Poetik und Hermenautik
von Vera Bachmann
25.6.2024

Oberfläche und Tiefe in Christian Krachts Eurotrash

[erschienen in: Hanna Hamel/Eva Stubenrauch (Hg.): Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2023, S. 185-200]

 

1. Eine zähe Unterscheidung

Die Spekulationen über die Zukunft der Smartphones sind so futuristisch wie erwartbar. Leistungsstärker und energieeffizienter sollen sie sein, vernetzter und intelligenter, aber vor allem soll die Technik, die das alles ermöglicht, gänzlich unsichtbar werden. Hologramme könnten künftig die Displays ersetzen, Smart Tattoos die Haut zum Touchscreen machen.[1] Der menschliche Körper wird damit zur Tiefe der Technik.

Erinnerten die ersten Handys noch stark an schnurlose Festnetztelefone, wurden die Modelle mit der Zeit immer kleiner, bis sie mit den Klapphandys auf Daumenlänge schrumpften. Seit Einführung der Smartphones wuchsen die Displays, die Geräte wurden größer, aber flacher. Der Screen wurde als Touchscreen selbst zur Benutzerschnittstelle und integrierte die früheren Knöpfe und Tasten. Neuere Modelle verzichten auch noch auf Rahmen und Rückseite, sie sind reines Display, das alle technischen Komponenten verdeckt.[2]

Damit vollzieht die Entwicklung der Smartphones nach, was spätestens seit der Postmoderne als Allgemeinplatz gelten kann: dass nämlich alles nur noch Oberfläche sei. Die Tiefe hatte lange Zeit die privilegierte Position als schwer zugänglicher Ort von Sinn und Bedeutung,[3] während die Oberfläche als ihr Gegenbegriff entsprechend geringgeschätzt wurde. »Oberflächen galten und gelten geheimhin als suspekt«, so Hans-Georg von Arburg. »Sie scheinen nur der Zier, wenn nicht gar der Irreführung zu dienen, denn der Schein – so heißt es seit jeher – trügt.«[4] Das Eigentlich dagegen werde in der Tiefe gesucht: »Kanonisch ist die ›Tiefe‹ der ›Oberfläche‹ oft vorgezogen worden, Auszeichnungen im Namen des ›Tiefen‹ sind wichtiger Bestandteil von Wertbegründungen und mitunter erfolgreicher Kanonstiftungen geworden und wirken bis heute«,[5] schreibt Thomas Hecken. Inzwischen hat die Umwertung dieser Valenzen aber ebenfalls eine lange Tradition. Seit Nietzsche davon sprach, die Griechen seien oberflächlich aus Tiefe gewesen,[6] hat der Gedanke vielfache Variationen erfahren. Über Hofmannsthal, der empfahl, die Tiefe an der Oberfläche zu verstecken,[7] führt der Weg über Kracauer und Brecht bis zur Popkultur und einer postmodernen Oberflächenfeier, die die Dimension der Tiefe gleich ganz verabschiedete.[8] »Wenn Sie alles über Andy Warhol wissen wollen«, so bekannte Warhol einmal in einem Interview, »brauchen Sie nur auf die Oberfläche meiner Bilder und Filme und meine eigene zu schauen, da bin ich. Dahinter gibt es nichts.«[9]

Wenn es ›dahinter‹ oder ›darunter‹ nichts mehr gibt, könnte man langsam aufhören, davon zu sprechen. Denn eigentlich sollte man meinen, die Unterscheidung selbst sei allmählich ein veraltetes Paradigma. Gerade als Metapher für Literatur scheint sie überholt: Zu sehr ist sie an die Vorstellungen der Hermeneutik gebunden, die nach einer tieferen Bedeutung unter der Oberfläche der Buchstaben sucht, zu wenig scheint sie mit alternativen Textmetaphern kompatibel, die der Poststrukturalismus in Konjunktur gebracht hat: etwa das Netz oder das Rhizom, die tausend Plateaus oder das Wuchern der Buchstaben.

In der Auseinandersetzung mit Popliteratur ist die Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe dennoch nach wie vor ein wichtiges Konzept, auch wenn dabei nur eine Seite der Unterscheidung (die Oberfläche) aufgerufen wird oder mit der Rede von »tiefen Oberflächen« ein Re-entry der Unterscheidung auf einer ihrer Seiten vollzogen wird.[10] Immer wieder wird in der Forschungsliteratur der Gedanke wiederholt, die Tiefe sei lange genug als Residuum von Sinn und Bedeutung betrachtet worden, es gehe nun darum, der bislang stiefmütterlich behandelten Oberfläche endlich zu ihrem Recht zu verhelfen. Nur einige Beispiele: »Der Versuch einer Rehabilitierung der Oberfläche setzt mit einer Ausgangshypothese ein, derzufolge an Oberflächen ganze Wissensordnungen Kontur gewinnen«,[11] beschreibt Stefan Rieger seinen Ausgangspunkt. Der »Vorwurf des Trügerischen, welcher der Oberfläche bis heute anhaftet und sie zu einem defizitären Phänomen herabsetzt, soll […] hier hinterfragt werden«,[12] kündigt Clemens Rathe an. »Die Neue Deutsche Popliteratur kann als eine Literatur der ›Oberflächenabgründe‹ beschrieben werden«, heißt es bei Frank Degler und Ute Paulokat, »in der verführerische Sprach- und Zeichenspiele in der Horizontalen inszeniert werden. Sie verweigert sich konsequent jeder Tiefendimension, ohne dabei an ästhetischem Niveau zu verlieren.«[13] Das »Lob der Oberfläche« hat sich inzwischen so sehr verselbständigt,[14] dass oft nicht mehr benannt wird, was mit der Dimension der Tiefe eigentlich verabschiedet werden soll.

