»One, two, three, four«
von Thomas Nolte
19.3.2024

Das Einzählen als Nabel der Popmusik

»One, two, three, four«, so beginnt das Debütalbum der Beatles Please, Please Me von 1963. Bei der Vier angelangt, schlägt Paul McCartneys Stimme voller Vorfreude auf den kommenden Song »I Saw Her Standing There« in einen Schrei um. Der Einsatz mit einem Zählen ist ungewöhnlich. Zwar gehört das Einzählen in der Popmusik zur gängigen Praxis, bei Studioaufnahmen wird es allerdings in der Regel herausgeschnitten. George Martin, der Produzent der Beatles, berichtet, dass er das Einzählen beibehalten hatte, weil er die Atmosphäre eines Live-Auftritts der Band erzeugen wollte. Wobei hier von Beibehalten nicht die Rede sein kann. McCartneys Einzählen ist ein Soundschnipsel, der aus einer anderen Aufnahme stammt und dem finalen Take hinzugefügt wurde. Die kreierte Live-Atmosphäre ist also eine künstliche, die mit den Mitteln der Studiotechnik erzeugt wurde.

Eine Playlist zu diesem Beitrag findet sich hier bei Spotify und hier bei Tidal.

Vier Jahre später werden sich die Beatles an diesen Trick erinnern. Mit dem 1967 erschienenen Album Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band entscheidet sich die Band dazu, nicht mehr live aufzutreten und fortan eine reine Studio-Band zu sein. Die Songs des Albums, so das ihm zugrundeliegende lose Konzept, stammen von einer fiktiven Gruppe, die dem Album den Titel gegeben hat. Auf dem vorletzten Song »Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band (Reprise)« tritt die fiktive Band ein letztes Mal in Erscheinung, um sich mit einem Lied artig bei ihrem Publikum für die Aufmerksamkeit zu bedanken und zu verabschieden. Das Stück beginnt mit dem Klang einer scheinbar versehentlich angeschlagenen Gitarrensaite, woraufhin ein Einzählen folgt. Es fungiert hier als eine Art Realitätseffekt, der die Illusion erzeugen soll, dass es sich bei der Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band um eine echte Band handelt, die – im Gegensatz zu den sie verkörpernden Beatles – als Live-Band auftritt.

Das Beispiel der Beatles macht deutlich, dass dem Einzählen – wenn es nicht wie üblich herausgeschnitten wird – eine zusätzliche Bedeutung zukommt. Es verweist auf den geheimen Ursprung der Popmusik, auf dessen Nabel. Das Einzählen ist eine spezifische Praxis der Popmusik, die sich durch ein durchgängiges, gleichbleibendes Metrum auszeichnet. Dem Einzählen kommt die Aufgabe zu, das Tempo hierfür vorzugeben, und so die Grundlage für alles Weitere zu legen. In dem gerne als notwendiges Übel überhörten Einzählen verbirgt sich die ganze Programmatik eines Musikstücks, einer einzelnen Musikströmung, wenn nicht gar der gesamten Popmusik

 

Belebung des Künstlichen

Der anhand der Beatles beschriebene Realitätseffekt, der sich durch das Einzählen einstellt, findet sich besonders häufig in Musikstücken, die dem Rockismus zuzuschlagen sind. Diese Musik legt besonderen Wert auf das vermeintlich Authentische und Handgemachte. In dem Einzählen hat sie eine Technik gefunden, um diesen Anspruch zu beglaubigen. Der Nabel der Popmusik wird hier also nicht schamhaft verborgen, sondern offen zur Schau gestellt, um auf die eigene Natürlichkeit zu verweisen. In der Tradition des Rockismus bewegt sich auch der zu Beginn der Jahrtausendwende erfolgreiche Musiker Ryan Adams. Sein erstes Solo-Album Heartbreaker von 2000 beginnt mit einer bandinternen Fachsimpelei darüber, welche Morrissey-Songs sich auf der Singles Collection Bona Drag und welche auf dem Debütalbum Viva Hate befinden. Die Diskussion beendet ein bestimmt hervorgebrachtes »one, two, one, whooo!«, die Band fängt an zu rocken und Ryan Adams singt von zwei Jungs, die sich wegen einer Frau prügeln.

Die etwa zeitgleich entstehende Bewegung des Indie Folks verwendet das Einzählen ebenfalls, um die eigene Authentizität zu beglaubigen. Hier kreiert das Einzählen allerdings eine intime Atmosphäre und es stellt die eigene Verletzlichkeit aus – so etwa in etlichen Songs der Musiker Sufjan Stevens oder Bonnie »Prince« Billy, der die Bewegung mitbegründet hat. Sein Album Master And Everyone von 2003 beginnt mit einem bedächtig gemurmelten »one, two, three, four«. Anschließend hört man ein tiefes Einatmen und es folgen Stücke, in denen man das Geräusch der über die Gitarrensaiten fahrenden Finger vernimmt. Während besonders leiser Stellen hört man Bonnie »Prince« Billy mit dem Fuß den Takt schlagen, gelegentlich meint man, das Knarzen eines alten Holzstuhls zu vernehmen.

