Jazz – Musical – Popästhetik
von Frédéric Döhl
30.5.2024

Aktuelle Annäherungen an musikalische Popularkultur heute

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 122-129]

Neben musikpraktischen und -theoretischen Lehrbüchern jedweder Art und Güte ist der Markt der akademischen wie der journalistischen Musikbücher von bestimmten Gattungen geprägt: eher allgemein gehaltene, einführende Überblickgeschichten des Pop, des Jazz, der Klassik etc.; Biografien und Autobiografien; Diskografien, Bestenlisten und Einzelwerkbesprechungen; Bände zu Schlüsseljahren und Jubiläen; Genrestudien. Mal materialreich, reflektiert, bis in Nischen ausgreifend, mal oberflächlich, klischeebeladen und vorhersehbar – aber am Ende durchweg vor allem getragen von einer Faszination dem jeweils ausgewählten Gegenstand gegenüber, einem Musiker/Ensemble oder einer bestimmten musikalischen Praxis.

Vergleichsweise selten kommen einem hingegen Bücher unter, die stattdessen einen strukturellen Blick in den Mittelpunkt rücken, dabei nah an der musikalischen Praxis selbst geschrieben sind und es vermögen, den eigenen Blick von Leser*innen auf die Musikkultur als solche zu weiten und zugleich in einer Weise zu schärfen, dass sie Leser*innen mit dezidierten Perspektivwechseln herausfordern und hierin so überzeugend in Material und Argumentation sind, dass man vor allem mit einem aus der Lektüre herausgeht: mit einer Erweiterung des eigenen Horizonts und einer Flexibilisierung der möglichen eigenen Betrachterstandpunkte. Bücher wie Tim Blannings »The Triumph of Music« (2008, dt. 2010) über die Gründe für den ebenso eminenten wie verblüffenden Aufstieg von Musiker*innen binnen gut 200 Jahren über alle musikalischen Milieus hinweg von oft prekären Angestellten zu wohlhabenden Stars, gesellschaftlichen Fixpunkten und politisch-moralischen Autoritäten. Oder wie Alex Ross’ »The Rest Is Noise« (2007, dt. 2009), das den Mut und den Horizont besitzt, wie selbstverständlich gleichermaßen über Boulez, Björk und Bebop zu schreiben und hierdurch Gleichzeitigkeiten sichtbar macht. Oder wie Elijah Walds »How the Beatles Destroyed Rock ’n’ Roll. An Alternative History of American Popular Music« (2009), das für die ersten drei Viertel des 20. Jahrhunderts fragt, wie denn eine Geschichte Populärer Musik aussieht, wenn man schlicht und strikt nach dem geht, was zu einer bestimmten Zeit populär, also stark nachgefragt war – und nicht wie üblich nach dem, was Autor*innen persönlich normativ wichtig finden, wie es z.B. zuletzt die vielbesprochenen »Über Pop-Musik« (2014) von Diedrich Diederichsen oder »The Story of Pop« (2014) von Karl Bruckmaier prägt.

Im Folgenden möchte ich auf drei aktuelle Bücher hinweisen, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommend Annäherungen an das anbieten, was Populäre Musik heute, gut zehn Jahre später, (auch) ist und ausmacht. Und die mir jedenfalls brachten, was Ludwig Wittgenstein in »Philosophische Untersuchungen« als Versuchsanordnung, Haltung und Ziel einst so treffend wie folgt umschrieb: »Ich wollte dies Bild vor seine Augen stellen, und seine Anerkennung dieses Bildes besteht darin, daß er nun geneigt ist, einen gegebenen Fall anders zu betrachten; nämlich ihn in dieser Bilderreihe zu vergleichen. Ich habe seine Anschauungsweise geändert.«

Zahlreiche, in Material, Spannweite und poptypisch Namedropping reiche und völlig zu Recht viel besprochene und breit rezipierte Bücher der vergangenen gut zehn Jahre lassen einen am Ende doch vor allem depressiv zurück. Als ob die ›gute Zeit‹ für populäre Musikkultur von der ästhetischen (z.B. Simon Reynolds »Retromania«, 2011 – dt. 2012) oder gesellschaftlichen (z.B. Diederichsens »Über Pop-Musik«) Relevanz und Substanz her irgendwie vorbei sei. Der auffallende Widerspruch zu einer unübersehbaren Vitalität der musikalischen Gegenwart – noch nie wurde so viel Musik produziert, noch nie war so viel Musik so einfach öffentlich verfügbar, noch nie war Musik so mobil und omnipräsent – wird zwar eingestanden, aber mit normativen Argumenten gekontert. Man wird beim Lesen unwillkürlich melancholisch. Als hätte man alles, was zählt, verpasst.