Gemeinsam haben diese Ansätze einen antihermeneutischen Impuls, der sich gegen eine Lektürepraxis richtet, die Bedeutung jenseits des Buchstäblichen sucht. Dennoch bleibt, gerade im Popdiskurs, oft unklar, worauf sich der Begriff der Oberfläche bezieht: »Ist die Oberfläche des Textes, ist die Oberfläche als Darstellung, ist das Dargestellte gemeint?«,[15] so die berechtigte Frage, die Tobias Unterhuber an die Forschungsliteratur zu Christian Kracht richtet. Es ist aber auch nicht leicht, über die Oberfläche zu sprechen, ohne sich im Dickicht der Metaphern zu verirren. Neben der Metaphorik von Oberfläche und Tiefe hat die Hermeneutik eine ganze Reihe von Metaphern zur Beschreibung des Verhältnisses von Text und Sinn entwickelt: Schale und Kern etwa oder Hülle und Verhülltes. Diese konkreteren Bilder wirken wie Formbildungen im Medium der abstrakteren Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe. In der Verwendung dieser Unterscheidung findet sich jedoch eine bestimmte Unschärfe, immer greift man auf andere Metaphern zurück, um zu präzisieren, was gemeint ist. Insbesondere die Oberfläche ist ein schwammiger Begriff, könnte man sagen – doch ausgerechnet der Schwamm verfügt über eine äußerst komplexe Oberflächenstruktur. Das Konzept der Oberfläche changiert zwischen Zwei- und Dreidimensionalität, sie wird teilweise mit dem Horizontalen identifiziert und mal als Fläche, mal als Grenzfläche eines Raums verstanden, mal als Gegenpol, mal als Komplement einer Tiefe, die wiederum als Grund oder als bodenloser Abgrund verstanden werden kann. Die Oberfläche hat mediale Eigenschaften, sie kann durchsichtig oder opak erscheinen, sie kann als Zeichenträger der Tiefe auftreten, durchdrungen werden oder spiegeln. Auch wenn sie nichts von der unter ihr liegenden Tiefe preisgibt, hält die Oberfläche die Frage danach auf elegante Weise offen. Sie ist ein Versprechen von Raum und Verunsicherung über seine Existenz zugleich. Sicher ist bei alledem nur eines: Eine tiefenlose Oberfläche ist eine zweidimensionale Fläche.

Konsequenterweise müsste man also mit der Tiefe auch den Begriff der Oberfläche verabschieden: Die zahllosen Bemühungen um die Oberfläche kommen nicht von der Dimension der Tiefe los. Nicht immer mit vollem Ernst zitiert, ist sie zur Reminiszenz an ein vergangenes Zeitalter der Bedeutsamkeit geworden. Die Tiefe geistert als Metapher durch die Texte, die sich nie vollends von ihr distanzieren, die die Hoffnung nicht ganz aufgeben oder sich nicht von der Furcht verabschieden wollen, dass unter der Oberfläche der Erscheinungen eine tiefere Dimension des Sinns verborgen sein könnte. Am Beispiel von Christian Krachts Roman Eurotrash und mit Seitenblicken auf Leif Randts Allegro Pastell und Thomas Melles Die Welt im Rücken möchte ich im Folgenden der Virulenz des Paradigmas der Tiefe in der Literatur der Gegenwart nachgehen. Zeigen möchte ich dabei, dass es sich dabei nicht um Trägheit der Semantik handelt, sondern die Romane auf der Höhe der Medienentwicklung agieren. Denn ausgerechnet mit den ›neuen Medien‹ kommt die Frage nach der Tiefe ab Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wieder ins Spiel.

 

2. Suggestionsästhetik: Christian Krachts Eurotrash (2021)

In einem Interview hat Christian Kracht einmal gesagt, dass es ihm in seinen Texten um das ›Ausloten der Oberfläche‹ gehe.[16] Die Oberflächlichkeit der beschriebenen sozialen Milieus korrespondiert mit einem beschreibenden Verfahren, das die Figuren nicht mit einem komplexen ›Innenleben‹ ausstattet. Ihre Semantisierung erfolgt vorrangig über Mode, durch das Referenzsystem von Marken und deren Valenzen. Darin berühren sich seine Texte mit Bret Easton Ellis’ American Psycho, in dem sich hinter der Fassade von Gepflegtheit und Luxusmarken Abgründe der Aggression auftun und Exzesse der Gewalt verbergen. Eine solche verborgene Seite geht den Figuren Krachts meist ab. Dennoch ruft er mit der Formulierung vom Ausloten der Oberfläche nicht zufällig den paradoxen Topos der tiefen Oberfläche auf. Bei aller ausgestellten Oberflächlichkeit bleibt die Dimension der Tiefe in seinen Texten präsent. Besonders deutlich wird dies in seinem Roman Eurotrash (2021), in dem er geradezu ostentativ die Vermutung verborgener Bedeutung inszeniert.

Die Figur der Mutter in Eurotrash ist in mehrerlei Hinsicht das Gegenmodell zum Banker Patrick Bateman, dem Protagonisten in American Psycho.[17] Sie ist alt, ungepflegt und verwahrlost, außerdem macht sie sich nicht mehr das Geringste aus Luxusmode. Genau wie bei Bateman treten äußeres Erscheinungsbild und Innenleben auseinander. Immer wieder überrascht sie den Erzähler mit ihrem Gedächtnis, ihrer Schlagfertigkeit, ihren Einsichten. Ihr Äußeres verweist auf dieses Innere nicht zeichenhaft, ganz im Gegenteil: In der Beschreibung des Erzählers gleicht ihr Gesicht einem Palimpsest, das vom Niedergang der Familie erzählt:

»Der Zerfall dieser Familie, ja, die Atomisierung dieser Familie, als deren Tiefpunkt man den achtzigsten Geburtstag meiner Mutter im Gemeinschaftszimmer der Nervenklinik Winterthur bezeichnen muß, war von einer bodenlosen Hoffnungslosigkeit, ich sage es gerne noch mal und immer wieder.
Sie hatte dort zusammengekauert gesessen, die fettigen, aschblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, in einem hellblauen Trainingsanzug aus Frottee. Vor sich auf dem Tisch der aus der Bahnhofstrasse mitgebrachte Blumenstrauß zu achthundert Franken, das eingefallene Palimpsest ihres Gesichts vom betrunkenen Hinfallen zerschrammt und mit dunkelroten Blutkrusten überzogen, die Augenbrauen kaum noch wahrnehmbar, sondern durch das verbeulte Zickzack der mit dunklem Faden vernähten Platzwunden bedeckt, so stellte sich das dar, die Abwärtsbewegung, die Talfahrt dieser Familie als Landkarte ihres Gesichts, wenn man das so sagen kann.«[18]

