Postdigitales Schreiben und poetische Kritik in »Aus der Zuckerfabrik« (2020) von Dorothee Elmiger
[erschienen in: Hanna Hamel/Eva Stubenrauch (Hg.): Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2023, S. 237-252]
In ihrem Essay Wirklichkeit und nicht Wirklichkeit (2010) beschreibt die Schweizer Autorin Dorothee Elmiger ein poetologisches Problem. Liegt ihr Anspruch nämlich darin, »auf genaueste Weise tief in sie [die Wirklichkeit] hinein[zu]schau[en]«, möchte sie andererseits die von der Wirklichkeit verhängten Zwänge der Tatsächlichkeit im literarischen Text nicht reproduzieren.[1] Um die Wirklichkeit überhaupt beobachten zu können, bedarf es deshalb eines Moments der Distanzierung, in dem sich die Fiktion auf das komplex vermittelte Verhältnis zu ihrem Gegenstand besinnt.[2] Der Gefahr, die Wirklichkeit auf schlechte Art zu bestätigen, versucht Elmiger entsprechend »mit einem grossen Schritt« zu entgehen, hinein »in die behauptete Wirklichkeit, die Wirklichkeit der Behauptung, die das Mögliche entwirft.«[3]
Ich möchte die hier anklingende Charakterisierung der Fiktion als Raum der Möglichkeit als Ausgangspunkt nehmen, um anhand von Elmigers Text Aus der Zuckerfabrik (2020) den Zusammenhang von postdigitalem Schreiben und Kritik zu verfolgen. Vor dem Hintergrund der mit dem Begriff ›postdigital‹ verbundenen Diagnose der Entzauberung[4] bekommt die Fiktion als Möglichkeitsraum eine epochenspezifische Signifikanz. Auf diese verweist auch Johannes Hertwig, wenn er die poetische Tätigkeit der sich im Internet bewegenden Avantgarden als eine Erzeugung von »Gegenwelten« durch eine Gruppe von Personen beschreibt, »die den angesammelten Datenhaufen als Ausgangsbasis nutzt und darüber hinaus ein Gegengewicht zur nicht-digitalen Wirklichkeit schafft.«[5] In dem Moment, in dem die mit dem Internet verbundenen Versprechen auf eine potenzierende Form der Vernetzung enttäuscht werden, bekommt die Projektion dieser Versprechen auf den Raum der Fiktion samt dessen kritischer Profilierung eine besondere Plausibilität. In Hinblick auf den möglichen Ort der Kritik teilt Hertwig dabei die von Luc Boltanski und Ève Chiapello formulierte Einsicht, der zufolge der Kapitalismus seine Kritik immer schon so erfolgreich rekuperiert, dass jegliche kritische Bemühung allein ausgehend von der Akzeptanz der eigenen heteronomen Verstrickung in die kritisierten Zusammenhänge möglich ist.[6] Eine Prämisse, die auch Elmiger fortschreibt, wenn sie ihre Erzählerin gleich zu Beginn in einem Bild der Selbstverortung von einem unübersichtlichen »Gestrüpp«[7] sprechen lässt, in dem sie sich befindet, und das sich im Text unter anderem in Form überbordender Referenzen und Zitate aus vielzähligen Quellen realisiert, die sich miteinander verflechten.
Fremd bleibt Elmiger allerdings die von Hertwig in Reaktion auf diese Diagnose einer involvierten Kritik adaptierte, die neoliberalen Imperative an das Subjekt affirmierende Rhetorik von grind, hustle und performance. Stattdessen schließt sie in Aus der Zuckerfabrik mit Blick auf den titelgebenden Rohstoff und die damit verbundene Geschichte des Kolonialismus mitunter ostentativ an klassische Formen der ökonomischen Kritik an. Zugleich liegt die epistemische Referenz des Textes weniger im Internet als auf dem Buch. Zwar ist offensichtlich, dass sich die mitunter sprung- und lückenhafte sowie permanent vor- und zurückverweisende Anordnung des erzählerischen Materials vor dem Hintergrund einer durch das Internet geprägten Leseerfahrung formiert, die keinem linearen Verlauf folgt, sondern sich permanent erweitert und vernetzt. Dennoch realisiert sich Aus der Zuckerfabrik eben nicht als digitaler Hypertext, sondern – im engen Sinne postdigital – im Medium des Buches. Dessen besondere Funktion als Wissensspeicher hebt der Text immer wieder hervor. Ausgiebig zitiert die Erzählerin aus unterschiedlichen Quellen, deren Buchform – etwa durch die Nennung von Seitenzahlen oder gar durch philologische Reflexionen – immer wieder hervorgehoben wird.
Wie ich im Folgenden argumentieren möchte, steht das Medium des Buches dennoch in einem gespannten Verhältnis zur Form des Textes, genauer: zu der von der Erzählerin auf diese Form projizierten Sehnsucht, die »Dinge in ihrer Gleichzeitigkeit in den Text zu bringen.« (AdZ 90) Die epistemologischen, gattungs- bzw. formtheoretischen und letztlich ethisch-politischen Implikationen des hier formulierten Anspruchs verhandelt Elmiger in einer Kritik der Form des Romans, die bei ihr für die mit dem Buch verbundene Linearität der Leseerfahrung sowie für ein handlungsorientiertes, integratives Erzählen einsteht, das das produktive Assoziationsvermögen der Fiktion einschränkt. Durch diesen Antagonismus hindurch zeichnet der Text die Suche nach einem Möglichkeitsraum nach, in dem sich die im Text durch Zitationen verarbeiteten Materialen – befreit von dem durch die Wirklichkeit ausgeübten Zwang der Tatsächlichkeit – versammeln und gegenseitig potenzieren können.
