Literaturfähiger Sport
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 76-81]
Das Karriereende des womöglich größten Badmintonspielers aller Zeiten bekommen hierzulande nur wenige Menschen mit. Als der Chinese Lin Dan, zweimaliger Olympiasieger und fünfmaliger Weltmeister, im Juli 2020 mit 37 Jahren seinen Rücktritt bekannt gibt, ist die Aufregung vor allem in denjenigen Ländern groß, in denen Badminton ein Stellenwert zukommt, der in Deutschland nur mit dem von König Fußball zu vergleichen ist: Neben China sind insbesondere Malaysia, Korea, Indonesien und Dänemark führende Badmintonnationen. Lee Chong Wei, der bereits 2019 aufgehört hat, antwortet auf Instagram mit einem gereimten Gedicht auf den Abtritt seines ehemaligen Widersachers: »We knew this day would arrive, / Heavy moment of our lives, / You pulled down the curtain gracefully, / You were king where we fought so proudly; / Your final wave all four disappear, / Within the hush of silent tear.«
Nach Peter Gade, Taufik Hidayat und Lee Chong Wei überlässt nun auch der letzte Vertreter der sogenannten ›heavenly four‹ den Jüngeren das Feld. Die Trauer um Lin Dans Abschied wurde in der internationalen Badmintongemeinde tagelang zelebriert. Auch die Tatsache, dass Lin Dans Leben und Karriere kurz darauf unter dem Titel »Super Dan« (Studio Amco) als Comic erscheint, erweist sich lediglich als minimaler Trost.
Badminton ist ein facettenreicher Sport und stellt höchste körperliche und mentale Ansprüche an die Spieler*innen: es braucht Ausdauer, Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit, mentale Stärke und Intuition. In den Best-of-Videos der Stars wirken deren Bewegungen schwerelos, erfüllt von Leichtigkeit und Intensität, von unglaublicher Kraft und zartestem ›touch‹. Nicht umsonst führte die erfolgreichste Badmintonspielerin der frühen 1990er Jahre, die Indonesierin Susi Susanti, den Spitznamen ›Ballerina‹. Ihr Spagat, den sie im Defensivspiel häufig einsetzte, gilt als legendär. Susantis Bewegungen sind tänzelnd, auf die Levitation des Körpers zugeschnitten, in der alles Schwere von ihr abzufallen scheint. Im Vergleich zum Tennis ist der Badmintoncourt klein, die Ballwechsel geprägt von Variationsreichtum. Der Spielfluss wird beim Badminton auch nicht durch den neurotischen Umgang mit Handtüchern (Rafael Nadal) oder dem ewigen Konzentrationsgetippe vor dem Aufschlag (Novak Djokovic) gestört. Im Gegenteil: der Aufschlag ist selten spielentscheidend, er dient lediglich der Eröffnung.
Die Geschichte des Badminton ist lang und reicht bis in die Han-Dynastie zurück. Als ›battledore‹ and ›shuttlecock‹ oder ›jeu de volant‹ wird das Spiel mit dem gänsegefederten Ball seit dem 17. Jahrhundert zu einem Freizeitvergnügen des höfischen Adels, Christina von Schweden soll extrem versiert gespielt haben. Im Laufe des 19. Jahrhunderts kommt ein gespanntes Netz hinzu, und in englischen Kolonien wird unter dem Namen ›Poona‹ kompetitiv gespielt. England avanciert zur Wiege des modernen Badminton; das sog. Badminton House des Duke of Beaufort in Südengland gibt dem Spiel seinen heutigen Namen. Die körperlichen und mentalen Vorteile, die regelmäßiges Badmintonspielen mit sich führen, werden schon früh erkannt. So wird etwa dem verhärmten Ekel Edward Casaubon, Ehemann der Heldin Dorothea Brooke in George Eliots »Middlemarch«, nach einem Schlaganfall (vergeblich) empfohlen, doch öfter draußen ›shuttlecock‹ zu spielen: »you must unbend«, lautet die Devise. Von England aus verbreitet sich das Spiel auch in Europa immer weiter. Eine der berühmtesten Enthusisastinnen ist Gilberte Swann, die Jugendliebe Marcels, dem Erzähler von Prousts »À la recherche du temps perdu«. Im Park der Champs-Elysées spielt sie mit einer Kameradin nachmittags und bei gutem Wetter das ›jeu de volant‹. Sogar als ihre Freundin sie alleine zurücklässt, spielt Gilberte hochkonzentriert weiter, sie bleibt »unaufhörlich mit Hochschnellen und Fangen beschäftigt […], bis eine Erzieherin mit blauer Feder am Hut sie rief«. Die »blonde Federballspielerin« wird den gebannt zuschauenden Marcel niemals zum Mitspielen auffordern, die Liebe, die Marcel für sie empfindet, bleibt unerfüllt, verkehrt sich irgendwann in Freundschaft: »Eine gewisse Affinität ist übriggeblieben, und alles, was Gilberte mir früher versagt hatte, gewährt sie mir nun freimütig, zweifellos weil ich nicht mehr danach verlangte«, wird der eher unsportlich-überspannte Marcel Jahre später feststellen.