Auf dem Gesicht der Mutter überlagern sich schichtweise die Zeichen des Verfalls. Die Beschreibung als Landkarte der Talfahrt einer Familie zeigt: Nur als Katachrese kann offenbar das Schreckliche dieser Familiengeschichte benannt werden. Das Palimpsest ist das Modell einer tiefen Oberfläche, indem es Spuren verschiedener Schichten und Überschreibungen in der Fläche zeigt – hier als Wundnahten und Blutkrusten von den Stürzen der Mutter. Das, worauf die Zeichen dieses Gesichts verweisen, wird im Roman nun immer wieder hinter oder unter dem Sichtbaren vermutet. Mehrfach spricht der Erzähler davon, dass hinter den Ereignissen »immer ein schreckliches, ein unaussprechliches Geheimnis gelegen haben mußte, dessen Deutung mir aber auf ewig verborgen bleiben sollte.« (29) Weitere hermeneutische Metaphern folgen:

»Mir fehlte also die Erklärung des größeren Zusammenhangs der Umstände meiner Familie. Es war, als lief ich jahrzehntelang am Rande enormer Bosheiten mit und könne sie nur nicht erkennen, als steckten innerhalb meiner Vermutungen nur weitere Vermutungen, als sei ich von einer Krankheit des morphischen Feldes befallen, einer grausamen Niedertracht, die aus der Vergangenheit hochstrahlte. Als wäre mir suggeriert worden, die Umstände meiner Kindheit und Jugend seien auf irgendeine Weise besonders oder außerordentlich, während sie in Wahrheit nicht nur durchdrungen waren von Mittelmaß und deprimierender Bürgerlichkeit – weil damit hätte ich mich wohl arrangieren können –, sondern auch von einem profunden Unheil.
Könnte ich nur in irgendeiner Chronik lesen, dem Buch des Weltgedächtnisses etwa, oder in den südindischen Palmblattmanuskripten, dann wüßte ich um alles, würde ich mit einem Mal schlagartig alle Zusammenhänge verstehen können, die verborgen geblieben waren.« (30f.)

Eine ganze Reihe von Denkmodellen wird hier aufgeboten: der verborgene Zusammenhang, das morphische Feld, Strahlungen, die Matroschka, die Suggestion oder das Weltgedächtnis. Es sind allesamt analoge Modelle. Kein Internet-Archiv, keine time machine ist darunter. Das »profunde[] Unheil« bleibt verborgen. »[U]nter der Oberfläche«, heißt es mit Blick auf die Bilderbuchsammlung des Großvaters, »so schien es mir damals wie heute, ging es unheimlich zu, als verberge sich da, in diesen freundlichen und Geborgenheit verheißenden Zeichnungen von Fritz Baumgarten, die schattenumrankte, unheilvolle deutsche Seele« (35).

Die nationalsozialistische Verstrickung der Familie, die »unheilvolle deutsche Seele«, die Vergewaltigung der Mutter als Elfjährige und die in Wandschränken verborgenen Folterwerkzeuge – all das sind längst benannte, offen zutage liegende Fakten, die doch nicht den »perfide[n] Schlüssel zum Verständnis« (32) der Vergangenheit liefern. Suggeriert wird, dass unter oder hinter diesen Dingen Weiteres verborgen ist, an das es kein Herankommen gibt.

Gerade einer der Autoren, die am häufigsten mit dem Label der Popliteratur versehen wurden, knüpft an Schreibweisen des neunzehnten Jahrhunderts an, in denen Tiefe als das unter der Oberfläche Verborgene konturiert wurde. Damals wanderte die hermeneutische Metaphorik in die literarischen Texte selbst ein. Sie statteten sich mit einer metaphorischen Tiefendimension aus, wobei der Zugriff auf die Tiefe in zunehmendem Maße vermittelt erfolgte. In der Literatur des bürgerlichen Realismus entwickelte sich eine Poetik der Oberfläche, die mit der ›realistischen‹ Schilderung von Alltagswelten, also dem, was man heute Oberflächenbeschreibungen nennen würde, auf eine verborgene Bedeutung zielte. Überspitzt gesagt: Während Schillers Taucher Ende des 18. Jahrhunderts noch in den Schlund der Charybdis springt, um seinem König zu berichten, was er »auf des Meeres tiefunterstem Grunde« sah,[19] blickt man am Ende des darauffolgenden Jahrhunderts auf dunkle, spiegelnde, gefrorene Wasseroberflächen und spricht darüber, was darunter alles verborgen sein könnte. Oberfläche wird gleichbedeutend mit Suggestion von Tiefe. Nur ein Beispiel dafür aus Theodor Fontanes Der Stechlin: Hier steht ein See im Zentrum des Romans, von dem erzählt wird, er beginne bei weltbewegenden Ereignissen zu sprudeln oder lasse gar einen roten Hahn aufsteigen. Während der gesamten Romanhandlung bleibt der See die Demonstration dieser Fähigkeiten schuldig. Zuletzt friert er zu, die Eisfläche ist von Schnee bedeckt. Den Vorschlag des Schlossherren Dubslav von Stechlin, das Eis aufhacken zu lassen, damit seine Besucherinnen Melusine und Armgard den See in Aktion erleben könnten, lehnt Melusine ab:

»Um Gottes willen, nein. Ich bin sehr für solche Geschichten und bin glücklich, dass die Familie Stechlin diesen See hat. Aber ich bin zugleich auch abergläubisch und mag kein Eingreifen ins Elementare. Die Natur hat jetzt den See überdeckt; da werd’ ich mich also hüten, irgendetwas ändern zu wollen. Ich würde glauben, eine Hand führe heraus und packte mich.«[20]

Tiefe wird hier zu einem Versprechen der Oberfläche, die Oberfläche zu einem Versprechen von Tiefe. In diesem Sinn haben die Umwertungen von Oberfläche und Tiefe im 20. Jahrhundert nur nachvollzogen, was die Literatur bereits praktiziert hat: Sie hat Tiefe zu einem Effekt der Oberfläche gemacht und als ihr Komplement hermeneutische Lektürehaltungen hervorgebracht, die auf das Aufdecken verborgener Bedeutung zielen.

In Eurotrash, das erübrigt sich fast zu erwähnen, wird auch im weiteren Verlauf des Romans das »profunde[] Unheil« der Familie nicht ans Licht befördert. Stattdessen begibt sich der Erzähler mit seiner Mutter auf eine Reise durch die Schweiz, in deren Verlauf die Mutter all die ästhetischen Urteile des Sohns, von denen auch die Bewertung ihres Verfalls abhängt, unterläuft und konterkariert. Seine Deutung der zeichenhaften Oberfläche wird damit verunsichert, der Bezug dieser Zeichen zur Familiengeschichte wird unklar, ohne dass die Suche nach dem in der Tiefe Verborgenen aufgegeben würde.

