Kino im Angesicht des Virus
von Marcus Stiglegger
31.5.2024

Film 2020

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 118-121]

Als im Dezember 2019 aus Wuhan erste Nachrichten über ein neues Virus eintrafen, war vielen die globale Tragweite dieser Meldung noch nicht bewusst. Es schien, als wäre das eine weitere Krankheit, die kommt und geht, darum sahen sich die meisten bloß halbherzig vor, wenn sie große Kinos und Festivals besuchten. Doch was in den vollen Sälen der Berlinale im Februar 2020 noch ein banger Subtext war, wurde ab März zur gesellschaftsprägenden Kraft: Die westliche Welt erfuhr, was ein Lockdown bedeutet, wie sich Alltagsmasken anfühlen und was der Vorteil von sozialer Distanz in Zeiten einer Pandemie sein kann.

Mit der ersten Welle und der Ratlosigkeit eines irritierten Publikums erlangten ältere ›Pandemiefilme‹ folgerichtig neue Popularität. Von »12 Monkeys« (als Film und Serie) über Steven Soderberghs schon 2011 entstandenen Film »Contagion« bis hin zu den Varianten von George A. Romeros »Crazies« (1973) übte man offenbar auf den Streaming-Plattformen das reale Grauen symbolisch ein. Es ging um den Kampf gegen einen unsichtbaren und daher irrational anmutenden Feind.

Als sich die erste Welle abschwächte, hatten viele im Homeoffice aber bereits wieder vergessen, was ein ›airborne virus‹ wirklich bedeutet. Mit voller Kraft kam bald die zweite Welle auch in Deutschland zurück, wo man sich nie wirklich mit den Seuchengesetzen anfreunden wollte. Die Szenarien der Pandemiefilme wurden weltweit immer stärker Realität. Was buchstäblich die Popkultur verhinderte (keine Konzerte, keine Festivals), hatte nicht nur auf die Kinobesuche Auswirkungen, sondern ebenfalls auf die Dreharbeiten zu neuen Filmen und Serien, die nur noch unter besonderen Bedingungen stattfinden konnten. Darum kamen viele Werke erst gar nicht zustande. Die Pandemie betrifft aber auch die Distribution: Nicht wenige der abgedrehten Filme harren noch im Jahr 2021 ihrer Premiere.

Während einige deutsche Prestigeproduktionen wie der modernisierte »Berlin Alexanderplatz« von Burhan Qurbani kaum ausgewertet werden konnten oder wie die Unikomödie »Contra« von Sönke Wortmann weiter verschoben wurden, war 2020 vor allem ein internationaler Blockbuster in aller Munde: Christopher Nolans Spionagefilm »Tenet«. Nolan, der auf eine mehr als zwei Jahrzehnte währende Karriere zurückblicken kann, verbindet in »Tenet« sein autorenspezifisches Lieblingsthema, die Philosophie der Zeit, mit Erzählmustern des Spionagethrillers im Stil der erfolgreichen James Bond- und Jason Bourne-Reihen. Ganz nebenbei gibt er dem Publikum den lange diskutierten ›schwarzen Bond‹: John David Washington meistert die Herausforderung, sich mit den spektakulärsten Action-Franchises zu messen, höchst überzeugend.

Mit seinem elften Spielfilm knüpft der Genre-Auteur Nolan an das performative Actionkonzept seines kommerziellen Hits »Inception« (2010) an: Mit nur einem einzigen Wort – »Tenet« – ausgestattet, muss sich der Protagonist auf die Suche nach der Quelle von »invertierter Munition« machen – Objekten, die in der Zeit rückwärts codiert sind. Das Geschehen entfesselt wie bereits in »Interstellar« (2014) eine Theorie verschiedener Zeitebenen, in denen sich Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit begegnen können, doch nie hat man das auf vergleichbare Weise gesehen: In aufwändigen Actionszenen, die in einer Einstellung zugleich vorwärts und rückwärts ablaufen, in denen Explosionen sich zusammenziehen, um direkt danach wieder zu erblühen, während sich zwei unterschiedlich gerichtete Teams durch die Zeit(en) arbeiten.