In Hinblick auf die Form, in der Elmiger solch einen Möglichkeitsraum entwirft, sollen im Folgenden die Verfahren von Interesse sein, mit und in denen sie versucht, die Form des Romans aufzubrechen: Akkumulation, Anordnung und kritische Aneignung. Vor dem Hintergrund des postdigitalen Schreibens möchte ich diese Verfahren als Mittel einer ›poetischen Kritik‹[8] charakterisieren. Friedrich Schlegel nutzt die Wendung von einer poetischen Kritik in seiner Rezension zu J. W. Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), um die dramaturgischen Gespräche im Kontext der im Roman erzählten Inszenierung von William Shakespeares Hamlet zu beschreiben. Nach Schlegel unterscheidet sich diese in eine – wenn auch fiktive – Theaterpraxis eingebettete Diskussion von der herkömmlichen Kritik der Kunstrichter insofern, als sie nicht klassifizieren, kommentieren oder beurteilen möchte. Vielmehr werde »[d]er Dichter und Künstler […] die Darstellung von neuem darstellen, das schon Gebildete noch einmal bilden wollen; er wird das Werk ergänzen, verjüngern, neu gestalten.«[9] In einem emphatischen Sinne poetisch ist diese Kritik also nicht allein, weil sie in Form der Erzählung des Romans erfolgt, sondern präziser dadurch, dass sie den Hamlet in einer neuen Form aktualisiert und lebendig hält. In Aus der Zuckerfabrik findet die poetische Kritik nicht allein in literarischen, sondern zugleich in (auto-)biografischen, journalistischen, theoretischen und philosophischen Texten ihr Material. Im Folgenden soll die Idee der poetischen Kritik einen Ansatzpunkt bieten, um über die kritischen Potenziale poetischer Verfahren im Umgang mit diesem Material und der sich in diesem Material fortschreibenden Wirklichkeit nachzudenken, wobei poetische Verfahren hier als die technischen Mittel verstanden werden, durch die ein Material in einer neuen Form aktualisiert wird.
I. Verstricktes Begehren
Mit Blick auf Aus der Zuckerfabrik bedeutet das zunächst, die für die Konstitution des Textes zentrale Rolle des Begehrens der Erzählerin und der von ihr beschriebenen Figuren hervorzuheben, an dem sich das mit dem Möglichkeitsraum der Fiktion verbundene Erkenntnisinteresse an der Wirklichkeit kristallisiert. Wenn der Text mitten in einem Gestrüpp beginnt, so ist es ihr ungestilltes Begehren, das die Erzählerin immer tiefer in das Geflecht aus literarischen Quellen und intertextuellen Verweisen,[10] Dialogen, Protokollen und narrativen Passagen hineinführt, aus dem sich der Text formiert. Im Prisma des Zuckers als eines so unscheinbaren wie intrikaten Gegenstands des Verlangens bekommt das Begehren der Erzählerin zugleich eine kritische Funktion, indem es ihre Verstrickung in ein weit gespanntes Netz transatlantischer Produktions- und Konsumtionszusammenhänge und deren Genese im Kolonialismus reflektiert.
Im Verhältnis von Zucker, kolonialer Sklaverei und Begehren verhandelt der Text u.a. eine politische epistemologische Problematik. Wie der in Aus der Zuckerfabrik zitierte Anthropologe Sidney W. Mintz in Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History (1985) festhält, war die Verbindung von Zuckerproduktion und Sklaverei bis zur Haitianischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts und der sukzessiven Abschaffung der Sklaverei im Verlauf des 19. Jahrhunderts systemisch.[11] Aus Perspektive der europäischen Konsument:innen blieb dieser Zusammenhang zumeist unsichtbar oder wurde verdrängt, kehrt jedoch der Erzählerin zufolge für Mintz unter anderem in »einer Art Irritation« zurück, als er zugleich
»die Zuckerrohrfelder und den weißen Zucker in seiner Tasse sieht. […] [W]eil im gleichzeitigen Anblick des Zuckerrohrs und des raffinierten Zuckers das Rätsel oder Geheimnis aufscheint, the mystery, so schreibt er, dass eben die Zuckerproduktion Unbekannte über Zeit und Raum miteinander verbindet.« (AdZ 64)[12]
Das ›mysteriöse‹ Moment dieser Beobachtung liegt darin, dass der durch Sklavenarbeit produzierte Zucker eine billige Kalorienzufuhr für das europäische Proletariat und damit eine materielle Grundlage auch für deren Ausbeutung lieferte, die gewaltvollen Produktionsbedingungen des Rohstoffs jedoch im süßen Konsummittel verschwinden.
Dabei kann der koloniale Zuckerhandel als eine treibende Kraft in jenem Prozess moderner Kapitalbildung verstanden werden, der von Karl Marx als ›ursprüngliche Akkumulation‹ beschrieben wurde und auf den die Erzählerin mehrfach verweist. (AdZ 63-65, 138) In Anschluss an Adam Smith[13] beschreibt Marx im Begriff der ursprünglichen Akkumulation die Entstehung des Kapitals. Im Unterschied zu Smith wird dieser Prozess von Marx allerdings nicht als eine Anhäufung von Kapital durch Fleiß und Fortüne verstanden, sondern als ein gewaltvoller Prozess der Enteignung, Vertreibung und räuberischen Monopolisierung.[14] Wie der von der Erzählerin begehrte C. feststellt, sei »in der Literatur auch die Rede von der ursprünglichen Akkumulation als Akkumulation von Unterschieden und Spaltungen.« (AdZ 65, vgl. 138) Dabei liegt die Referenz hier zum einen auf der von Marx im Zuge der ursprünglichen Akkumulation beschriebenen Entstehung des im formalen Sinne ›freien‹ Arbeiters, der im Unterschied zu den in Subsistenzwirtschaft arbeitenden Bauern nicht länger über die Produktionsmittel verfügt. Zum anderen verweist der Text an dieser Stelle auf Silvia Federicis Studie Caliban and the Witch. Women, the Body and Primitive Accumulation (2004), in der Federici das von Marx geprägte Theorem aus feministischer und postkolonialer Perspektive aufgreift und damit – der Wiedergabe eines abendlichen Gesprächs durch die Erzählerin zufolge – eine ganze Reihe weiterer Spaltungen beschreibbar macht:
»die Spaltung von überseeischem Sklaven und europäischem Proletarier, von Bürgerin und Papierloser, von Kranken und Unversehrten, die Spaltung der Ausgebeuteten in der Metropole von den kolonialen Subjekten, des Manns als Fabrikarbeiter von der Frau als Maschine der Reproduktion und so weiter
(wie man es z.B. bei Federici lese),
denn nur so könne sich das System angesichts der eklatanten Diskrepanz zwischen den Versprechungen des Kapitalismus und den tatsächlichen, miserablen Verhältnissen doch aufrechterhalten.« (AdZ 65)