Die Erwartungshaltung des Erzählers und seine Suche nach einem tieferen Geheimnis setzt sich sogar über die Grenzen des Romans hinaus fort. Auch der Schutzumschlag trägt die Zeichen einer Rezeptionshaltung, die nach der tieferen Bedeutung des Erzählten sucht: Christian Krachts Romane, so der Blurb Daniel Kehlmanns, »verbergen allesamt ein Geheimnis, dem man nie ganz auf den Grund kommt.«[21] Das autofiktionale Spiel mit der Homonymie von Autor- und Erzählername (Christian Kracht) verleitet dazu, nach dem ›wahren Kern‹ der Geschichte zu fragen. Der Roman evoziert so mit der vom Erzähler aufgerufenen Metaphorik der Tiefe eine Erwartungshaltung an den Text selbst. Auch wenn oder gerade weil das Versprechen der Tiefe vom Roman nicht eingelöst wird, zeigt sich die Anschlussfähigkeit des Modells. Kracht überzeichnet die Suggestionsästhetik dabei so stark, dass ihr Programm selbst sichtbar wird und sie als Erwartungshaltung hervortritt, die zudem an die Perspektive der autodiegetischen Erzählerfigur gebunden ist. Die Suche nach der Tiefe ist der Figur Christian Kracht zugeordnet, während die Mutter daran überhaupt kein Interesse hat.

Den Roman im Kontext der Frage nach dem ›Postdigitalen‹ zu verhandeln, scheint nur dann naheliegend, wenn man das Postdigitale mit Florian Cramer als »contemporary disenchantment with digital information systems and media gadgets, or a period in which our fascination with these systems and gadgets has become historical« versteht.[22] Was die Mutter angeht, so handelt es nicht nur um »disenchantment«, sondern um offene Ablehnung digitaler Kommunikationsmedien: »Sie hatte weder E‑Mail noch Mobiltelefon und lehnte das Internet ab«, berichtet der Erzähler. »Zu kompliziert, hatte sie immer gesagt, und die Tasten, die seien ihr zu klein. Ich vermutete aber, daß sie sich dem aus Arroganz verweigerte und nicht aus dem einfachen Unvermögen, Tasten zu bedienen.« (14f.) Und wieder ist es hier, wie an so vielen Stellen des Romans, der Erzähler, der hinter dem Verhalten der Mutter geheime Absichten und verborgene Motive vermutet. Als sie empfiehlt, sich ein Beispiel an »wirklich guter Literatur« zu nehmen, an »Büchern, die bleiben, nicht so ein horrender Stuß, wie Du ihn schreibst« (155), wird deutlich, dass sein Misstrauen gegen ihre Belesenheit, gegen ihre kognitiven Fähigkeiten, auch dazu dient, ein Kräfteverhältnis aufrechtzuerhalten:

»Ich sagte mir immer wieder, daß sie nicht belesen war, daß sie nur so tat, daß sie nie auch nur irgend etwas von Flaubert oder Stendhal gelesen hatte, es war alles nur Bluff, aber es war so dermaßen gut geschauspielt, daß ich immer und immer wieder darauf hereinfiel. Alle waren immer darauf hereingefallen. Sie kannte nichts von Houellebecq oder Ransmayr, sie las nur die Bunte und sah manchmal Quizshows im Fernsehen. […] Sie verstand es, zu manipulieren, das war ihre große, unglaubliche Kunst, das wußte ich doch seit Jahrzehnten, sie log und drehte die Dinge so, daß alle ihr alles glaubten.« (156f.)

Der wiederholte Verdacht gegen die Mutter verschiebt die Dominanzverhältnisse zwischen den Figuren im Roman allmählich. Desavouiert wird nicht ihre Manipulation, sondern das Begehren des Erzählers, sie einer solchen zu überführen. Denn es ist die Mutter, die den Sohn mühelos durchschaut. Zu seiner Bemerkung über die Liebe (»Ich liebe drei Dinge. Ich liebe einen Traum der Liebe, den ich einst hatte, ich liebe Dich, und ich liebe dieses Stückchen Erde hier«), sagt sie: »Das ist doch nicht von Dir, Christian. Du bluffst doch. Ich kenne Dich. Das hast Du doch gelesen bei … warte … bei … ich hab’s gleich. Bei Knut Hamsun.« (94) Zur Zeit Fontanes wäre es noch ein Ausweis bildungsbürgerlicher Belesenheit gewesen, heute genügt eine kurze Internetrecherche, um herauszufinden, dass die Mutter richtig liegt: Die Passage ist ein Zitat Knut Hamsuns aus dem Roman Pan (1894).[23] Dieser Art der Recherche bedient sich der Erzähler aber bezeichnenderweise nie, um die Mutter zu entlarven. Was digitale Medien anbelangt, ist er fast genauso abstinent wie sie, zumindest ist ihre Nutzung nahezu unsichtbar. »Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander den holprigen Privatweg hinab, und ich rief dann ein Taxi an, man möge uns bitte abholen, dort unten an der Kreuzung zur Straße.« (124) Wenn man das Postdigitale als einen Zustand beschreiben möchte, in dem das Digitale so normal geworden ist, dass es unsichtbar wirkt, so hätte man hier ein Beispiel. Nicholas Negroponte stellte dies schon vor mehr als zwanzig Jahren in Aussicht: »Like air and drinking water, being digital will be noticed only by its absence, not its presence«.[24] Auch die weitgehende Alphabetisierung veränderte die Schriftkultur (ohne dass man allerdings von einem ›postliteralen‹ Zeitalter gesprochen hätte), so Bernhard Dotzler und Silke Roesler-Keilholz: »Wie die Schriftkultur Massen- oder Populärkultur erst wurde, als Lesen und Schreiben zu einer Selbstverständlichkeit geriet, die all ihre kulturtechnische Umständlichkeit unmerklich werden ließ, sollte – ganz wie es in den letzten drei Jahrzehnten ja gekommen ist – auch der Umgang mit digitaler IT selbstverständliche Alltäglichkeit werden.«[25]

 