Eine Reflexion über die beschriebenen Effekte des Einzählens findet sich in dem Stück »Schaufensterpuppen« von 1977 der Elektronikgruppe Kraftwerk. Auch dieses Stück beginnt mit einem »Eins, zwei, drei, vier«. Darauf folgt allerdings keine auf analogen Instrumenten brillierende Rockband – stattdessen starten die künstlichen Klänge eines Synthesizers. Die Künstlichkeit des Einzählens wird bereits deshalb ausgestellt, weil der Start eines Synthesizers keine Abstimmung zwischen verschiedenen Bandmitgliedern erfordert, sondern lediglich das Drücken eines Knopfes.

Der Song selbst berichtet davon, wie Schaufensterpuppen plötzlich zum Leben erwachen, das Glas des Schaufensters zerschlagen und sich nach einem Stadtbummel zum Tanzen in einen Club begeben. Das Geschehen wird aus der Wir-Perspektive der Puppen vorgetragen. Man identifiziert sie unweigerlich als die Mitglieder der Band Kraftwerk, die sich in der Öffentlichkeit als belebte Maschinen inszenieren. Das Einzählen bei »Schaufensterpuppen« unterstreicht dieses Selbstverständnis. Indem zu Beginn eine menschliche Stimme mit einer Maschine kommuniziert, wird die Trennung zwischen Belebtem und Unbelebtem aufgehoben, wovon dann auch der Text des folgenden Stückes handelt. Das Einzählen dient in dem Stück »Schaufensterpuppen« dazu, dem Künstlichen Leben einzuhauchen und die Schaufensterpuppen mit einem Geburtszeichen – dem Nabel – zu versehen. Damit macht das Stück sichtbar, dass die Authentizität des Rockismus oder die Intimität des Indie Folks lediglich eine Strategie ist, um einer artifiziellen Produktion Leben zu verleihen.

 

Schlachtrufe

Eine Gruppe, die an Paul McCartneys Einzählen aus »I Saw Her Standing There« anknüpft, sind die Ramones. Diese Übernahme ist nur stimmig, leitet sich der Bandname doch von McCartneys fiktiven Zweitnamen Ramon ab, den er sich während seiner Hamburger Zeit zugelegt hat. Für die Musik der Ramones ist das »One, two, three, four« geradezu ein Markenzeichen. Hört man sich deren Live-Album It’s Alive von 1979 an, entsteht der Eindruck, dass dort mehr eingezählt, als Musik gespielt wird. Auch auf ihren Studioalben geht den Songs oft ein gebrülltes »one, two, three, four« voraus, obgleich sie es zu Beginn ihrer Karriere noch verlegen auf den hinteren Tracks ihrer Alben verstecken.

Bei den Ramones klingt das Einzählen wie ein Schlachtruf, der ihren Songs etwas Militärisches verleiht. Ohnehin wirkt die Band mit ihrem Einheitslook – lange schwarze Haare, Lederjacke, zerrissene Jeans und Stoffschuhe, wie eine alternative Militäreinheit. Das Militärische bestimmt auch ihre Musik; der bekannteste Song der Band heißt »Blitzkrieg Bop«. Mit dieser Ästhetik verweist die Band auf einen der Ursprünge der Popmusik. Der für die Popmusik typische durchgehende Rhythmus stammt unter anderem von den Marschrhythmen des Militärs. Dort hat die Musik die Funktion, das gleichmäßige Marschieren in Formation vorzugeben. Spuren von der Herkunft der Popmusik aus dem militärischen Kontext konserviert das Stück »Unknown Soldier« von der Band The Doors. Innerhalb des Songs gibt es eine Unterbrechung. In einer Art Hörspiel hört man, wie eine Snare-Drum einen Marschrhythmus schlägt. Dazu ertönt das heisere Bellen eines Obersts, der mehrmals von eins bis vier zählt und anschließend den Schussbefehl für die Exekution des titelgebenden »Unknown Soldier« gibt.

Den Schlachtruf der Ramones übernimmt in der Folge die Punkmusik, die damit ebenfalls an den militärischen Ursprung der Popmusik anknüpft. Die oft militant auftretende Punkbewegung kämpft als Teil der Gegenkultur nun gerade nicht auf Seiten des Staates, sondern gegen ihn. Bezeichnenderweise beginnt der The Clash-Song »White Riot« mit einem militärischen »one, two, three, four« – als wolle der Sänger Joe Strummer die Gruppe auf Linie bringen, bevor sie sich in den im Song herbeigewünschten Aufstand stürzt.

Das Einzählen fügt sich besonders gut in die schnoddrige Ästhetik des Punk. Selbst bei einer sauberen Studioaufnahme, so suggeriert es das Einzählen, spart man sich die Mühe, das Tonband nachträglich zu bearbeiten. Die Aufnahmen machen so einen ähnlich verwahrlosten Eindruck wie die Punkmode. Den mit dem Einzählen einhergehenden Affront scheint die britische Band Wire auf dem letzten Song ihre Debütalbums Pink Flag von 1977 zu explizieren, er lautet: »1 2 X U«. Der Song beginnt mit der Ankündigung: »Allright, here it is again and it’s called: 1 2 X U!«, wobei unschwer zu erkennen ist, dass das »X« ein Platzhalter für das Wort »fuck« ist.