Die Literaturen zu zwei Bereichen Populärer Musik, die einst in der Mitte des angloamerikanischen Mainstreams standen und sich heute aus konträren Gründen (Kunst hier, Trivialkommerz dort) meist eher am Rand des Popdiskursraums wiederfinden, verhalten sich regelmäßig ähnlich, jene zum Jazz und zum Musical nämlich.

Man vergisst allzu leicht die einstige popkulturelle Signifikanz von Jazz und Musical. Das meistverkaufte Album 1956 war nicht das Debüt von Elvis, es war das Cast Album von »My Fair Lady«. Und es war Louis Armstrongs »Hello, Dolly«, das den Siegeszug der British Invasion der Beatles an der Spitze der Charts 1964 nach drei Monaten mit drei Nummer-1-Hits stoppte. Das ist zugegeben lange her. Dass die goldenen Zeiten freilich genau damals lagen, irgendwo zwischen den 1920er und 1960er Jahren, und heute alles zweite Klasse sei, ist ein verbreitetes Narrativ, das zwei unheimlich informationsdichte neue Bücher herausfordern, Nate Chinens Monografie »Playing Changes. Jazz for the New Century« und der von Jessica Sternfeld und Elizabeth L. Wollman herausgegebene »Routledge Companion to the Contemporary Musical«.

Chinens 2018 erschienenes Buch ist Summe seines journalistischen Arbeitens im zeitgenössischen Jazz in den beiden Jahrzehnten zuvor. Sein Fokus dabei ist ganz klar: Alles, was Jazz ist, post-2000. Das klingt als Anliegen selbstverständlich, ist es aber nicht. Gängige Überblickswerke widmeten dieser Gegenwart bis dahin regelmäßig nur vergleichsweise wenige Seiten (vgl. z.B. Joachim-Ernst Berendt/Günther Huesmann: »Das Jazzbuch«, 2009; Scott DeVeaux/Gary Giddins: »Jazz«, 2009; Ted Gioia: »The History of Jazz«, 2011; Kevin Whitehead: »Why Jazz?«, 2011, dt. 2019; Wolf Kampmann: »Jazz«, 2016; Michael Jacobs: »All That Jazz«, 2017). Chinen konzentriert sich ganz auf sie.

Diese Leerstelle in der Literatur frustrierte nicht nur jene Neugierigen, die Einstieg und Orientierung suchten. Sie irritierte. Auch wenn es im 21. Jahrhundert schwerer denn je ist, im Sinne hinreichender und notwendiger Bedingungen zu definieren, was Jazz ist und was nicht. Darüber, dass Jazz eine musikalische Praxis ist, für die Improvisation und ein damit einhergehendes retrospektives, erst im Moment des Vollzugs verhandeltes Verständnis von Gelingen jedenfalls dominante, identitätsstiftende Parameter sind, besteht Konsens (vgl. dazu nur Daniel Martin Feige »Philosophie des Jazz«, 2014). Und all das passiert notwendig im jeweiligen Hier und Jetzt. Es ist trivial, aber wichtig: Ich kann nicht mehr zu Charlie Parker und Thelonious Monk, John Coltrane oder Miles Davis gehen. Ich muss jetzt raus in die Clubs und auf die Festivals. Jazz erzwingt, sich für seine Gegenwart zu interessieren. Aber wo beginnen?