In Caliban and the Witch widerspricht Federici Marx’ Annahme, dass die rohe Gewalt der frühen Phase der Akkumulation mit der Ausreifung der selbstregulatorischen Kräfte des Kapitalismus zunehmend nachlassen werde. Wie sie anhand der Globalisierungsschübe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet, wiederholt sich nicht bloß der Prozess der ursprünglichen Akkumulation immer wieder aufs Neue, sondern insbesondere die sich in diesem Prozess niederschlagende Gewalt, die aus Perspektive der Konsument:innen weithin unsichtbar bleibt oder verdrängt wird.[15]
Aus der Zuckerfabrik greift das Prinzip der ursprünglichen Akkumulation und die im Roh- und Konsumtionsstoff des Zuckers enthaltene Geschichte des Kolonialismus aber nicht bloß als Thema auf. Vielmehr reflektiert der Text in diesem Nexus gerade anhand des Begehrens die Kontingenz des eigenen erzählerischen Standpunktes innerhalb des ökonomischen Geflechts und zieht daraus poetologische und poetische Konsequenzen. Im Spiegel des mit Mintz beschriebenen Verschwindens der Produktionsbedingungen im fetischisierten Konsumtionsmittel des Zuckers sowie Federicis Kritik der ursprünglichen Akkumulation als einem Prinzip, das in derselben Bewegung, in der es Spaltungen hervorbringt, diese auch verdeckt, weist die durch Sprünge, Leerstellen und Trennstriche strukturierte Form von Aus der Zuckerfabrik auf ein mit dieser Bewegung zusammenhängendes Problem der Geschichtsschreibung hin: Insbesondere in der von Smith ausgehenden liberalen Version impliziert das Theorem der ursprünglichen Akkumulation die verzerrte geschichtliche Erzählung der – männlichen – Profiteure des Kapitalismus und blendet andere Perspektiven und Erfahrungen darin aus. Als geschichtliches Prinzip konstituiert sich ursprüngliche Akkumulation auch durch die Auslöschung ihrer eigenen Geschichte der Gewalt, indem sie die Tatsache ausblendet, dass Akkumulation keine einfache Anhäufung von Kapital durch individuelle Leistungen bedeutet, sondern vor allem strukturelle Ausbeutung und Zerstörung. Wenn der Kapitalismus eine – wie es bei Joseph Schumpeter heißt – immer wieder neu ansetzende ›schöpferische Zerstörung‹[16] vollzieht und sich in dieser Zerstörung erneuert, so erzwingt diese Erneuerung zugleich einen wiederum gewaltvollen Prozess des Vergessens, der Verdrängung und Verleugnung der Gewalt, auf der die Produktivität der kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsweise beruht. Für die poetische Kritik stellt sich deshalb die Frage, wie – d.h. in welcher Form – dieses Prinzip des Vergessens und Verdrängens sichtbar gemacht werden kann.
II. Kritik der Form des Romans
Einen ersten Schritt in diese Richtung der Sichtbarmachung unternimmt die Erzählerin, indem sie ihre eigene Position und damit auch ihr Begehren als Disposition der Gewalt identifiziert. Anlässlich eines Besuchs ihrer Tanten thematisiert sie »die Frage des eigenen Herkommens, der eigenen Ausgangslage« anhand der in der Familie der Mutter tradierten Gewalt gegenüber Tieren in der Fleischverarbeitung: »Praktische Hände, die eben auch mit einem Messer umgehen und das Fleisch vom Knochen trennen können./– Töten?/– Ja, auch das.« (AdZ 47f.) An einer späteren Stelle wird diese über Generationen weitergegebene Disposition zur Gewalt von der Erzählerin in einer subjektiven Fantasie wiederholt:
»[I]ch stelle mir in diesem Moment vor, wie ich mich auf etwas stürze […] und immer wieder zusteche, enthemmt und rasend, […] und ich ziehe weiter über die Insel hinweg, ich trage mein Messer vor mir her, ein Erbstück, das über viele Generationen hinweg an mich weitergegeben wurde, ich hinterlasse eine Spur der Zerstörung, und mein einziger Nachteil ist, dass ich so weiß bin, dass man mich im Mondlicht schon von weitem sehen kann.« (AdZ 154)
Indem die Erzählerin sich als weiße Person markiert, macht sie die hier ausformulierte Fantasie als eine tradierte und meist doch unreflektierte Verhaltensweise lesbar, die sich die Welt nach der blinden Maßgabe des eigenen Begehrens bedingungslos anzueignen und zu unterwerfen versucht. Erst aus dieser Identifikation mit der Gewalt formuliert sie dann die Sehnsucht, ein verändertes, behutsameres Verhältnis zu den Dingen zu entwickeln, das diese nicht der eigenen Perspektive unterwirft, sondern die Möglichkeit schafft, sie in dem ihnen eigenen Reichtum zu erhalten:
»Ich weiß ja selbst auch nicht besser, wie das ginge: Die Dinge, die ich beschreibe, mir nicht zu nehmen, sie nicht haben zu wollen und nicht zu schmälern, so eindeutig zu bestimmen, sondern sie im Gegenteil noch freier und unabhängiger zu machen, als sie es waren, bevor ich zum ersten Mal ein Auge auf sie warf.« (AdZ 155)
Vor dem Hintergrund dieses Anspruches muss die Form, in der die poetische Kritik ihr Material verarbeitet, eine andere sein als die jener Gewalt, die sich noch in der fetischisierenden Transformation des Zuckers von einem Rohstoff in ein Produkt der Konsumtion niederschlägt, das den kolonialen Zusammenhang der Ausbeutung vergessen macht. Reflektiert wird dieses Problem im Text als Kritik des Romans, die in einem von der Erzählerin wiedergegebenen Gespräch mit dem Lektor Martin angedeutet wird:
»Martin, der Lektor, sagt, im Falle einer Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen müsse auf jeden Fall ›Roman‹ auf dem Umschlag stehen. […] Ich sage, es handle sich um einen Bericht über eine Recherche, weshalb ›Recherchebericht‹ mir ungleich passender erscheine.//Bei Fichte heiße es ja auch ›Forschungsbericht‹.« (AdZ 125)
Tatsächlich verzichtet Aus der Zuckerfabrik – anders als Elmigers frühere Bücher – auf eine Markierung als Roman auf dem Cover oder Titelblatt, und auch die – in Referenz auf Hubert Fichtes dialogisch verfassten und sehr wohl mit der Gattungsbezeichnung Roman versehenen Forschungsbericht (1989)[17] – zitierte Bezeichnung ›Forschungsbericht‹ wird nicht zur Klassifizierung des Textes verwendet. Ebenso wenig ist aber auch der von der Erzählerin ins Spiel gebrachten Bezeichnung »Recherchebericht« (AdZ 47) zu folgen, konstituiert sich der Text doch eindeutig auch aus Elementen, die nicht in der Form eines Berichts aufgehen.
