Depressive Hedonie
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 18, Frühling 2021, S. 66-70]
In einem mittlerweile zwanzig Jahre alten VW-Werbespot mit dem Titel »Milky Way« traf der deutsche Automobilhersteller eine eigenwillige Entscheidung: Der einminütige Film, in dem das Modell Golf Cabrio beworben wird, ist mit dem Song »Pink Moon« (1972) des depressiven und mutmaßlich suizidalen Singer-Songwriters Nick Drake unterlegt – er starb 1974 im Alter von 26 Jahren an einer Überdosis seines Antidepressivums. Eine derart eschatologisch konnotierte Werbebotschaft mit negativen Anklängen ist ungewöhnlich, zumal hinzukommt, dass einige Interpreten in den Versen »Pink moon is on its way / And none of you stand so tall / Pink moon gonna get ye all« eine Anspielung auf die Offenbarung des Johannes erkennen.
Nicht nur für Drake-Connaisseure ist die melancholische Färbung des Spots zu erkennen. Merkmale wie Innovation, Progressivität und Protest, die häufig mit Pop und Konsum verbunden werden, weichen hier einer leisen Verweigerung und Distanzierung: An die Stelle des Fortschritts tritt beim Golf der Rückwärtsgang, den die vier jugendlichen Insassen einlegen, um dann nicht wie geplant eine Party im suburbanen Amerika zu besuchen, sondern schweigend die Vorzüge des Cabrios beim Cruisen durch die sternenklare Sommernacht zu genießen. Begleitet werden sie von einem Glühwürmchenschwarm und dem Geräusch der Zikaden. Hier erscheint der Werbespot auch ein Stück weit lebensbejahend, dennoch: die Party bleibt zunächst aus.
Solche melancholischen Momente sind im Marketing rar gesät, obwohl sich ab 2000 die Rede von einem deprimierten und »erschöpften Selbst« (Alain Ehrenberg) Bahn bricht und die Konjunktur dieses Diskurses im Grunde bis heute anhält. Die 2000er und 2010er Jahre waren gepflastert von Zeitschriften, die auf ihren Covern ein überfordertes Ich proklamierten und ferner die persönlichen Narrative von ausgebrannten Sportlern, Trainern, Managern und Wissenschaftlern, suchterkrankten Literaten und suizidalen Piloten entfalteten. Die Misere wurde vor allem auf die Selbstoptimierungs-, Flexibilisierungs- und Kreativitäts-Forderungen der neoliberalen Arbeitswelt zurückgeführt. Daneben findet sich Anfang der 2010er Jahre eine Form von Melancholie, die im Überfluss ihren Nährboden findet. Dem nächtlichen Cruisen der Mittelklasse-Kids stehen in dem Song »Super Rich Kids« von Frank Ocean »too many joy rides in daddy’s Jaguar« gegenüber. Sofia Coppolas Film »The Bling Ring«, dessen Soundtrack den Ocean-Song enthält, legt nahe, dass Glamour in Melancholie umgeschlagen ist, auch die Hauptfigur in Coppolas Film »Somewhere« (2010) kann kein Glück beim Aufenthalt im Luxus-Hotel in Beverly Hills empfinden. In Hamburg fragt die Band Trümmer: »Ist das alles? Wo ist die Euphorie?« (2014) Es scheint nicht so, als ob die Euphorie vorher da gewesen und nun plötzlich abhandengekommen wäre. Nur wundert man sich in einer allseits durchoptimierten Welt, wo sie doch ständig gegeben sein sollte, mehr über ihre Absenz. So spricht Mark Fisher von »depressiver Hedonie«, die gerade auf der Unfähigkeit beruhe, »irgend etwas anderes außer dem eigenen Genießen zu verfolgen«.