Diese Leerstelle in der Literatur erstaunte umso mehr, weil sich seit den 1990er Jahren mit den Jazz Studies eine ausnehmend lebendige und vielseitige akademische Szene entwickelt hat, wie Chinen in Kap. 7 erläutert und man in Europa z.B. bei der aus einem EU-HERA-Projekt hervorgegangenen Rhythm-Changes-Konferenzreihe in Aktion erleben kann (https://www.rhythmchanges.net).

Der Bedarf entsteht, weil es im Jazz heute nur noch wenige, meist arrivierte Namen gibt von Keith Jarrett bis Chick Corea, die international über die großen Säle sichtbar und allgemeiner bekannt sind, nur wenige wie Diana Krall, Harry Connick Jr. oder Norah Jones, Gregory Porter oder Jamie Cullum – oder in Deutschland Götz Alsmann und Till Brönner –, die dies über eine gewisse Art Crossover-Popularität schaffen, aber doch (regelmäßig traditionelle Spielarten von) Jazz können und manchmal auch machen. Doch all das sind letztlich Ausnahmen. Jazz steckt post-2000 in Sachen Aufmerksamkeitsökonomie in einer paradoxen Situation. Als Kunstmusik durchgesetzt, als Hochkultur ausgezeichnet, im Genuss öffentlicher Förderung, mit einer Vielzahl exzellenter Hochschulprogramme ausgestattet, die eine Flut herausragend ausgebildeter Musiker*innen hervorbringt, eigentlich alles erreicht, fehlen Sichtbarkeit und Nachfrage. Die Hitparaden sind weit weg, die Medienangebote in Nischen verschwunden, die Auftrittsmöglichkeiten rar. Ein bekannter Jazzclub in einer typischen europäischen Metropole bekommt für seine gut 300 Slots im Jahr mehrere Tausend Auftrittsanfragen, selbst kleine Festivals und Blogs werden mit Bemusterungen überhäuft. Und von all diesen Nadelöhren gibt es immer weniger. Wo lässt sich da ein Anfang machen? Was ist das für Musik? Und wer macht sie?

Chinen offeriert seine ausnehmend motivierende Antwort in zwölf Kapiteln und einer Vorschlagsliste von 129 Alben post-2000. Stilistisch verblüffend heterogen, bietet letztere einen exzellenten Startpunkt. Wie man hier lernt, hat Jazz post-2000 gerade keine klaren Konfliktlinien und stilistischen Trends, Schulen und Leitidole mehr – und damit klare Orientierungspunkte und Einfallstore. Von Clubmusik bis Kunstmusik, von Hip-Hop bis Avantgarde geht alles. Ein treffendes Beispiel hierfür ist z.B. die enorme stilistische Bandbreite der Projekte und Diskographie von Brad Mehldau, dem Chinen sein zweites Kapitel widmet, von Modern Trio Jazz bis Bluegrass, von Kunstliedzyklen bis EDM-inspiriertem Jazz.

Aus Sicht des Popdiskurses ist am Jazz heute, so wie Chinen ihn beschreibt, dabei zweierlei besonders spannend. Erstens ist Jazz anno 2020 in seiner Breite zwar ersichtlich keine Popkultur mehr im Sinne von populär. Aber viele Jazzmusiker*innen ziehen spürbar Energie und Kreativität aus der Interaktion mit ihrer popkulturellen Gegenwart, wie Chinen an sehr unterschiedlichen Beispielen wie Mehldau, aber auch Jason Moran (Kap. 6), D’Angelo (Kap. 9), Robert Glasper (ebd.), Esperanza Spalding (Kap. 10) und Mary Halvorson (Kap. 12) von EDM-Grooves und Loopverfahren über Neo-Soul und Singer/Songwriter bis Hip-Hop illustriert. Oder an Kamasi Washingtons Arbeit auf Kendrick Lamars »To Pimp a Butterfly« (2015; Kap. 1). Wie er es oft tat, so offeriert Jazz auch heutzutage wieder in vielen Spielarten kreative Reaktionen auf die Popmusik seiner Zeit. Aber regelmäßig ausgeführt von ausnehmend virtuosen Künstler*innen, generiert dies Lesarten, wie Chinen zeigt, die man andernorts im stets intertextuellen und referentiellen Popdiskurs nicht ohne weiteres findet. Man sieht Pop anders vom Standpunkt des Jazz. Diesen Blickwinkel wiederzuentdecken, bereichert. Denn es interessieren hier eben insbesondere die musikalischen Charakteristika und Qualitäten von Pop, mit denen dann weitergearbeitet wird, die aber im Popdiskurs von Popular Music Studies bis Musikjournalismus oft randständig bleiben – wie es später auch Thema des dritten hier herausgegriffenen Buchs von Ben Ratliff sein wird.