Genauer können die hier latenten Implikationen von Elmigers Kritik der Form des Romans ausgehend von ihrem Debüt Einladung an die Waghalsigen (2010) und einem in dessen Umfeld veröffentlichten Zeitungsinterview auf mindestens drei Ebenen beschrieben werden. Erstens denkt Elmiger den Roman als eine Form, die durch eine handlungsorientierte Erzählung integriert ist, wenn sie etwa erklärt: »Mit dem Ausdruck ›Plot‹ kann ich überhaupt nicht arbeiten, weil ich die Verkürzung der Welt auf eine lineare Handlung nicht verstehe.«[18] Aus gattungstheoretischer Perspektive erscheint der Roman damit weniger als eine emphatisch moderne, durch Vielfalt und Heterogenität geprägte Form der Epik denn im Sinne der etwa von Bertolt Brecht mit Blick auf das 19. Jahrhundert anhand der zunehmenden »Zentralisierung einer Fabel« diagnostizierten Dramatisierung der Romanform unter dem Einfluss der aristotelischen Poetik.[19]
Zweitens wird mit dieser narrativ integrierten Form eine vereinheitlichende oder homogenisierende Überformung des Materials durch ein erzählerisches Subjekt angedeutet. In Einladung an die Waghalsigen wird die »Chronik«,[20] in der die Erzählerin Margarete Stein und ihre Schwester Fritzi ihre Suche nach dem verschwundenen Fluss Buenaventura zu dokumentieren versuchen, entsprechend gegen die Forderung verteidigt, »die Ereignisse gehorsam dem unterzuordnen, was gemeinhin als Geschichte anerkannt wird.«[21] Schließlich würde das nicht bloß eine »Vereinfachung der Dinge« zur Folge haben, sondern ebenso »eine Relativierung und den grundsätzlichen Verzicht auf Widerspruch, auf die Bildung von nichtverwandtschaftlichen Banden und Bündnissen. Auf den unvermittelten Auftritt der Möglichkeit im Raum.«[22]
Drittens soll durch den Verzicht einer Organisation des narrativen Materials durch eine dramatische Handlung eine neue Form geschaffen werden. Dadurch, dass die Erzählung sich auch hier nicht in einem abgeschossenen Narrativ realisiert, sondern durch Absätze, Leerzeilen und Sprünge die Leerstellen der Recherche der Schwestern Margarete und Fritzi sichtbar hält, soll sie für den Einbruch von Kontingenz sowie die Entstehung von vorweg möglichst unbestimmten Assoziationen offengehalten werden.
In diesem Sinne stellt auch Aus der Zuckerfabrik die Alternative zur Form des Romans gleich im ersten Kapitel vor. Den Ausgangspunkt bildet hier die Bemerkung einer Freundin der Erzählerin über eine »lange Reihe von plötzlich aufscheinenden Bildern« in dem Roman eines australischen Schrifttellers, »Bilder, die sich gegenseitig hervorriefen, also in einer zumindest losen Verbindung stünden und so eine Art Pfad bildeten, […] der durch die Dinge hindurchführe.« (AdZ 11) Mit Blick auf ihr eigenes über Jahre zusammengetragenes Material mag die Erzählerin allerdings keinen sichtbar werdenden Pfad erkennen. Anstelle vektorieller ruft sie deshalb mehrere räumliche Bilder auf, etwa einen »weitläufigen Platz«, an den sie ihr Material »zurückgetragen und vorläufig abgestellt« habe, oder einen »Ort«, an dem noch »keine feste Ordnung« besteht, sondern die angesammelten Elemente mit jedem Wechsel der Betrachtungsweise »in neue Verhältnisse zueinander zu treten [scheinen]«. (AdZ 12) Auch wenn dieser im Text thematisierte Ort, an dem die Erzählerin ihr narratives Material versammelt, vom Raum des Textes zunächst einmal strikt zu unterscheiden ist, wird an dieser Stelle nicht weniger als der Anspruch formuliert, die Form des Textes eben als einen Raum der »Nachbarschaften und freien Assoziation der Dinge«[23] zu entwerfen. Einen Raum, in dem die Dinge vom identifikatorischen Zwang der Tatsächlichkeit und Widerspruchslosigkeit befreit sind und sich stattdessen im Medium der Fiktion gegenseitig potenzieren und erweitern können. Mit welchen Verfahren aber lässt sich solch ein Ort – wenn überhaupt – realisieren und welchen kritischen Charakter nimmt er durch diese Verfahren an?