3. Hermenautik postdigitaler Tiefe

Die Abwesenheit digitaler Kommunikationsmittel fällt insbesondere dann auf, wenn man Eurotrash mit einem anderen, fast zeitgleich erschienenen Roman vergleicht: Allegro Pastell von Leif Randt, der nicht nur der Mediennutzung seiner Figuren große Aufmerksamkeit zollt, sondern auch deren ständiger Reflexion. Ob und aus welchen Anlässen man Emails schreibt, ob Smartphones auf der Tanzfläche in Clubs akzeptabel sind, welche Messenger-App man zum Schlussmachen wählt: Die Botschaft des jeweiligen Mediums wird stets ausgiebig diskutiert. Die Figuren sind vollendet medienkompetent und nutzen souverän die sich ihnen bietenden Möglichkeiten verschiedener Kommunikationskanäle. Der Roman lehnt sich an den affirmativen Gestus der Popliteratur an, die sich nicht kritisch und reflektierend auf die umgebende Konsumwelt und ihre Medien bezieht, sondern im Sinne einer offenen Bestandsaufnahme die sich damit bietenden Möglichkeiten erforscht. Die exzessive Beschreibung des Gebrauchs digitaler Kommunikationsmittel verknüpft sich mit dem Verdacht, dass ihr Anteil am Kommunizierbaren, an der Codierung von Gefühlen, doch größer sein könnte, als es die souveräne Mediennutzung der Figuren erahnen lässt. Es sind sehr kleine Versatzstücke in diesem Roman, die die Konflikte andeuten und den Verdacht evozieren, dass hier nicht alles so glatt läuft, wie es auf den ersten Blick scheint: »Beim Verhältnis zu meinem Dad könnte man fast schon von einer Bromance sprechen 😂«, schreibt Jerome in einer Email an Tanja. »Und meine Mutter erzählt mir am Telefon in letzter Zeit auch erstaunlich viele private Sachen. Ich frage mich, seit wann das alles so unbehaglich gut läuft«.[26] »Fast« eine Bromance, »erstaunlich« viel Privates, »unbehaglich gut«: Hier wird ein Jenseits der beschriebenen Harmonie angedeutet, das die Botschaft ambivalent werden lässt. Über das letzte Telefonat zwischen Jerome und Tanja heißt es: »Jerome erzählte ihr, in einem Moment den Tränen nah, dass er, wenn nichts Tragisches mehr geschah, sehr wahrscheinlich im März 2020 Vater würde und dass eine Reise mit ihr auf die Kanaren im Oktober 2019 für ihn daher nur schwer vorstellbar sei.«[27] Tragik ist in diesem Roman nur in Nebensätzen präsent. Aber Hinweise wie diese stören den Eindruck des Wohlgeordneten, Sorgfältigen, an ihnen entzündet sich der Verdacht, ohne den der Roman vielleicht auch einfach nur langweilig wäre.[28] Dieser Moment des Verdachts entfaltet sich, hier wie im Fall von Eurotrash, unter den Bedingungen des digitalen Zeitalters.

Seit Siegfried Kracauers Essay über das Ornament der Masse steht die Oberfläche auch als Metapher für Massenkultur und Massenmedien (gekennzeichnet durch eine Dominanz optischer Medien), die sich gegen eine bürgerliche Kultur der Tiefe (gekennzeichnet durch eine Dominanz der Schrift) abgrenzt. Seither ist aber mit dem Computer ein Medium entwickelt worden, für das die Dichotomie von Oberfläche und Tiefe nicht nur metaphorisch, sondern technologisch konstitutiv ist: Während die ersten Computer nicht einmal unbedingt über Bildschirme verfügten, beginnt mit der Erfolgsgeschichte des Personal Computers der Siegeszug des Bildschirms. Die im Inneren verborgenen Prozessoren des Computers tun und berechnen Dinge, die nur über Benutzeroberflächen zugänglich sind. Das Wort ›interface‹ kommt nicht von der Interaktion im Angesicht mit dem Computer, wie oft fälschlich vermutet wird, sondern geht vielmehr auf ›surface‹ zurück und entwickelte sich in der Physik oder Chemie des 19. Jahrhunderts zur Bezeichnung von Grenzschichten von zwei Komponenten oder Flächen.[29]

Die Aufwertung der Oberfläche ist in der Entwicklung der Computer ein Fakt. Der Bildschirm wurde in der Entwicklung des Computers immer flacher, während die Technik, die früher in externen Kisten versteckt und über Kabel angeschlossen wurde, immer kleiner und unsichtbarer wurde. Mit den Touchscreens wanderten sowohl die Technik als auch die Eingabegeräte in den Bildschirm ein. »Dabei wird das digitale Funktionsprinzip der Computertechnik regelmäßig als im ›Innern‹ der Maschine, in deren Tiefe liegendes Geschehen gesehen«, so Till Heilmann. »Auf der anderen Seite erscheint die Oberfläche der Maschine – Verkleidung bzw. Gehäuse, Bedienelemente, Peripheriegeräte usw. – als kontingente Hülle, als ›äußerlicher‹ Zusatz zum digitalen Prinzip.«[30] Heilmann macht auf die Schwächen dieser Geschichte aufmerksam, die dann zutage treten, wenn man die Geschichte des Computers nicht als eine seiner Gerätschaften erzählt, sondern als eine der Entwicklung des Digitalen. Versteht man das Digitale nicht, wie im allgemeinen Sprachgebrauch, als eine Gruppe von ›neueren‹ Medien, sondern als Informationsverarbeitung mittels einer begrenzten Zahl an Ziffern (im binären System zwei), so war dieses Prinzip laut Heilmann schon immer an flache Medien gebunden: Von den ersten Lochkarten über das Morsealphabet und die Brailleschrift bis zum Band in Alan Turings Entwurf einer Rechenmaschine basierten die Entwicklungsstufen des Digitalen auf Karten, Bändern oder Lochstreifen, deren Prinzip jeweils auf der nächsten Entwicklungsstufe wieder aufgenommen wurde. Nun bezeichnet Heilmann die hier angesprochenen Komponenten als »Oberflächen«.[31] Die genannten Trägermedien des Digitalen, also Karten, Bänder, Lochstreifen, sind jedoch flach, nicht oberflächlich, verfügen also möglicherweise über eine Vorder- und Rückseite, aber über keine tiefere Dimension. Indem Heilmann sie als Oberflächen bezeichnet, ruft er doch wieder das Raummodell verborgener Tiefe auf.