Mit dem gewohnten Ernst fragt Nolans Film: Kann man sich selbst in der Zeit begegnen? Welche physischen Konsequenzen hat es, wenn man sich in der Zeit rückwärts bewegt? Die Regeln der involvierten Genres (Spionagethriller und Science-Fiction) werden dabei neu ausgelotet, der furios inszenierte futuristische Spionagethriller hebt das Spiel mit Variationen der Zeit als filmische Reflexionsbasis auf ein zeitgemäßes Level. Das Resultat ist performatives Kino, das sich in seiner audiovisuellen Wucht momentan auf der Leinwand ereignet, aber auch bei mehrfachem Sehen neue Einblicke bietet.

Was können wir von Christopher Nolans Filmen lernen? Zweifellos, wie die Mechanismen des postmodernen Kinos funktionieren. Auch, wie das Kino Identität konstruieren und in Frage stellen kann. Vor allem aber bekommen wir ein ganz eigenes Gespür dafür, wie Zeit funktioniert – und was die Zeitlichkeit für unser Dasein bedeutet. Nolans Kino ist eine populäre Verführung zur existenzialphilosophischen Reflexion mittels filmischer Zeitkonstruktionen. Und während Nolan seinem Metier gemäß mit der Bild- und Tonebene seiner Filme philosophiert, äußert er sich gerne und oft über jenen Formalismus, der seine Filme mathematisch, formalistisch und kalt erscheinen lässt. Nolans Inszenierungen bauen von seinem ersten Film an bewusst auf einen kreativen Umgang mit der Zeit, vor allem durch eine Fragmentierung der linearen Narration.

Christopher Nolan mag als Regisseur ein konzeptioneller Formalist sein, der auch das Chaotische und Wilde einzelner Sequenzen einem radikalen Formwillen unterordnet. Er mag zudem ein ›Meta-Regisseur‹ sein, der seine eigene Methodik zum Thema seiner Filme macht (vor allem in »The Prestige«, 2006, und »Inception«), und doch ist er ein Verführer, der sein Publikum mit sicherer Hand in unergründete Bereiche führt, mitunter in mehrschichtige Träume oder direkt in ein schwarzes Loch hinein. Seine Filme erscheinen ihrerseits als strudelartige schwarze Löcher, deren Sog die Emotionen und Gedanken leitet und immer enger kreiseln lässt, um uns am Ende mit einer elementaren Reflexion existenzieller Entscheidungen und Einsichten zu entlassen. Ludwig Göranssons basslastig hämmernde und ekstatische Musik vertieft die Suggestivkraft der Bilder und verleiht der Inszenierung etwas Zwingendes, das man lange nicht mehr auf diesem Hollywoodlevel erleben durfte. Der Soundtrack beweist Göranssons Potenzial, das bereits in der überaus erfolgreichen »Star Wars«-Spin-off-Serie »The Mandalorian« zum Tragen kam.

»Tenet« bleibt eine komplexe Herausforderung und kann zugleich als reines Spektakel genossen werden. Der Film zeigt einen Regisseur auf der souveränen Höhe seines Schaffens und bietet ein intensives Filmerlebnis für ein großes Publikum. Die kommerziellen Hoffnungen von Warner Bros. sollten allerdings nicht ganz aufgehen: Bei einem 200-Millionen-Dollar-Budget blieb der Film hinter den hohen Erwartungen zurück und erzielte vor allem in den USA wohl einen Verlust für Warner. Die Firma verschob daraufhin die Starttermine weiterer Filme, während andere Studios Filme wie »Mulan« oder »Borat 2« direkt auf Streaming-Plattformen vermarkteten.