Zweitens verweist der zeitgenössische Jazz in zugespitzter und exemplarischer Weise auf ein gravierendes generelles Problem heutiger Musikkultur: Wie noch Aufmerksamkeit bekommen? Denn nie war der Flaschenhals enger als im Streamingzeitalter, nie war es schwerer, in dem nach Ähnlichem suchenden Music Information Retrieval Interesse für Andersartiges zu gewinnen, nie die gefühlte und inszenierte Übermacht alter Helden und Meisterwerke größer, nie das schiere Musikangebot überfordernder und doch zugleich potenziell einfacher zu haben. Nach Chinen reagiert Jazz hierauf ausnehmend produktiv, und zwar mit Diversifikation. Er ist heute globaler, diverser, anschlussfähiger, stilistisch pluraler denn je. So stärkt einen Chinens Buch gegen allen Kulturpessimismus. Und zeigt ganz nebenbei mit Beispielen von D’Angelos »Voodoo« (2000) bis Robert Glaspers Experiment »Black Radio« (2012), von Norah Jones’ »Come Away with Me« (2002) bis Herbie Hancocks »River: The Joni Letters« (2007), dass Jazz heute noch immer ganz unmittelbar auch das sein kann: Pop-Mainstream und Chart-Topper.

Aus hiesiger Sicht ist der einzige Malus des Buches die Amerikalastigkeit (thematisiert in Kap. 11). Chinens New Yorker Clubs sind weit. Und nicht alle Künstler*innen, die bei Chinen prominent werden, touren regelmäßig hierzulande. Aber auch insoweit erschien zuletzt Abhilfe: Einen exzellenten Einstieg in die Lage in Deutschland bietet nun Wolfram Knauers »›Play Yourself, Man!‹ Die Geschichte des Jazz in Deutschland« (2019), zur Entwicklung in Europa vergleiche man Francesco Martinellis »The History of European Jazz« (2019) und José Dias’ »Jazz in Europe« (2020). Wer nach Chinen noch Vertiefung sucht, wird zudem in Bill Beuttlers »Make It New. Reshaping Jazz in the 21st Century« (2019) fündig, das acht ausführliche Portraits bringt, u.a. zu einigen der aus Popsicht besonders interessanten Jazzmusiker*innen wie Robert Glasper oder Esperanza Spalding.

In vielem erstaunlich ähnlich zur Lage im Jazz war jene der Literatur zum angloamerikanischen Musical: Das zweite und dritte Viertel des 20. Jahrhunderts dominierten Narrativ und Wertekanon. Die sich parallel zu den Jazz Studies in den 1990er Jahren akademisch etablierenden, gleichfalls kulturwissenschaftlich geprägten und ebenso sehr publikationsstarken Musical Theatre Studies forderten dies gleichfalls lange nicht heraus (vgl. nur stellv. die Gewichtungen in Larry Stempel: »Showtime. A History of the Broadway Musical Theater«, 2010; Raymond Knapp/Mitchell Morris/Stacy Wolf: »The Oxford Handbook of the American Musical«, 2011; Ethan Mordden: »Anything Goes. A History of American Musical Theatre«, 2013; Nathan Hurwitz: »A History of the American Musical Theatre: No Business Like It«, 2014; William A. Everett/Paul R. Laird: »The Cambridge Companion to the Musical«, 2017; Elizabeth L. Wollman: »A Critical Companion to the American Stage Musical«, 2017). Die verbleibenden 43 Beiträge der Kolleg*innen im 2019 veröffentlichten Sammelband »The Routledge Companion to the Contemporary Musical« – der 44. Aufsatz zum Musical im deutschsprachigen Theater stammt, Disclaimer, vom Rezensenten – waren für mich daher in Summe das Erhellendste, was ich bislang zum angloamerikanischen Gegenwartsmusical gelesen habe. Der zeitliche Fokus ist derselbe wie bei Chinen. Und der Mehrwert ebenso.