Das Misstrauen, es könnte etwas in der Tiefe verborgen sein, haftet Boris Groys zufolge allen Medien (und nicht nur den flachen) an. Entsprechend hat er die Medienkultur in seinem Buch Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien (2000) als eine Kultur des Misstrauens beschrieben. Hinter der Oberfläche des kulturellen Archivs vermutet er einen submedialen Raum des Verdachts, der Vermutung von »Manipulation, Verschwörung und Intrige«.[32] Dabei sind es ausgerechnet die Zeichen der Oberfläche, die den Blick auf ihren medialen Träger verstellten und deshalb auf Abwesendes verwiesen: »Wir warten als Betrachter der medialen Oberfläche darauf, dass das Medium zur Botschaft wird, dass der Träger zum Zeichen wird.«[33] Gerade im Kontext der Massenkultur träfen wir heute, so Groys, immer wieder auf die »Vermutung einer dunklen, gefährlichen Subjektivität, die im submedialen Raum verborgen ist«, die Massenkultur sei daher eine »Kultur des radikalen Verdachts«.[34] Groys buchstabiert seine Theorie nicht medienspezifisch aus. Doch die Annahme liegt nahe, dass das Medium Computer den besagten Verdacht stärker suggeriert als etwa die Schrift, weil seine Technologie tatsächlich (und nicht nur metaphorisch) auf der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe beruht. Ein Beispiel aus der Gegenwartsliteratur, das diesen Verdacht gegen das Medium (und seine Folgen) in weitaus deutlicherer Weise als Leif Randts Allegro Pastell verhandelt, ist Thomas Melles Die Welt im Rücken (2016). Der Roman erzählt von der bipolaren Störung des Protagonisten Thomas, deren erster Schub durch einen »winzige[n] Satz im Internet« ausgelöst wird.[35] Es geht also um eine »paranoische Erkrankung aufgrund digitaler Medien«,[36] so Rupert Gaderer, der auf die bislang wenig beachtete Thematik des Digitalen in Melles Roman hingewiesen hat: »Der Text, der geschrieben wurde, um sich ein Bild über den Wahnsinn zu machen, macht darauf aufmerksam, welcher Wahnsinn aus den digitalen Operationen entsteht.«[37] Im Roman hacken der Protagonist Thomas und sein Freund Lukas das Passwort des literarischen Onlineprojekts www.ampool.de und beginnen gemeinsam, unter dem Namen der beteiligten Schriftstellerinnen und Schriftsteller selbst zu posten:

»Wir ließen Rainald Goetz mit einem erregten ›HALLO WELT!‹ aus dem Urlaub zurückkehren, Judith Hermann eine sinnlose ›Silberblick‹-Triole als Antwort auf einen ›Doppelkinn‹-Eintrag Christian Krachts trällern und Moritz von Uslar in seiner lockercoolen Sprechschreibe über das ›Beobachterproblem‹ bei Luhmann delirieren. Dann posteten wir es, lachten kurz, tranken ein weiteres Bier und gingen los, zu den Freunden, in die Clubs.«[38]

Melle beschreibt davon ausgehend, wie das Ganze eskaliert, wie die beiden auffliegen, Gegenprovokationen auslösen und schließlich einen Alternativblog (realpool) aufmachen, in dem der Protagonist manisch alles Mögliche textet. Als er Tage danach noch einmal in dem Blog liest, fremde Texte, keinen eigenen, kommt ihm das alles seltsam vor:

»Ich starrte in den Bildschirm. Die Lettern begannen zu tanzen, ganz sacht, das Flirren der Pixel vielleicht ein Effekt der Hitze. Ich las. Unmöglich, was sich da tat! Da mein Computer altersschwach war, baute sich die Seite nur schleppend und fragmentarisch auf.
Doch die einzelnen Sätze, die sich nach und nach zeigten, sendeten auf besondere Weise in mein Gehirn. Schon allein, dass der Seitenaufbau so lange brauchte, weckte eine dumpfe Skepsis in mir, so als habe man mir die Seite gesperrt, als habe Lukas sich mit den Betreibern in Verbindung gesetzt und entschieden, dass man mich mit sabotagehafter Langsamkeit der Technik entwöhnen müsste. Ein erster, unscharfer Anflug von Paranoia war das, ein Glutkern, der jetzt rasant das gesamte Denksystem entzünden würde.
Mein Blick blieb an einem Satz hängen, der sich vielfach wenden und lesen ließ. Es ging um irgendein Gefährt vor dem Brandenburger Tor, ein Rad oder Auto oder eine Touristenrikscha, ich weiß es nicht mehr; gleichzeitig, so schien es mir, ging es unausgesprochen um mich. Wie war das möglich? Was passierte da? Die Worte trafen sowohl auf das Gefährt wie auf mich zu – ein ironischer Kommentar, eine elaborierte Metapher. Sie stürzte mich sofort in große Verwirrung, und ganz konnte ich meiner Deutung noch nicht glauben.«[39]

Der Verdacht entzündet sich genau genommen nicht am Medium Computer, sondern an dem der Schrift – doch die Pixel, der langsame Seitenaufbau, das Flimmern haben einen deutlichen Anteil an der Interpretation des Geschriebenen. Die Mehrdeutigkeit und Ambiguität der Texte lassen es zu, sie allesamt auf sich selbst zu beziehen: »Ob nun ein Waldgang, eine Festplatte, ein Cafébesuch – die ironische Art der Leute, über diese Dinge zu schreiben, transportierte stets ein Sinnvakuum mit, in dem ich mühelos und passgenau Platz hatte […].«[40] Nicht die Stellen, wo tatsächlich sein Name genannt wurde, interessieren den Erzähler dabei: »Es war das andere Reden, dieses Reden-um-die Ecke, das mich elektrisierte, das ich nun dekodieren musste, um überhaupt ansatzweise verstehen zu können, was hier in Dreiteufelsnamen vor sich ging.«[41] Wenn man fragt, welchen Anteil das Medium an dieser Lektürepraxis hat, so kann man zum einen auf die Unüberlegtheit digitaler Kommunikation und die Anfälligkeit digitaler Kommunikationsmedien für noise zwischen den Kommunizierenden hinweisen,[42] zum anderen aber führt der Roman vor, dass unter den Bedingungen digitaler Medien eine tiefenhermeneutische Lektüre des Verdachts, des Zwischen-den-Zeilen-Lesens und der Suche nach dem tieferen Sinn offenbar nur in den Wahnsinn treiben kann.