In Deutschland kommt die Leidenschaft für Badminton nie wirklich an, es bleibt trotz steigender Mitgliederzahlen immer ein Nischensport. Mediale Aufmerksamkeit ist so gut wie nicht vorhanden, keines der großen Turniere, nicht einmal die Weltmeisterschaften, werden übertragen, vielleicht fehlt es einfach auch an Stars wie Susi Susanti oder Lin Dan. Man spricht hierzulande daher immer noch verniedlichend und zugleich despektierlich von ›Federball‹. Augenscheinlich wird das im deutschen Titel von John le Carrés letztem Spionage-Roman »Agent running in the field« (2018). Der Ich-Erzähler Nat ist ein älterer Geheimagent, ein Mann von fünfzig Jahren und gerade vom nervenaufreibenden Außendienst entlassen. Weil er auch amtierender Badminton-Champion in seinem Club im Südwesten Londons ist, trägt der Roman auf Deutsch den Titel »Federball«. Wie auch schon bei Eliot und Proust ist Badminton aber nur ein Nebenschauplatz. Nat spielt zwar manchmal mit dem gut zwanzig Jahre jüngeren Ed, ihre Matches sind knapp, aber was sie genau mit dem Plot zu tun haben, wird nicht ganz klar – der Roman handelt anscheinend auch von den Wirren des Brexits. An einer Stelle spricht Nat aber einige Grundsätzlichkeiten über das Wesen des Badminton (und sich selbst) aus: »Für Ungläubige ist Badminton ein schwacher Abklatsch von Squash, etwas für übergewichtige Männer mit Herzinfarktrisiko. Für wahre Enthusiasten gibt es keinen anderen Sport. Squash ist Mord und Totschlag. Badminton ist List, Geduld, Tempo und eine unaufhörliche Aufholjagd. Man wartet in Lauerstellung auf seine Gelegenheit zum Angriff, während der Federball gemächlich seine Kurve beschreibt. Anders als Squash kennt Badminton keine sozialen Unterschiede. Badminton ist nicht elitär. Es hat nichts vom Freiluftflair des Tennis oder Fünf-gegen-Fünf-Kleinfeldfußball. Ein schöner Schlag wird nicht automatisch belohnt. Badminton verzeiht nichts, schont die Knie, soll aber fürchterlich auf die Hüfte gehen. Dennoch verlangt Badminton nachweislich ein schnelleres Reaktionsvermögen als Squash. Unter uns Spielern herrscht wenig natürliche Geselligkeit und wir bleiben im Allgemeinen lieber für uns. Auf andere Sportler wirken wir ein wenig schrullig und eigenbrödlerisch.“
Nat ist ein Unsympath und so gesehen wirkt Badminton in der Tat nicht verlockend, eher nach muffigen Hallen, wissentlicher Selbstzerstörung und tendenziell arroganten Typen. In gewisser Hinsicht stimmt das ja auch. Badminton strahlt nichts Glamouröses aus, ist in weiten Teilen ein Geduldsspiel und macht auf die Dauer Hüfte und Knie kaputt. Zugleich, da hat Nat Recht, ist Badminton unelitär, eine spezifische Badminton-Klientel existiert weder in Deutschland noch in der Literatur: von kränklichen Intellektuellen, höheren Töchtern und pensionierten Spionen ist alles dabei.