Musical heutzutage ist in der deutschen Sicht regelmäßig noch beschränkt auf »My Fair Lady« im lokalen Stadttheater auf der einen, Busreisen zu Andrew Lloyd Webber und Elton John nach Hamburg und Wien auf der anderen Seite. In den Popular Music Studies findet das Musical nicht statt. Dabei änderte sich der Broadway, der heute wieder unumstrittener Referenzpunkt des Genres bis ins Repertoire der deutschsprachigen Bühnen ist, Mitte der 1990er Jahre grundlegend. Seitdem gibt es eine Vielzahl von Entwicklungen, die Pop- und Popmusikforschung neu interessieren sollten für dieses Genre – und zwar eben nicht nur die Musikwirtschaftsforschung. Einige dieser Themen, die in diesem Sammelband verhandelt werden, sind: Die Integration von People of Color, Frauen und Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung wie überhaupt die Realisierung von Diversität und Teilhabe im kommerziellen Mainstream. Der Einsatz von Social Media für die Publikumsgewinnung und -beteiligung. Die Tragfähigkeit populärer Songformen für komplexere narrative und dramatische Zwecke in einem kommerziellen Kontext. Der Aufstieg von Frauen in allen wirtschaftlich und kreativ maßgeblichen Funktionen backstage, von Autorinnen bis Produzentinnen.

Darüber hinaus haben es Broadway und Off-Broadway (Theater in Manhattan mit 100 bis 499 Sitzen) in dieser Phase, obwohl ein letztlich vom Ticketverkauf abhängiges Metier, mit einer Vielzahl von Stücken von »Rent« bis »Hamilton«, von »Avenue Q« bis »Dear Evan Hansen«, von »Spring Awakening« bis »Fun Home« geschafft, regelmäßig auch provokantes, gesellschaftspolitisch relevantes Musiktheater in populären Idiomen herauszubringen, das etwas will und sich zugleich trägt, das zugleich fordert und unterhält. Dieser schmale Grat, der freilich auch viel der besten und höchstgehandelten Popmusik ausmacht, ist im deutschsprachigen Musiktheater praktisch nicht vorhanden. Dabei gehen Non-Profit-Off-Broadway- und Regional-Theater einerseits und der Broadway andererseits in Entwicklung und Präsentation dieser Werke oft Hand in Hand. So drängt sich bei der Lektüre des »Routledge Companion to the Contemporary Musical« fortwährend die Frage auf, warum dies einem Musiktheatersystem gelingt, das hierfür eigentlich nicht prädestiniert ist – die Produktionskosten haben sich parallel vervielfacht in den vergangenen Jahren –, während das hochsubventionierte deutschsprachige Musiktheaterwesen, das eigentlich viel besser in der Lage sein müsste, Schutzräume für ein solch ambitioniertes, zeitgenössisch-populäres Musiktheater zu bieten, so wenig vorzuweisen hat? Das meistproduzierte hiesige Werk am Broadway ist die »Dreigroschenoper«. Die feiert schon bald ihren hundertsten Geburtstag.

Der Corona-Virus hat Mitte März 2020 leider die Lichter ausgehen lassen am Broadway. Wann sich der Vorhang wieder hebt, ist nicht abzusehen. Und was an dieser primär privatwirtschaftlich organisierten und finanzierten Musiktheaterlandschaft dann noch da sein wird und wie es sich aufgrund der Zäsur verändert haben mag, ebenso wenig. Es kann gut sein, dass die Jahre 1995-2020 künftig eine abgeschlossene Ära in diesem Bereich der Popkultur markieren werden. Sollte es so kommen, dürfte sie, wenn alle etwas Distanz gewonnen haben, als goldenes Zeitalter eigenen Rechts gelten, als Renaissance des Genres.