III. Drei aufeinander verweisende Verfahren
III.1 Akkumulation
Das für die Form von Aus der Zuckerfabrik zentrale und im Text wiederholt thematisierte Verfahren ist das Sammeln. In einem kürzlich veröffentlichten Essay hat Elmiger dieses Sammeln in Anlehnung an Ursula K. Le Guins Carrier Bag Theory of Fiction – auf die auch die oben zitierte Fantasie der Jagd anspielt – als ein poetisches Prinzip beschrieben, das anstelle der Überformung der Wirklichkeit durch die zielgerichtete Erzählung einer dramatischen Handlung auf eine akkumulative »Logik des UND« setzt:
»Sie erlaubt eine Aufzählung, eine Betrachtung der Sachverhalte, ein Studium aller Dinge, die der Fall sind, und ihrer Verwandtschaften, Ausstrahlungen, feedbacks, statt ihnen bloß eine Funktion zuzuweisen, sich ihrer als zielführende Instrumente zu bedienen, sie der einwandfreien, der widerspruchsfreien Erzählung unterzuordnen.«[24]
Le Guin eröffnet ihre Theorie mit einer anthropologischen These, die auf eine Korrektur des in abenteuerlichen Geschichten tradierten Bildes des männlichen Helden hinausläuft: Nicht tierisches Fleisch habe die Diät der frühen Menschen bestimmt, sondern gesammelte Lebensmittel wie Beeren, Wurzeln oder Nüsse.[25] Die Jagd sei eher als eine Freizeitaktivität zu verstehen, deren wichtigster Ertrag in erster Linie die Geschichte sei, die sich hinterher davon erzählen ließ. Die Form dieser Geschichten entspreche dabei häufig jenem Akt, den sie verklären: einem straff gespannten roten Faden dramatischer Handlung, die einem durch die Luft schnellenden Speer gleicht. Ausgehend von ihrer anthropologischen These nimmt Le Guin eine Demontage dieses männlichen Mythos vor. Wenn nämlich nicht das erlegte Tier, sondern gesammeltes Gut die Lebensgrundlage der frühen Menschen bildete, dann seien auch nicht mehr die phallischen »sticks and spears and swords«[26] für die Kulturbildung entscheidend. Eher habe es vielfältiger Formen von Behältnissen bedurft, in denen die Erträge des Sammelns und des Anbaus transportiert und gelagert werden konnten. So bildet die Tragetasche für Le Guin das Modell für eine Praxis des Erzählens und eine Form des Romans, die weit reichhaltiger ist als die dramatisch zugespitzten Narrative des Helden. Die Form des Romans dient dann nicht mehr der Unterwerfung und Penetration der Welt durch Helden und Erzähler, sondern realisiert sich als ein Behälter, in dem unterschiedliche Geschichten eingesammelt und zueinander in weit verflochtene Verhältnisse gesetzt werden können.
In ihrem Essay Das Problem des Jägers/(Magic) Pocket Theory of Fiction (2021) knüpft Elmiger an diesen Gedanken an, indem sie die Tasche zur Trägerin ihrer »Logik des UND« erklärt, d.h. eines poetischen Prinzips des Einsammelns und Relationierens, das Elmiger zugleich gegen die Linearität der integrativen Erzählung profiliert:
»Ist nämlich die Entscheidung für das Behältnis oder die Tasche einmal gefallen – eine Entscheidung, die auf der Art und Weise fußt, wie die Dinge sich zeigen in der Welt –, drängt sich das UND geradezu auf: Es ist keine Option, sondern ein zwingendes Prinzip: An jeder Sache hängt eine andere dran.«[27]
Dabei kann diese Form des Sammelns weder mit der ursprünglichen Akkumulation identifiziert noch als ihr bloßes Gegenprinzip verstanden werden. Weil Elmiger mit diesem Verfahren letztlich ethischen und politischen Intuitionen folgt, kann und will sich das Sammeln der Erzählerin nicht jenseits des Gewaltverhältnisses der ursprünglichen Akkumulationen verorten. Vielmehr bildet die ursprüngliche Akkumulation ihr epistemisches Paradigma der Spaltung. Die Akkumulation des Materials ist also nicht allein ein zentrales Verfahren des Textes, sondern markiert zugleich die epistemologische Prämisse, aus der sich dessen von Sprüngen und Spaltungen durchzogene Form konstituiert.
III.2 Anordnung
Das zweite zentrale Verfahren des Textes ist dasjenige der Anordnung. Es zielt auf den Übergang von der im Text thematisierten Sammlung des »Material[s]« in der »›Zucker‹-Mappe« (AdZ 123) oder in »Dateien« (AdZ 12) zu der den Text als Text konstituierenden bzw. in der Form des Textes realisierten Ordnung.
In ihrer Magic Pocket Theory betont Elmiger, dass die Anordnung des Materials im Text – d.h. seine durch das Medium des Buches vorgegebene linearisierte Reihung, die Gliederung in Kapitel sowie die Strukturierung durch Leerzeilen und z.T. noch einmal durch zentrierte Spiegelstriche abgesetzte Paragrafen – nicht beliebig ist. Auch wenn Aus der Zuckerfabrik also formal nicht durch eine integrative Erzählung bestimmt wird, geht die bewegliche »Unordnung«[28] der Tragetasche im Text notwendig in eine Ordnung über. Elmiger beschreibt dieses Problem des poietischen Prozesses als Szene auf einer Zugreise, in der ihr Begleiter – ähnlich einem Magier oder Clown auf der Bühne – immer weitere und immer größere Dinge aus seiner linken Hosentasche zaubert und in einer geradezu magisch anmutenden Geste auf dem Tisch auslegt:
»[S]chlussendlich entscheidet sich alles mit dem Trick – jener Geste, die das Gesammelte transformiert, indem sie es auf diese oder jene Weise aus der Tasche befördert und in bestimmten Reihenfolgen, Konstellationen auf den Tisch legt; jener ganz spezifischen Bewegung der Hand, die den Inhalt der Tasche so oder so zu Tage befördert und damit dies oder jenes anzufangen weiß.«[29]
Mit der Konstitution der Ordnung des Textes wird das von der Erzählerin gesammelte Material also zugleich in das Material des Textes transformiert und bleibt dabei weiterhin am epistemologischen sowie ethisch-politischen Anspruch ihrer Formreflexion orientiert. Denn so wie der Begriff der ursprünglichen Akkumulation in der liberalen politischen Ökonomie über den gewaltvollen Charakter dieses Prozesses hinwegtäuscht, können die Begriffe der Akkumulation und Anordnung im poetologischen Sinne auch leicht darüber hinwegtäuschen, dass durch jeden Akt der Ansammlung und Ordnung gleichzeitig auch selektiert, ausgegrenzt und vergessen wird. Im kritischen Bezug auf dieses Prinzip bedeutet die (ursprüngliche) Akkumulation bei Elmiger deshalb beides: die Ansammlung des Materials und die Kritik – d.h. die Reflexion auf die Bedingungen – dieser Sammlung und der daraus konstituierten Ordnung. Es geht darum, die notwendig entstehenden Lücken, Ausgrenzungen, abgebrochenen Pfade und Fährten sichtbar zu machen:
»Der schriftliche Umgang mit dem Inhalt des containers dann immer als Verstrickung in die Welt, als Erzählung angesichts der oder gegen die Verhältnisse. Stets weist ein solcher Text auf seine Mangelhaftigkeit, seine Unvollständigkeit hin: Denn dies ist der Fall und dies ist der Fall, und hier gehe ich und nicht dort, und während ich dies tue, geschieht an anderer Stelle das, und immer fehlt etwas in der Tasche, habe ich etwas vergessen oder übersehen, nicht verstanden oder ausgelassen.«[30]
Geradezu neurotisch macht der sprunghafte Aufbau des Textes in diesem Geiste mit jeder neuen Leerzeile die Limitierungen der eigenen Beobachtungsposition innerhalb des ökonomischen Geflechts sichtbar.