In dem Verein, in dem ich seit 2018 mehr oder weniger regelmäßig trainiere, treffen sich an mehreren Abenden der Woche alle möglichen Leute aus allen Altersgruppen und sozialen Schichten: Schüler*innen, Rentner und Angestellte, Architekt*innen, IT-Spezialisten, Unileute. Ich wette, niemand würde auf der Straße als typische*r Badmintonspieler*in erkannt werden. Die körperlich-motorischen Voraussetzungen sind niedrig, der Sport erlaubt auch in fortgeschrittenem Alter noch Erfolgserlebnisse, die sich so beim Skifahren oder Tennisspielen nicht mehr einstellen. Auch wenn man nicht bereits im Kindesalter Badminton gespielt hat, besteht noch eine relativ hohe Chance auf ungebrochenen Spielspaß. Vor allem am Anfang ist die Lernkurve enorm, man wird gefühlt von Woche zu Woche besser, um dann auch ziemlich schnell zu stagnieren. Findet man jedoch Mitstreiter*innen für ein Doppel oder Mixed, deren Lernkurve auch konstant (niedrig) bleibt, ist wöchentliche Euphorie nahezu garantiert.
Eine ähnliche Meinung scheint auch Tanja Arnheim zu vertreten, die Hauptfigur in Leif Randts kurz vor dem ersten Lockdown im März 2020 erschienenen Roman »Allegro Pastell«. Tanja – Autorin und Wiedergängerin von Gilberte Swann – spielt begeistert Badminton. Ihre Euphorie hat sicherlich auch einige Leser*innen des Romans mit dem Gedanken liebäugeln lassen, sich einen Schläger zu kaufen und ein Probetraining zu absolvieren. Nur das Timing war schlecht, die Hallen im Frühling dicht und als sie im Sommer wieder öffneten, wollte sich niemand drinnen aufhalten. Der potenzielle Mitglieder*innenzuwachs blieb dem Deutschen Badminton Verband e.V. vorerst verwehrt. Ohne Lockdown wären vermutlich viele in den Genuss eines Badminton-Highs gekommen, das Tanja nach ihren Trainingsmatches überfällt: »Ungeachtet des eigenen, bestenfalls mediokren Spielniveaus verließ Tanja die Halle der Allegro-Grundschule jedes Mal in beschwingter Stimmung und spazierte bestgelaunt über die Potsdamer Straße«.