Möglicherweise zeigen die Mitglieder der Generation Golf in ihrem Cabrio schon erste Anzeichen von depressiver Hedonie. Sie bemerken, dass ihnen die ›offizielle‹ Party nicht mehr den erwünschten Genuss bereitet (wo ist hier die Euphorie?), sie legen den Rückwärtsgang ein und kommen auf Umwegen zu dem Ergebnis: wo wir sind, ist die Party. Die Anklänge des Melancholischen enden in dem wohligen Gefühl, Teil einer Jugendbewegung zu sein (an der wiederum die Marke VW partizipiert). Der Spot zeigt ein letztes sinnerfülltes Aufbäumen der Couplandʼschen Generation X mit ihrem noch komplett un-digitalen Bekenntnis zur großen Marke und ihrem Weg jenseits der ›offiziellen‹ Pfade. Der Spot kann fast schon als solitäres Beispiel für geglückte melancholische Markenwerbung gelten.
Dies ist verwunderlich, insofern sich in den 2000er und 2010er Jahren zunehmend Signale der Erschöpfung in der Pop- und Konsumkultur als traditionelle Sphären der ›Attraktion‹, des Events und der Euphorie beobachten lassen. Pop sei »alles, was knallt« (Rainald Goetz) – diese These wurde in den 1990er Jahren noch emphatisch vertreten, doch danach ließen sich im mittlerweile ausdifferenzierten Pop-Diskurs auch leisere Töne wahrnehmen. Gegenüber den allgegenwärtigen Konsumprodukten und den Erzeugnissen der Pop-Kultur konnte hier vielfach kein euphorisches Verhältnis mehr eingenommen werden. Erinnert sei etwa an den Film »Lost in Translation« (2003) der bereits genannten Regisseurin Sofia Coppola, in dem das Duo Scarlett Johansson/Bill Murray in Konfrontation mit Konsumprodukten, der Glamour-Welt und dem Besuch einer Karaoke-Bar nur immer weiter in die Melancholie gerät.
Von dieser Tendenz ist in der Markenwerbung wenig zu erkennen, das Verschwinden der Euphorie und der Einzug der Melancholie werden kaum adressiert, man muss schon sehr genau hinsehen. Einschlägig erscheint der auch in dieser Zeitschrift schon häufiger erwähnte Edeka-Spot »Supergeil« (2014). Mit langsamen Electronica in Moll unterlegt, durchläuft der Hauptdarsteller mehrere Stationen, in denen Menschen Produkte der Edeka-Eigenmarke konsumieren: Zwei Omas beim Teekränzchen, zwei Kiffer beim Videospielen – diese Situationen muten allesamt trostlos, wenn nicht melancholisch, keinesfalls aber »supergeil« an. Dezidiert wird die Nicht-Euphorie beim Konsumieren der Produkte gezeigt, die Melancholie der Konsumsituationen wird nicht etwa durch die Produkte hervorgerufen, sie können sie aber auch nicht – wie man es vielleicht von einer Werbebotschaft erwarten würde – in Euphorie überführen. Allein der Hauptdarsteller findet alles »supergeil«, was aber nicht unbedingt glaubwürdig präsentiert wird: In der Rolle des Kassierers schaut er sich die doch sehr prosaischen Produkte auf dem Fließband genauer an und lobt die Tiefkühl-Pommes (»guck mal hier, sehr, sehr geile Fritten, super«), den ebenfalls tiefgekühlten Dorsch (»sehr geiler Dorsch übrigens, sehr geil«) und schließlich das Klopapier (»Oh hier, Klopapier, das ist aber weich, sehr, sehr geil, super«). Den Höhepunkt des Melancholischen bildet ein trister Kindergeburtstag, bei dem drei traurig dreinblickende Kinder in Tierkostümen, die an diejenigen in Wes Andersons Film »Moonrise Kingdom« (2012) erinnern, Blutorangen-Limonade der Edeka-Handelsmarke trinken und apathisch auf einem Hochbett sitzen. Der Hauptdarsteller intoniert »super Freunde, superspritzig, super Party, supergeil« und macht die Text-Bild-Schere perfekt. Wiederum bleibt die Party aus.