III.3 Kritische Aneignung
Untrennbar verbunden mit diesen beiden Verfahren ist dasjenige der die kritischen Aneignung, die noch einmal die für den Text konstitutive Funktion des Begehrens hervorhebt. Bereits die Akkumulation und Anordnung des Materials können als Formen der Aneignung verstanden werden. Innerhalb des Textes finden sich aber auch immer wieder kursiv gesetzte Passagen, die nicht bloß durch das Verfahren der Aneignung hervorgebracht werden, sondern es als Verfahren des Textes markieren. Erstmals geschieht dies im Kapitel »Bellevue« (AdZ 21-46), das anhand von Marie-Luise Kaschnitz’ Orte. Aufzeichnungen (1973) und der von Ludwig Binswanger behandelten Patientin mit dem Pseudonym ›Ellen West‹ u.a. Motive der Schiffsreise sowie die Verschränkung von Esslust und sexuellem Begehren einführt, bevor diese in einer narrativen Passage in Form einer fiktionalen Erzählung angeeignet und weiter ausgeführt werden. (Vgl. AdZ 33-40) Eine ausführliche Analyse dieser und weiterer Passagen[31] würde den Rahmen der hier verfolgten Argumentation sprengen. Festzuhalten ist jedoch, dass die Erzählerin, indem sie bestimmte Motive und Themen zunächst durch ausgewiesene Referenzen – hier auf Kaschnitz und Binswanger/West – in den Text einführt, den Ursprung des von ihr in der Form der Fiktion angeeigneten Materials sichtbar zu halten versucht.
In konzentrierter Form kann dieses kritische Verfahren der Aneignung ausgehend von einer gerade einmal fünf Zeilen und dennoch drei Absätze umfassenden Passage beschrieben werden, die durch Spiegelstriche gesondert von der ansonsten durch einfache Leerzeilen strukturierten Paragrafenfolge abgesetzt ist:
»Ellen West vor einer mit 20 Orangen gefüllten Schale.
Das Kindermädchen betritt das Zimmer mit Zuckerwasser, um EIRAM ESIUL zu trösten.
Ich auf dem Balkon über der Limmat, mit der Birne in der Hand, still willing to share the fruit.« (AdZ 73)
Zwei zuvor als Material des Textes innerhalb thematisch strukturierter Kapitel akkumulierte Passagen über West und Kaschnitz werden hier in den ersten beiden Zeilen in Kurzfassungen wiederaufgerufen, um in der dritten Zeile noch einmal durch die Erzählerin angeeignet zu werden:
»S. 21: Kaschnitz, als sie noch Marie Luise von Holzing-Berstett heißt, oder vielmehr EIRAM ESIUL, läutet als Kind nach dem Kindermädchen Lulu, ›das tröstend mit Zuckerwasser ins Zimmer kommt‹.« (AdZ 26)
»›Ellen läßt ganze Mahlzeiten aus, um sich dann mit um so größerer Gier wahllos auf irgendwelche Speisen, die gerade zur Hand sind, zu stürzen. Sie verzehrt täglich einige Pfund Tomaten und 20 Orangen.‹ (Binswanger, S. 265)« (AdZ 56)
Das Vehikel dieser Aneignung ist das Begehren der Erzählerin, das über die affektive Besetzung der süßen Früchte und des Zuckers in ein Verhältnis der Assoziation zu ihrem Material tritt. Potenziert wird dieser assoziative Raum zugleich durch zwei weitere intertextuelle Verweise: Zum einen ruft die »Birne in der Hand« die Konrad von Würzburg zugeschriebene Märe Die halbe Birne (ca. 1250-1300) auf, die der Text an früheren Stellen referenziert. (AdZ 56, 65f.) Zum anderen weist die englische Wendung »still willing to share the fruit« auf eine weiter oben auf derselben Seite zitierte Stelle bei Edward Gibbon Wakefield zurück, in der dieser beschreibt, wie sich junge männliche Diebe an einem bestimmten Punkt ihrer Karriere von ihren Anstifterinnen – in diesem Beispiel Obsthändlerinnen – abwenden würden, »his original seducer with whom he is no longer willing to share the plunder.« (AdZ 73) Das den Text motivierende und sich im Motiv des Zuckers kristallisierende Begehren wird durch diese intertextuelle Perspektivierung einem naturalistischen Verständnis enthoben. In seiner ökonomischen Codierung avanciert es stattdessen zum zentralen Moment der poetischen Kritik.