Tanjas Entscheidung für Badminton ist wie jede ihrer lebensweltlichen und ästhetischen Entscheidungen wohl reflektiert. Weil sie die Atmosphäre und die Klientel in einem Holmes-Place-Fitnessstudio als zu »aristokratisch« und eitel wahrnimmt, entscheidet sie sich kurz vor ihrem dreißigsten Geburtstag, wieder mit Badminton anzufangen. Sie greift dabei ein altes, fast vergessenes Hobby wieder auf, das sie bereits in der Oberstufe ihres Gymnasiums in Kiel ausgeübt hatte. In der Gegenwart des Romans, Ende der 2010er Jahre ist Badminton ein Sport, der mit wenigen Vorurteilen belegt ist, wenn man so will, ein unexzentrischer Normcore-Sport. Wie Randt selbst in einem Video-Essay für Tegel Media treffend beschreibt, ist Badminton »auf eine positive Weise neutral«. In seiner unzeitgeistigen Bodenständigkeit steht er Extrem- und Angebersportarten wie Downhill-Biking oder Windsuit-Flying, aber auch Modehobbies wie Bouldern entgegen. Der Sport ermöglicht es Randts Protagonistin Tanja trotzdem, »eine gewisse Aggressivität« auszuleben, »ohne dass der Sport in gewisser Weise gefährlich wurde.« Ihr kopflastiger Yonex-Schläger beschert ihr mehr »Aggressivität« im Einzel, und »im Doppel schlug sie oft passgenaue Drops ganz knapp hinter die Netzkante.« Tanjas Begeisterung für den neu entdeckten Sport geht so weit, dass sie ihre Badmintonschuhe der Decathlon-Eigenmarke Artengo stolz in Clubkontexten trägt. Obwohl Tanjas »erste Mitgliedschaft in einem Sportverein ihren Alltag maßgeblich verbessert«, interessiert sich ihr kreativ-intellektuelles Umfeld eher für ihre vom Badminton inspirierten Outfits als für den Sport selbst. Als sie bei einem Essen nach einer Lesung einmal von ihrer »neuen Leidenschaft für Badminton-Content auf Youtube« erzählt, von den »vogelgleichen Bewegungen der Superstars aus Asien und Dänemark« und deren »enorm beruhigender Wirkung«, verebbt das Gespräch schnell. Niemand weiß, wovon sie spricht, niemand kennt Viktor Axelsen oder Kenta Nishimoto.
Doch Badminton ist für Tanja mehr als ein Hobby, »Allegro Pastell« vielleicht wirklich der erste Badmintonroman der Literaturgeschichte. In der Verbindung von Aggressivität und Sanftheit, von Kraft und Eleganz, von Kontrolle und Leichtigkeit ist Badminton ein Oxymoron, die etwas utopische Verbindung von Gegensätzen, von denen Randt erzählt. Gut Badminton zu spielen, verspricht eine Balance und Ausgeglichenheit, die Tanja zwar stets für sich in Anspruch nimmt, sie aber im Laufe des Romans immer weniger zu verwirklichen weiß. In der Verschränkung von kontrollierter Aggression und schwereloser Leichtigkeit figuriert Badminton eine Gelöstheit von allem Prosaischen, etwas tänzerisch Müheloses, die Abwesenheit von Schwere, Schwerfälligkeit und Schwermut, kurz: ›effortlessness‹. Das ›Oxymoröse‹, das an Tanjas Badmintonbegeisterung besonders augenscheinlich wird, durchzieht den gesamten Roman, in dem das Aushalten von Gegensätzen von den Hauptfiguren zur grundlegenden Devise, der Genuss von Widersprüchlichkeiten gar zur Möglichkeit persönlichen Glücks erklärt wird. Selfies werden dabei beispielsweise als »eitel und uneitel zugleich« wahrgenommen, Tanjas Freund Jerome hält eine »souveräne Distanz zu den Dingen, ohne dabei an Empathie einzubüßen«, ihre Beziehung soll aus zwei Menschen bestehen, die »sich schätzen und begehren und nur selten sehen«, und auch die zentrale Begrifflichkeit des Romans »Vorauseilende Wehmut« erweist sich selbst als eine solche Synthese von Gegensätzen. Obwohl Tanja letztlich zu scheitern scheint und die Utopie kontrollierter Leichtigkeit lebensweltlich unerreicht bliebt, verwirklicht der ›sound‹ des Romans, jene zugewandte Nüchternheit der Erzählinstanz, eine solche ›Sowohl-als-auch-Haftigkeit‹. »Allegro Pastell« ist daher auch ›zu gleichen Teilen‹ realistisch und überzeichnet, hier wird nicht locker auferzählt oder bloße Wirklichkeitseffekthascherei betrieben, die souveräne Leichtigkeit des Tons, auf den Tanjas Schreiben abzielt und den Randt mittlerweile auf seine eigene Weise perfektioniert hat, ziert stets auch ein leichter Stich ins Pedantische. Für punktgenaue Prosa wie für akkurate ›smashs‹ scheint gleichermaßen zu gelten: Have your footwork under control and you will be able to fly.