In der Markenwerbung der letzten zwanzig Jahre kommt es immer nur zu einem kurzen Aufscheinen solcher traurigen Momente, und auch auf Ebene der Produkte lassen sich die erwähnten Tendenzen mehr am Rande beobachten: Bier mag als Party-Getränk bis weit in die 2000er Jahre Bestand gehabt haben, obwohl sich schon in den 1990er Jahren in den Werbespots von Flensburger Pilsener unter der Regie von Detlev Buck wortkarge und renitente Schleswig-Holsteiner der Euphorie der Zugereisten verweigerten und nicht verraten wollten, wo die Party steigt (»der konnte ja viele Sprachen, aber genützt hat’s ihm nichts«). Mit der Etablierung des hochpreisigen Craft Beers gewinnt der Biergenuss eine wenn nicht melancholische, so doch ernsthafte und auf Genuss und Kennerschaft konzentrierte Komponente. Bier, das beiläufig oder als Party-Getränk konsumiert wird, gehört nun der Vergangenheit an. Die Hamburger Marke Landgang konzentriert sich besonders konsequent auf dieses neue Bier-Verständnis. Die Flaschen tragen düstere Labels im Comic-Stil, die Sorten haben teilweise verkopfte Namen wie »Nussferatu« (ein Brown Ale). Das Landgang-Bier wird kaum als Getränk der Wahl für ein punkiges Besäufnis herhalten können, zumal mit dem Konsum des Biers ein Nachhaltigkeitsprojekt zur Rettung des Bibers unterstützt wird. Im Hedonismus der 1980er und 1990er Jahre wäre es sicherlich nicht denkbar gewesen, Biertrinker für solche Themen zu begeistern.
Die schwedische Firma Stutterheim, ein Hersteller von hochwertigen Regenjacken, vermarktet ihre Produkte dezidiert im Zeichen der Melancholie. Passend zum Claim »Swedish melancholy at its driest« betreibt das Unternehmen einen eigenen »Melancholy Blog«, auf dem mit hohem Aufwand dargelegt wird, dass sich Melancholie und neoliberale Ideologie nicht widersprechen müssen: »Melancholy shouldn’t be confused with depression. Melancholy is an active state. When we’re melancholic, we feel uneasy with the way things are, the status quo, the conventions of our society. We yearn for a deeper richer relationship with the world. And in that yearning, we’re forced to explore the potential within ourselves – a potential we might not have explored if we were simply content«. Melancholie darf demnach nicht als Passivität verstanden werden und stellt letztlich eine weitere Facette der Selbstoptimierung dar. Man soll schließlich nicht ganz ohne Ertrag melancholisch durch den Regen laufen. Dennoch erscheint es mutig, Melancholie als nicht nur positive Eigenschaft zum Markenkern zu erklären. Und wo Freud die Melancholie in Abgrenzung zur Trauer als einen Zustand des Nicht-Vorankommens profilierte, weckt auch der Name Stutterheim solche Assoziationen (engl. to stutter = stottern).
Die melancholische Marke vollzieht immer schon eine riskante Gratwanderung in der Nähe zur Krankheit. Die autofiktionalen Depressions-Narrative von Thomas Melle (»Die Welt im Rücken«, 2016) und Benjamin Maack (»Wenn das noch geht, kann es nicht so schlimm sein«, 2020) zeigen, dass die Attraktionskultur des Pop nicht unbedingt ein Fremdkörper in der Darstellung psychischer Erkrankung sein muss. Die Nicht-Euphorie gegenüber Pop- und Konsumprodukten zeigt sich – wenig überraschend – auch bei den wirklich Erkrankten. In der stationären Therapie wählt die Persona Benjamin Maacks beim Sticken in der »Kreativwerkstatt« als Motiv Britney Spears. Das Klein-Klein des Stickens und die deprimierende Atmosphäre des Psychiatriesettings stehen im Gegensatz zum Motiv der glamourösen Pop-Diva, die ihrerseits sowohl als Pepsi-Testimonial in Erscheinung trat als auch selbst mit einer psychischen Erkrankung zu kämpfen hatte.