Man könnte diese Lektürepraxis mit Wolfgang Ernst als »invasive Hermeneutik« bezeichnen,[43] ein Lesen, das in die Oberfläche des Geschriebenen eindringt und ihm gewaltsam einen recht eindimensionalen Sinn abringt: Gemeint ist immer er, der Protagonist Thomas. Der Bildschirmtext fügt sich umso problemloser dem Paradigma von Oberfläche und Tiefe, weil seine Technologie die metaphorischen Verhältnisse bestätigt. Hinter oder unter dem Bildschirm ist etwas verborgen, auch wenn es nicht das ist, was dort vermutet wird: nicht die unsagbaren Traumata wie im Fall von Eurotrash, nicht das leise Unbehagen wie in Allegro Pastell, auch nicht die verschlüsselten Botschaften wie in Die Welt im Rücken, sondern die Rechenleistung des Computers. Die vorgestellten Romane führen eine hermeneutische Lektürehaltung vor, die durch die Computerentwicklung aktualisiert wurde. Das gilt auch und gerade in einer postdigitalen Zeit, in der die medientechnologischen Voraussetzungen des Digitalen zunehmend unsichtbar werden. Nähme man das Digitale als flach oder linear, nicht als oberflächlich ernst, so könnte die Alternative zur Hermeneutik eine »Hermenautik« sein, ein Lesen, das nach Wolfgang Ernst deshalb auf der Höhe der Computer-Zeit sei, weil es der linearen Logik des Digitalen entspreche.[44] Die Begriffsschöpfung geht auf Friedrich Kittler zurück, der die Hermeneutik für ein überkommenes Mittel hält, Texten Aufmerksamkeit zu sichern. Im Aufsatz Signal – Rausch – Abstand bemerkt er, dass, seit das »Joch der Subjektivität von unseren Schultern genommen« worden sei, ein Freiraum entstehe, »in dem es machbar wäre, […] Hermeneutik mit Polemik und Hermenautik zu vertauschen – mit einer Steuermannskenntnis der Botschaften, ob sie nun Göttern, Maschinen oder Rauschquellen entstammen«.[45] Genau diese Voraussetzung ist in Die Welt im Rücken nicht gegeben: Das Joch der Subjektivität lastet schwer auf den Schultern des Protagonisten Thomas. Daher liest er das Medium Computer quasi gegen den Strich. Wolfgang Ernst sieht in der Hermenautik als einer nichthermeneutischen, der Medienentwicklung adäquaten Rezeptionshaltung eine Parallele zwischen Postmoderne und Computertechnik:

»Das radikal postmodern anmutende Bekenntnis zur Oberflächigkeit des Lesens als Absage an die hermeneutische Unterstellung semantischer Tiefenstrukturen, an die allegorischen Lesarten der Schriftvielsinnigkeit, entspricht nicht nur der syntaktischen Logik serieller Programmcodes, sondern auch der sequentiellen Abarbeitung von Befehlen durch die von-Neumann-Architektur des Computers. Literaturwissenschaft hat sich seitdem nicht mehr allein mit literarischer Eleganz zu befassen, sondern auch mit der mathematischen Eleganz ihrer Programmierung.«[46]

Abgesehen davon, dass Ernst hier ein etwas vereinfachtes Bild der Fachgeschichte entwirft (denn wann hat sich Literaturwissenschaft »allein mit literarischer Eleganz« befasst?), kann ein hermenautisches Lesen auch darauf stoßen, dass literarische Texte weiterhin hermeneutisch programmiert sein können. In den diskutierten Beispielen ist die hermeneutische Unterstellung semantischer Tiefenstrukturen nichts, was erst von außen an die Texte herangetragen wird. Sie wird als Lektürehaltung der Protagonisten vorgeführt, mit der sie der erzählten Welt begegnen. Diese Romane lassen sich nicht mehr hermeneutisch interpretieren, weil sie an ihren Figuren beobachten, wie die hermeneutische Interpretationshaltung selbst am Werk ist. Im Fall von Die Welt im Rücken wird diese Haltung zum Wahn erklärt, eine andere Tiefe als die der Technik gibt es nicht. Doch so vielversprechend die Idee der Hermenautik als Alternative zur Hermeneutik daher klingen mag, gibt es auch hier eine technische Voraussetzung zu bedenken: Die Nautik befasst sich mit dem Navigieren von Schiffen auf der Oberfläche des Wassers. Essenziell ist dafür ein Echolot, das ständig die Entfernung zum Grund auslotet. Man kommt einfach nicht los von der Dimension der Tiefe. Denn Untiefen sind eine große Gefahr für die Schifffahrt.

 

Literatur

[1] Vgl. Carolina Díaz Marsá/Dennis Steimels: »Zukunft der Smartphones. In 2030 laden Sie Handys per Funk und nutzen Holo-Displays«, in: PC-Welt, 14.04.2022, https://www.pcwelt.de/article/1203611/zukunft-des-smartphones.html (aufgerufen am 09.11.2022).

[2] Vgl. Jamal Fischer: »Besteht fast nur aus Display: Xiaomi beeindruckt mit neuem Hammer-Smartphone«, in: Chip, 27.10.2019, https://www.chip.de/news/Besteht-fast-nur-aus-Display-Xiaomi-beeindruckt-mit-neuem-Hammer-Smartphone_174339147.html (aufgerufen am 09.11.2022).

[3] Zur Kulturgeschichte der Tiefe vgl. Dorothe Kimmich/Sabine Müller (Hg.): Tiefe. Kulturgeschichte ihrer Konzepte, Figuren und Praktiken, Berlin u.a. 2020.

[4] Hans-Georg von Arburg/Philipp Brunner/Christa M. Haeseli et al.: Mehr als Schein. Ästhetik der Oberfläche in Film, Kunst, Literatur und Theater, Zürich u.a. 2008, S. 7.

[5] Thomas Hecken: »Form und Oberfläche als Metapher. Probleme und Herausforderungen des literaturwissenschaftlichen und -theoretischen Form-Begriffs«, in: Thorsten Hahn/Nicolas Pethes (Hg.): Formästhetiken und Formen der Literatur: Materialität – Ornament – Codierung, Bielefeld 2020, S. 23-40, hier S. 23.

[6] Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 3, Berlin u.a. 1988, S. 352.

[7] Hugo von Hofmannsthal: Buch der Freunde; in: ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Bd. 3: Reden und Aufsätze III, hg. von Bernd Schoeller/Ingeborg Beyer-Ahlert, Frankfurt a.M. 1980, S. 268.

