsprechenden Politikerinnen und Politikern, sondern auch mit den Ideen von sozialer Gerechtigkeit und nicht zuletzt mit den kulturellen Energien von Links zusammentun würden.
Der historische Kompromiss sah keineswegs vor, eigene Überzeugungen und eigene Programme über Bord zu werfen, er sah vielmehr vor, alle Konflikte ausschließlich auf einer demokratischen, liberalen und mitmenschlichen Grundlage zu bearbeiten. Wie weit sind wir davon entfernt, derzeit.
Rückblickend könnte man wohl sagen, dass der historische Kompromiss die letzte Chance für Europa war, die großen Projekte von Aufklärung und Humanismus, die Arbeit an den Utopien von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität auf eine breite Basis zu stellen.
Der historische Kompromiss zur Verteidigung der Demokratie gegen das anti-demokratische Bündnis von rechts wurde ausgeschlagen. Von beiden Seiten zwar, aber doch mehrheitlich von einem konservativen und mehr und mehr dem Neoliberalismus verpflichteten so genannten rechten Mitte.
Nach dem Scheitern des historischen Kompromisses sind drei Dinge in Europa, vielleicht im ganzen westlichen System geschehen:
– Der, ich kann es nicht anders sagen, unbarmherzige Siegeszug des Neoliberalismus, der immer schon viel mehr war als nur eine neue, verschärfte Variante der Marktwirtschaft,
– der scheinbar unaufhaltsame Aufstieg von anti-demokratischen, rechtspopulistischen und schließlich neofaschistischen Bewegungen, und
– der Zerfall der klassischen demokratischen Lager, der konservativen, der liberalen und der sozialdemokratischen Parteien mit ihren jeweiligen politischen Kulturen und Programmen.
Zerstritten und orientierungslos erscheinen nun keineswegs nur die linken und linksliberalen Kräfte, sondern genau so auch die liberalen und die konservativen Parteien. Stattdessen gewinnt der »von der Mitte bis zur extremen Rechten reichende Block«, den Berlinguer sah, immer weiter an Einfluss und führt oft genug begünstigt von der politischen Ökonomie des Neoliberalismus einen erfolgreichen Kampf um politischen Einfluss und, nicht zu vergessen, um die kulturelle Hegemonie.
Es gibt also meiner Meinung nach zwei große Projekte, für die sich alle engagieren sollen, denen an der Demokratie und der liberalen Gesellschaft gelegen ist: Erstens eine Neufassung für einen historischen Kompromiss aller demokratischen Kräfte vom demokratischen Konservatismus bis zum demokratischen Sozialismus gegen den anti-demokratischen Block aus völkischen, rassistischen, sexistischen und autoritären Bewegungen von rechts. Und zweitens das, was wir in einer Anlehnung an die historische Aufklärung die Herausführung der demokratischen Zivilgesellschaft aus der selbst verschuldeten Lähmung nennen konnten.
Eine Neufassung des historischen Kompromisses der Demokratinnen und Demokraten bedeutet die Neufassung der politischen Trennlinie. Es geht nicht mehr um die Trennung zwischen rechts und links, sondern um die Trennung zwischen demokratisch und anti-demokratisch. Und die Herausführung der demokratischen Zivilgesellschaft aus der selbst verschuldeten Lähmung bedeutet nichts anderes als aus den Grabenkämpfen und den Spaltungszwängen herauszukommen, um wieder an einer gemeinsamen Erzählung für eine offene Zukunft zu arbeiten. Diese Erzählung ist nur möglich am Leitfaden der Mitmenschlichkeit. Kritik, die diesen Namen verdient, Kultur, die diesen Namen verdient, ist nie auf der Seite der Macht. Sie ist immer auf der Seite der Menschen.
Deswegen freue ich mich ganz besonders, dieses Podium mit einer Vertreterin eines Projekts der praktizierten Mitmenschlichkeit teilen zu dürfen. Es sind die besten Augenblicke unserer Profession, da sich zeigen kann, dass kritische Theorie und soziale Praxis in der Kultur immer Hand in Hand gehen.
Danke schön.