Noch nicht in der Psychiatrie situiert, aber doch auf den Hund gekommen ist die Markenwelt im Video zum Song »Something Has to Change« (2019) des Pop-Projekts The Japanese House. Federführend ist hier die britische Musikerin Amber Bain (*1995), die schon in jungen Jahren an Alkoholsucht, Essstörungen und Depression litt. Die Tatsache, dass Bain im Video über weite Strecken aus einer ungelabelten roten Cola-Dose trinkt (im Hintergrund sieht man eine Pyramide aus ebensolchen Dosen), lässt sich, literaturwissenschaftlich gesprochen, als interne Fokalisierung erklären. Wir erleben den Cola-Konsum aus dem desolaten Zustand des lyrischen Ichs heraus, das nicht umsonst bemerkt, dass sich etwas ändern muss. Diese Perspektive sorgt dafür, dass das Labeling gar nicht wahrgenommen wird. Es ist so verblasst wie die psychische Gesundheit der Bain-Persona. Sie befindet sich inmitten der Produkte, entwickelt aber keinerlei Euphorie oder ›Happiness‹ (so die Markenbotschaft von Coca-Cola), die Ästhetik der Konsumgegenstände erreicht sie in ihrer Apathie lediglich über die Signalfarbe. In einer weiteren Szene fährt sie lustlos auf einem Ergometer, als hätte sie den Selbstoptimierungsdiskurs weit hinter sich gelassen und stecke tief in der Depression bzw. im Hamsterrad fest.
Amber geht es nicht gut, und von ihrem Zustand aus ist es nicht weit zur nächsten Eskalationsstufe. Diese lässt sich gut auf dem inzwischen inaktiven Instagram-Profil #abouttherealstruggle studieren, das von der Autorin Kathrin Weßling bis 2017 kuratiert wurde. Dysfunktionalität und Endzeitstimmung werden hier, immer auch in Bezug auf Konsumprodukte, radikal zur Schau gestellt. Die Fotoserie zeigt neben Lebensmitteln Verpackungen der nicht gerade alltäglichen Präparate Quetiapin (wird angewendet bei Bipolarer Störung) und Escitalopram (ein gängiges Antidepressivum), die gleichfalls ›gegessen‹ werden. Daneben finden sich Fotos von Wäschehaufen, dreckigen Spülen und mit Küchenrolle bestückten Klorollen-Haltern, weil es einem zu schlecht geht, um zum Supermarkt zu gehen oder man ganz andere Probleme hat, als Hamsterkäufe zu tätigen. Weiterhin sieht man Pfandflaschen-Cluster, Ameisenstraßen, volle Aschenbecher und eine Packung Silberfischchen-Köder der Marke Nexa Lotte. Weitere Marken, die zu sehen sind: Astra, Club-Mate, Crunchips Salted, Erasco Graupen-Topf, Eszet-Schnitten, Ferrero Küsschen, Gerolsteiner, Jägermeister, Kühne Gurkentopf, McCafé, Nordzucker, Nutella (XXL-Glas, offen), OCB, Oreo, Ovomaltine, Pepsi, Ricard, Sagrotan, West – dieser Marken-Katalog deutet in Summe nicht gerade darauf hin, dass man sein Leben im Griff hat.
Die neue Ästhetik der ›Fertigkeit‹ erfährt unter Lockdown-Bedingungen nun eine denkwürdige Aktualisierung. Jüngst wird sie in dem Durchhalte-Spot »#besonderehelden. Zusammen gegen Corona« der Bundesregierung aufgegriffen, in dem ein junger Mann gezeigt wird, der sich in sozialer Distanz daheim von Chips und Cola ernährt und inmitten von Pizza-Kartons lebt (»unsere Couch war die Front«). Erstmalig wird von einer staatlichen Institution der Junk-Konsum gepriesen, freilich nur auf ironische Weise und im Dienste eines guten Zwecks. Für Melancholie ist beim »ideellen Gesamtkapitalisten« selbstverständlich kein Platz, solch eine Extravaganz bleibt einzelnen Marken überlassen.