[8] Vgl. die Überlegungen in meiner Dissertation, insbesondere die Einleitung in Vera Bachmann: Stille Wasser – tiefe Texte? Zur Ästhetik der Oberfläche in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2013, S. 7-12.

[9] Zit. nach Jan Küveler: »Von Mythen und Medien«, in: WELT, 10.02.2012, https://www.welt.de/print/welt_kompakt/vermischtes/article13860571/Von-Mythen-und-Medien.html (aufgerufen am 09.11.2022).

[10] Neue Rundschau 4 (2002): Tiefe Oberflächen, hg. von Hans Jürgen Balmes/Jörg Bong/Helmut Mayer; Frank Degler/Ute Paulokat: »Die tiefen Oberflächen: Irony is over – Bye Bye!«, in: dies.: Neue deutsche Popliteratur, Paderborn 2008, S. 106-113.

[11] Stefan Rieger: »Das Wissen der Oberfläche. Von Schuhsohlen und Schiffsrümpfen«, in: Sprache und Literatur 45.1 (2014), S. 77-92, hier S. 78.

[12] Clemens Rathe: Die Philosophie der Oberfläche. Medien- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Äußerlichkeiten und ihre tiefere Bedeutung, Bielefeld 2020, S. 9.

[13] Degler/Paulokat: »Die tiefen Oberflächen«, S. 106.

[14] Martin Kurthen: »Lob der Oberfläche. Die Psyche nach dem Unbewussten«, in: Hans Rudi Fischer/Siegfried J. Schmidt (Hg.): Wirklichkeit und Welterzeugung. In memoriam Nelson Goodman, Bonn 2000, S. 244-255, hier S. 253.

[15] Tobias Unterhuber: Kritik der Oberfläche. Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht, Würzburg 2019, S. 131.

[16] »Genau, das sind Klischees, das ist die Oberfläche. Und die auszuloten, darum geht es«, Anne Philippi/Rainer Schmidt: »›Wir tragen Größe 46‹«, Interview mit Benjamin von Stuckrad-Barre und Christian Kracht, in: DIE ZEIT 37 (1999): Leben, S. 3, https://www.zeit.de/1999/37/199937.reden_stuckrad_k.xml/seite-4 (aufgerufen am 29.11.2022).

[17] Der Vergleich mit diesem Roman ist nicht ganz beliebig gewählt, immerhin spielt der Begriff ›eurotrash‹ in Bret Easton Ellis’ American Psycho eine Rolle: ›Eurotrash‹ werden die Bellinis genannt, die der Hilfskellner im Pastel’s fortwährend bringt und die von den Bankern entnervt zurückgewiesen werden. Ob ›eurotrash‹ den Drink selbst, seine Benennung nach dem Maler Giovanni Bellini (also die Referenz auf Kultur) oder die soziale Praxis des Begrüßungsdrinks bezeichnet, bleibt offen.

[18] Christian Kracht: Eurotrash, Köln 2021, S. 17. Nachweise hieraus im Folgenden mit Angabe der Seitenzahl direkt im Text.

[19] Friedrich von Schiller: Der Taucher, in: ders.: Sämtliche Werke in 5 Bänden, hg. von Peter-André Alt et al., Bd. I: Gedichte, Dramen 1, hg. von Albert Maier, München 2004, S. 368-373, hier S. 372.

[20] Theodor Fontane: Der Stechlin, in: ders.: Werke, Schriften und Briefe, hg. von Walter Keitel/Helmuth Nürnberger, Abt. I, Bd. 5, München 52004, S. 267.

[21] Kracht: Eurotrash, Schutzumschlag der gebundenen Ausgabe.

[22] Florian Cramer: »What Is ›Post-digital‹?«, in: David M. Berry/Michael Dieter (Hg.): Postdigital Aesthetics, London 2015, S. 12-26, hier S. 12.

[23] Knut Hamsun: Pan. Roman. München 1996, S. 107

[24] Nicholas Negroponte: »Beyond Digital«, in: Wired 12 (1998), zit. nach Bernhard Dotzler/Silke Roesler-Keilholz: Mediengeschichte als historische Techno-Logie, Baden-Baden 22021, S. 243.

[25] Ebd.

[26] Leif Randt: Allegro Pastell, Köln 42020, S. 62.

[27] Ebd., S. 266.

[28] ›Zwei trennen sich und einer kriegt ein Kind‹, könnte man die Handlung frei nach Fontane zusammenfassen.

[29] Vgl. Hans Dieter Hellige: »Krisen- und Innovationsphasen in der Mensch-Computer-Interaktion«, in: ders. (Hg.): Mensch-Computer-Interface. Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung, Bielefeld 2008, S. 11-92, hier S. 13.

[30] Till A. Heilmann: »Die Oberflächlichkeit des Digitalen«, in: Christina Lechtermann/Stefan Rieger (Hg.): Das Wissen der Oberfläche. Epistemologie des Horizontalen und Strategien der Benachbarung, Zürich 2015, S. 253-266, S. 253.

[31] Ebd., S. 262.

[32] Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000, S. 21.

[33] Ebd., S. 22.

[34] Ebd., S. 32.

[35] Thomas Melle: Die Welt im Rücken, Berlin 2016, S. 44.

[36] Rupert Gaderer: »Aufschreibesysteme 1900/Reaktionsmaschine 2000. Analoge und digitale Medien, Codes und Diskurse bei Friedrich Kittler und Thomas Melle«, in: Jens Schröter/Till A. Heilmann (Hg.): Friedrich Kittler. Neue Lektüren, Wiesbaden 2022, S. 61-74, hier S. 66.

[37] Ebd., S. 70.

[38] Melle: Die Welt im Rücken, S. 46.

[39] Ebd., S. 50.

[40] Ebd., S. 51.

[41] Ebd., S. 53.

[42] Vgl. Gaderer: »Aufschreibesysteme«, S. 70f.

[43] Wolfgang Ernst: »Bauformen des Zählens. Distante Blicke auf Buchstaben in der Computer-Zeit«, in: Eckart Goebel/Wolfgang Klein (Hg.): Literaturforschung heute, Berlin/Boston 1999, S. 86-97, hier S. 86.

[44] Ebd.

[45] Friedrich Kittler: »Signal – Rausch – Abstand«, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt a.M. 1988, S. 342-359, hier S. 358f.

[46] Ernst: »Bauformen«, S. 88.

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