IV. Verflochtenes Begehren
Auch in seiner kritischen Funktion bleibt das Begehren in Aus der Zuckerfabrik untrennbar mit dem Gegenstand seiner Kritik verflochten. In seiner Tendenz zur Maßlosigkeit ist das Begehren von einer destruktiven Kraft geprägt, die sich etwa in den kolonialen »Halluzinationen von Zuckerbergen, Flüssen aus Gold und unberührten Ländereien« als ausbeuterische Gewalt manifestiert. (AdZ 174) Gleichzeitig aber wirft der Text die Frage auf, ob ein »Verlangen formuliert und gestillt werden kann, ob es sich als zerstörerisches manifestiert oder, im Gegenteil, der Zerstörung entgegenwirkt, etwas repariert, das zuvor verheert wurde, einen Sprung mit Kitt ausfüllt.« (AdZ 196) Das Begehren weist eine ambivalente Struktur auf, indem es die Erzählerin zwar immer tiefer in den Gewaltzusammenhang der ursprünglichen Akkumulation und der damit verbundenen Kolonialgeschichte hineinzieht, zugleich jedoch ein Moment des Aufbegehrens enthält, das insbesondere im unstillbaren Lebenshunger der vielen Frauenfiguren hervorsticht, die der Text zitiert.[32] Wie sich auch mit Blick auf die tötenden Hände der fleischverarbeitenden Familie der Mutter der Erzählerin zeigt, dient es in diesem Zuge immer wieder dazu, die Selbst- und Wirklichkeitsbezüge der Figuren der Eindeutigkeit zu entziehen:
»Und was mich interessiert, ist die Frage, was diese Hände sonst noch konnten, was sie sonst noch kannten.
– Die Lust?
– Ja, natürlich.« (AdZ 48f.)
In seiner kritischen Funktion macht das Begehren zum einen gewaltvolle Zusammenhänge sichtbar, steht zugleich jedoch im Zeichen der Suspension eines vorschnellen Urteils zugunsten einer Steigerung von Komplexität. Die Aporien der Kritik gegenüber ihrem übermächtigen Gegenstand kann (und will) auch Aus der Zuckerfabrik damit sicherlich nicht lösen, sondern bloß ausstellen. Der intrikaten Bewegung, in der sich die Wirklichkeit oder der Kapitalismus als Objekte der Kritik mit jedem neuen Schub der – zuletzt digital codierten – Globalisierung auf neue Art entgrenzen und dadurch den tradierten Routinen des kritischen Zugriffs entziehen,[33] zollt der Text in seiner weit verzweigten Form Rechnung. Die zur Realisierung dieser komplexen inter- und intratextuellen Verweisstruktur entwickelten Verfahren – d.h. die Akkumulation von Material, die Anordnung dieses Materials zu einem zugleich vernetzten und von Spaltungen durchzogenen Zusammenhang sowie die kritische Aneignung dieses Zusammenhangs – scheinen sich dabei allerdings nicht einfach mit der Diagnose vom »Ende des Subjekts und seiner Kritikvermögen«[34] abzufinden. Als durch das Begehren motivierte Mittel einer poetischen Kritik richten sie sich vielmehr gegen das tradierte Missverständnis, das Subjekt der Kritik müsse sich zu seinem Objekt in überlegener Unabhängigkeit verhalten, um Widerstand zu formulieren.[35] Das Begehren ist zugleich Produkt und kritischer Produzent seines Zusammenhangs. In ihrer differenzierenden Bewegung zielt die Form von Aus der Zuckerfabrik auf das Versprechen, einen Raum zu schaffen, in dem das Begehren nicht länger destruktiv wirken muss, ohne dabei die Erinnerung an die Geschichte der Gewalt auszulöschen. Die Hand wird in einem solchen Raum nicht länger zustechen müssen, sondern kann mit einer vorsichtigen Bewegung einen Strauch beiseiteschieben, auf dass sich zumindest für einen Moment ein geschärfter Blick auf die eigene Verstrickung öffnet.
An genau dem Punkt also, an dem sich postdigitales Schreiben und poetische Kritik kreuzen, arbeitet Aus der Zuckerfabrik durch das kritisch reflexive Begehren an der Möglichkeit, einen Raum der Fiktion zu erdenken, der sich nicht als sterile Utopie zum gewaltvollen Gestrüpp der Wirklichkeit entwirft, sondern als eine Art von kritischer Heterotopie einen umso schärferen Blick auf die Gewalt des Wirklichen und die Wirklichkeit konstituierende Gewalt ermöglicht.[36] Einen Ort des Sammelns und der Versammlung, an dem sich die Dinge und Materialien gegenseitig potenzieren, verwandeln und in diesem Prozess semantische Überschüsse produzieren können. Dass Elmiger in dieser Hinsicht die Emphase auf das Buch legt, mag daran liegen, dass das Internet in seiner heutigen Form solche Versprechen nicht mehr überzeugend zu bündeln vermag. Im postdigital situierten Medium des Buches und dessen Affordanz einer linearisierten Ordnung lässt diese Problematik sich dagegen umso besser markieren.
Literatur
[1] Dorothee Elmiger: »Wirklichkeit und nicht Wirklichkeit«, in: Bella Triste 28 (2010), S. 77-85, insb. S. 79f., hier S. 80.
[2] Wie Malcolm Pender feststellt, dient die Fiktion Elmiger als ein epistemisches Vehikel, das eine genaue Beobachtung der Wirklichkeit überhaupt erst ermöglichen soll. Vgl. Malcolm Pender: »Grenzen in den Romanen von Dorothee Elmiger«, in: Vesna Kondrič Horvat (Hg.): Transkulturalität der Deutschschweizer Literatur. Entgrenzung durch Kulturtransfer und Migration, Wiesbaden 2017, S. 141-153, insb. S. 141-144 und S. 152f.
[3] Elmiger: »Wirklichkeit und nicht Wirklichkeit«, S. 80.
[4] Vgl. Florian Cramer: »What Is ›Post-digital‹?«, in: David M. Berry/Michael Dieter (Hg.): Postdigital Aesthetics. Art, Computation and Design, Basingstoke u.a. 2015, S. 12-26.
[5] Johannes Hertwig: »Grinden wie Delphine im Interwebs«, in: ders./Joshua Groß/Andy Kassier (Hg.): Mindstate Malibu. Kritik ist auch nur eine Form von Eskapismus, Fürth 2018, S. 16-39, hier S. 18.
[6] Vgl. Luc Boltanski/Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006, S. 68-87.
[7] Dorothee Elmiger: Aus der Zuckerfabrik, München 2020, S. 9, vgl. S. 123. Nachweise hieraus im Folgenden mit Sigle AdZ und Angabe der Seitenzahl direkt im Text.
[8] Zu den Implikationen dieses Begriffs für die Literaturwissenschaft vgl. Michel Chaouli/Jan Lietz/Jutta Müller-Tamm et al.: »What Is Poetic Critique?«, in: dies. (Hg.): Poetic Critique. Encounters with Art and Literature, Berlin 2021, S. 1-6.