Das dritte Buch, auf das ich hier hinweisen möchte, behandelt kein Genre. Es setzt sich damit auseinander, wie man sich Musik annähern kann im Internetzeitalter. Ben Ratliff war 1996 bis 2016 Pop- und Jazzkritiker der »New York Times«. Für den Popdiskurs ist an seinem kurz nach Ausscheiden dort erschienenen Buch relevant, wie Ratliff einfordert, bewusst zu hören und diese Hörerfahrung zu rationalisieren und verbalisierend zu kommunizieren. In Zeiten omnipräsenter Hintergrundmusik, unerschöpflicher Verfügbarkeit von Musik und der Herrschaft algorithmischer Auswahl- und Empfehlungssysteme, Ratliffs Ausgangspunkten (vgl. Einleitung), ist das deswegen offenbarend, weil Ratliff einem konkrete Optionen an die Hand gibt, darauf konstruktiv zu reagieren, indem er offenlegt, wie er selbst vorgeht. Indem er hier nämlich weder dem Prestige von Namen, Genrebegriffen, Hitparaden noch dem von Künstlicher Intelligenz Vorausgewählten, noch der Autorität der eigenen meinungsprägenden Position und der damit verbundenen Normativität der eigenen Auswahl der ›wichtigen Künstler*innen‹ folgt, sondern sich phänomenologisch auf das zu Hörende einlässt und sich dabei im Hören, Beschreiben und Vergleichen gezielt von ästhetischen Kategorien wie »Slowness« (Kap. 2), »Density« (Kap. 12) oder »Closeness« (Kap. 14) leiten lässt. Insgesamt 20 dieser Kategorien werden von Ratliff erkundet, reich an Beispielen. Für ihn sind all dies gleichberechtigte Tools, die es einem erlauben, an ganz unterschiedlichen Stellen Ausprägungen westlicher Musik von einem verbindenden Betrachterpunkt aus zu finden, zu hören und sich hierdurch immer wieder Sachen zu erschließen, zu denen man zunächst keinen Zugang hat. Ratliffs Alptraum sind die Playlists in Rundfunk und Streaming-Plattformen mit dem Immergleichen. Er möchte überrascht und herausgefordert und begeistert werden. Ratliffs Mut liegt darin, dass er sich dafür tatsächlich kategoriale und sodann versprachlichte Wege über die Musik selbst sucht. Der Popdiskurs ist sehr sparsam hiermit. Es scheint zu sperrig. Es setzt technisches Fachwissen voraus. Es ist Nerdtalk. Und interessiert bisweilen schlicht nicht. Man denke nur an die Mühen, die Diederichsen am Anfang von »Über Pop-Musik« darauf verwendet, zu erklären, dass es entgegen dem Titel im Folgenden um Musik nur als eines unter vielem und letztlich nur am Rande gehen werde. Ratliff hingegen konzentriert sich ganz hierauf. Und er führt seine Kategorien durch bis in die Beschreibung einzelner musikalischer Situationen. Für jene, die sich mit Pop beschäftigen, weil sie vor allem das daran interessiert, was man hören kann, etwa, weil es das ist, was einen bewegt, ist dieses Vorgehen eine Offenbarung, etwa wenn Frank Sinatra mit John Lydon mit Sly and the Family Stone kollidiert (Kap. 20: »The Perfect Moment«, S. 229–331). Insofern ist auch Ratliffs Buch wieder eine Provokation. Und eine Herausforderung für all jene, die über Pop als musikalische Praxis denken und schreiben. Vor allem macht es aber Mut, auf dieser Seite der Gleichung von Pop-Musik mehr zu wagen. Da von Beruf auch Jazzkritiker, trifft man bei Ratliff im Übrigen viele Namen wieder, die man bei Chinen kennenlernt. Freilich findet die Annäherung aus einem ganz anderen Blickwinkel statt. Beide Bücher zusammen zu lesen, ist daher reizvoll.

 

Nate Chinen: Playing Changes. Jazz for the New Century. New York 2018.

Jessica Sternfeld/Elizabeth L. Wollman (Hrsg.): The Routledge Companion to the Contemporary Musical. London/New York 2019.

Ben Ratliff: Every Song Ever. Twenty Ways to Listen to Music Now. London/New York 2016.

 

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