Der zynisch-beklemmende Film zur Zeit kam in dieser schwierigen Situation ebenfalls aus den USA – »The Hunt«. Als sie in einer abgelegenen Landschaft erwachen, müssen einige scheinbar unterschiedlich zusammengewürfelte, militant konservative Amerikaner erleben, was es bedeutet, selbst zur Beute zu werden. In einem zunächst undurchschaubaren Spiel werden sie zum Ziel privilegierter liberaler Jäger*innen im Klassenkampf. Ihre früheren Privilegien und Positionen werden ihnen nun zum tödlichen Ballast. Schmerzhaft erfahren sie jenen Riss, der die USA heute durchzieht und anderen Bedingungen unterliegt als noch die historische ›Frontier‹, der das klassische Westernkino folgte. »The Hunt« vermittelt jene ›Inner Frontier‹ zwischen Republikanern und Demokraten, die Präsident Donald Trump in seinen beispiellosen Hetzkampagnen forcierte. Die Popkultur schlug hier zumindest symbolisch zurück.

2019 hatte Netflix mit »The Irishman« von Martin Scorsese eine aufwändige Filmproduktion ermöglicht, die teilweise auf der Leinwand und schließlich im Streaming-Netzwerk zu sehen war. Eher der Leinwand verpflichtete etablierte Regisseure nutzen mehr und mehr die Chance, ihre Kunst im Streaming-Format zu kultivieren. 2020 wurde David Finchers Hollywood-Allegorie »Mank« mit Gary Oldman angekündigt, der in erlesenen Schwarzweiß-Kompositionen die Entstehung eines Hollywoodklassikers behandelt: »Citizen Kane«. In geistreichen Dialogen und mit großer Besetzung erfüllte sich Fincher einen Herzenswunsch und drehte den Film nach einem Drehbuch seines Vaters. Wirklich populäre Resonanz konnte er indes mit dieser extrem langsam erzählten und in nostalgischen Bildern des klassischen Hollywoods schwelgenden Produktion nicht verzeichnen. Es mag auch daran liegen, dass die ausgefeilten Bildkompositionen eigentlich die große Leinwand bräuchten, um voll zur Geltung zu kommen.

In vielerlei Hinsicht war 2020 also ein Jahr der ausgebliebenen Chancen. Ein Kinojahr gab es nicht wirklich, auch wenn die Berlinale als eines der wenigen Filmfestivals von Weltgeltung noch ungehindert stattfinden konnte. Danach wurde es dunkel in den Sälen. Lange angekündigt, zog man den neuen James-Bond-Film »No Time to Die« mit Daniel Craig doch zurück und verschob die Premiere auf 2021. Als Popereignis blieb lediglich das zweifellos eindrucksvolle Titellied des Teenage-Wunders Billie Eilish. In fast zynischer Passgenauigkeit ging der Ur-Bond Sean Connery dann mit 90 Jahren von uns.

Ein weiteres lange erwartetes Pop-Ereignis ist Patty Jenkins’ »Wonder Woman 1984«, die Fortsetzung der erfolgreichen und hoch gelobten feministischen Fantasie um die DC-Comicfigur, ikonisch verkörpert von Gal Gadot. Im Dezember startete man den Film dann in einer Doppelverwertung als Streaming und in den wenigen offenen Kinos weltweit. Deutschland hatte wie stets das Nachsehen. Der ebenso mit Spannung erwartete dritte Anlauf einer Verfilmung von Frank Herberts Kultroman »Dune«, diesmal von Denis Villeneuve in karge, düstere Bilder gefasst, wurde ganz ins Jahr 2021 verlegt. Der Regisseur konnte sich bislang erfolgreich gegen eine direkte Streaming-Auswertung des monumentalen Science-Fiction-Epos wehren.

Mit dem Jahreswechsel 2020/2021 befindet sich die ganze Welt im Lockdown – und lediglich die Heimmedien und Streamingdienste verzeichnen eine konstante Nutzung. Ob das Kino in voller Pracht zurückkehren kann, bleibt ungewiss. Zumindest die oft totgesagten physischen Heimmedien konnten bislang profitieren. Angesichts der unklaren Vermarktung und Verfügbarkeit ist es darum wahrscheinlicher, dass die Internetpiraterie zurückgehaltener Kinofilme eine Renaissance feiern wird.

 

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