[9] Friedrich Schlegel: »Über Goethes Meister«, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler, Abt. I: Kritische Neuausgabe, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801), München u.a. 1967, S. 126-146, hier S. 140.
[10] Zum Gestrüpp vgl. Max Frisch: Montauk (1975), Berlin 2019.
[11] Bereits im Nordafrika des 9. Jahrhunderts wurden Sklaven für den Zuckeranbau eingesetzt, bevor der Zucker im Zuge der arabischen Invasion nach Europa kam, von dort aus in die Karibik gebracht und schließlich zu einem treibenden Motor für den Sklavenhandel wurde. Vgl. Sidney W. Mintz: Sweetness and Power. The Place of Sugar in Modern History (1985), New York 1986, S. 26f., 185; Eric Williams: Capitalism and Slavery (1944), London 2021.
[12] Vgl. Mintz: Sweetness and Power, S. xxii.
[13] Das durch den Zucker genährte Verlangen kann offenbar so stark sein, dass es selbst einen geschulten Ökonomen wie Adam Smith zu einer regelrechten Gier verleitet. Einer von dessen Biografen John Rae überlieferten und von Elmiger aufgegriffenen Episode zufolge konnte Smith sich während einer Teestunde an der Zuckerschale so wenig beherrschen, dass seine Gastgeberin »sich zuletzt nicht mehr anders zu helfen gewusst habe, als die Schale zu sich, ›auf die Knie‹ zu nehmen, um den Zucker vor Smiths ›unökonomischen Zugriffen‹ zu retten.« (AdZ 99)
[14] In England vollzieht sich dieser Prozess am Übergang vom 14. zum 15. Jahrhundert im Kontext der Aufhebung der Leibeigenschaft. Am Beginn dieses Prozesses stehen gewaltsame Vertreibungen, die Enteignung der katholischen Kirche von ihren Ländereien im Zuge der Reformation, insbesondere aber die Auflösung der zuvor dominanten Form der Subsistenzwirtschaft durch eine zunehmend monopolisierte Pachtwirtschaft. Vgl. Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (1962), in: ders.: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 2013, S. 774-797.
[15] Diese Gewalt richtet sich insbesondere gegen Frauen. In Anschluss an Maria Mies’ auf die Gewalt gegenüber Frauen im Zuge der Kolonisierung fokussierte Arbeit Patriarchy and Accumulation on a World Scale (1986) weist Federici darauf hin, dass diese Gewalt sich insbesondere auf die Disziplinierung und Ausbeutung des weiblichen Körpers in der Reproduktion von Arbeitskraft richtet, und bemerkt, »that Marx could never have presumed that capitalism paves the way to human liberation had he looked at its history from the viewpoint of women.« Silvia Federici: Caliban and the Witch. Women, the Body and Primitive Accumulation, London 2021, insb. S. 3-5, hier S. 4; vgl. Maria Mies: Patriarchy and Accumulation on a World Scale. Women in the International Division of Labour, London 2014, insb. S. 145-174.
[16] Vgl. Joseph Schumpeter: Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 2020, S. 103-111.
[17] Hubert Fichte: Forschungsbericht, Frankfurt a.M. 1989.
[18] Kaspar Surber: »Dorothee Elmiger. ›Meine Fragen sind: Wer ist noch da, wo sind sie und mit wem kann ich mich verbünden?‹«, in: WoZ. Die Wochenzeitung, Nr. 39/2010, 30.09.2010, https://www.woz.ch/-2219 (aufgerufen am 23.08.2022).
[19] Bertolt Brecht: »Vergnügungstheater oder Lehrtheater?«, in: ders.: Schriften 2. Werke, hg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei et al., Bd. 22: Schriften 1933-1942, Berlin u.a. 1993, S. 106-116, insb. S. 107-109, hier S. 107.
[20] Dorothee Elmiger: Einladung an die Waghalsigen, Köln 2010, S. 11.
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23] Vgl. Dorothee Elmiger: »Das Problem des Jägers/(Magic) Pocket Theory of Fiction«, in: Sarah Shin/Mathias Zeiske (Hg.): Carrier Bag Fiction, Leipzig 2021, S. 75-81, hier S. 76-78.
[24] Elmiger: »Das Problem des Jägers/(Magic) Pocket Theory of Fiction«, S. 75.
[25] Vgl. Ursula K. Le Guin: The Carrier Bag Theory of Fiction (1988), London 2019.
[26] Ebd., S. 29.
[27] Elmiger: »Das Problem des Jägers/(Magic) Pocket Theory of Fiction«, S. 76.
[28] Ebd., S. 75.
[29] Vgl. ebd., S. 79-81, hier S. 80f.
[30] Ebd., S. 76.
[31] Vgl. AdZ 69-71, 132-136, 218-229, 238-240, 241-243, 246-248, 250-252, 257-259, 261-265.
[32] Diese These hat Merle Hellberg mit Bezug auf Jule Govrins Studie Begehren und Ökonomie (2020) in einer Seminararbeit verfolgt, die ich im Sommersemester 2022 betreuen durfte.
[33] Vgl. Ruth Sonderegger: »Wie diszipliniert ist (Ideologie-)Kritik? Zwischen Philosophie, Soziologie und Kunst«, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a.M. 2009, S. 55-80.
[34] Ebd., S. 55.
[35] Im Vergleich zu der bei Hertwig nachklingenden Idee einer »Gegenwehr« (Hertwig: »Grinden wie Delphine im Interwebs«, S. 19) ist die in Aus der Zuckerfabrik entfaltete Spielart poetischer Kritik deutlich behutsamer angelegt, in ihrer permanenten Reflexion auf die Limitierungen des eigenen Sprechens sogar – und das meine ich positiv – geradezu neurotisch.
[36] Ich verzichte an dieser Stelle darauf, die hier herausgearbeitete Idee in einem kritischen Vergleich mit Michel Foucaults Begriff der ›Heterotopie‹ oder auch Theodor W. Adornos Bestimmung der Kunst als ›negative Erkenntnis‹ zu diskutieren und hebe mir eine solche Auseinandersetzung für eine spätere Gelegenheit auf.