Es erscheint allerdings widersprüchlich, dass sich eine Punk-Band davor scheut, das Wort »fuck« in den Mund zu nehmen. Durch die Selbstzensur wirkt die großspurige Ansage schon fast wieder zurückhaltend. Betrachtet man den Text, wird deutlich, dass das mit dem Platzhalter »X« markierte Tabu an einer anderen Stelle liegt. Der Text verwendet im Schwulenmilieu der Zeit verbreiteten Slang und berichtet von der Annäherung zweier Männer auf einer Herrentoilette. Damit bricht die Gruppe ein Tabu der frühen englischen Punkszene, die im Gegensatz zu ihren Vorgänger_innen aus New York immer wieder durch Homophobie auffällt. In dem Song »New York« beschimpft etwa der Sänger der Band The Sex Pistols die New Yorker Musikszene als »poor little faggots«. Auf diese Titulierung reagierte Johnny Thunders mit einer Gegenattacke. Er fühlte sich persönlich angesprochen, da er Anfang der 1970er Jahre Mitglied der Protopunkband The New York Dolls war. In ihrer Frühzeit traten sie als Drag Queens auf.

Mit dem Song »1 2 X U« wendet sich die Band Wire von der in der britischen Punkszene verbreiteten Homophobie ab. Das verschlüsselte »fuck you« scheint sich also an die Szene selbst zu wenden, mit deren Tabus der Song bricht. Hierzu passt, dass auf dem dazugehörigen Albumcover stolz eine pinke Fahne prangt. Mit dem Einzählen auf »1 2 X U« löst sich Wire von dem Machismus der frühen Punkbewegung und leitet die Phase des Postpunks ein. Dieser legt den Dogmatismus und die Militanz des frühen Punks ab, behält aber dessen befreienden Aspekte bei.

 

Einzählen und Geld zählen

In dem Beatles Stück »Taxman« klagt George Harrison über die Zumutung, als reich gewordener Rockstar Steuern zahlen zu müssen. In der für ihn typischen satirischen Manier listet er im Text die überzogenen Ansprüche auf, die der Staat an ihn stellt: »There’s one for you, nineteen for me«, »Should five percent appear to small, be thankful I don’t take it all«. Auf die Rechenspiele des Textes bereitet uns der Beginn des Songs bereits gut vor: Wir hören George Harrison erst bis vier und dann bis zwei zählen.

Der Text stellt einen Bezug zwischen dem Einzählen in der Popmusik und Geld her, denn diese bewegt sich immer in einem kommerziellen Umfeld. Nicht ohne Grund stammt einer der berühmtesten Einzähler der Musikgeschichte von James Brown, dem selbsternannten »hardest working man in showbusiness«. Zu Beginn des Songs »Get Up I Feel Like Being A Sex Machine (Pt. 1)« hören wir ihn im Kreis seiner Bandkollegen verkünden: »Fellas, I’m ready to get up and do my thing. I wanna get into it, man, you know. Like a, like a sex machine, man. Movin’ an doin’ it, you know.« Nach dieser Gefühlsbekundung bittet er darum, einzählen zu dürfen: »Can I count it off?« Die Bitte wird ihm gewährt und es folgt ein »One, two, three, four!« Zwar besitzt James Brown noch die Höflichkeit, sich die Erlaubnis zum Einzählen einzuholen. Allerdings unterstreicht das nur, dass James Brown der unangefochtene Bandleader ist, der den Ton vorgibt.

James Brown ist dafür bekannt, dass er seine Band, die J.B.’s, mit der eisernen Disziplin eines Fabrikbesitzers des 19. Jahrhunderts geleitet haben soll. Diese Anekdote verweist auf einen weiteren Ursprung der Popmusik, der in der afroamerikanischen Kultur liegt. Der durchgängige Rhythmus der Popmusik geht auch auf die Praxis zurück, bei der Arbeit unter ausbeuterischen Bedingungen die regelmäßig auszuführenden Schritte durch das Singen von Liedern zu begleiten. Um der Monotonie des Zählens zu entkommen, wird es in rhythmisierte Sprachformeln übertragen. Beispiele hierfür haben sich etwa in Leadbellys »Pick a Bale of Cotton« oder Sam Cookes »Chain Gang« erhalten.

James Browns Arbeitsethos erklärt sich daraus, dass eine Karriere als Popmusiker_in ein Weg ist, um den ausbeuterischen Verhältnissen zu entkommen und zu Reichtum zu gelangen. Seine Arbeitsmoral ist also eine Form der Selbstermächtigung. Es ist von daher nur stimmig, dass Brown den Slogan »Say It Loud – I’m Black and Proud« geprägt hat. Hieran knüpft die Rap-Musik an, in der die Musik James Browns in der Form von Samples omnipräsent ist. Vor diesem Hintergrund wohnt dem oft kritisch beäugten Materialismus im Hip-Hop ein emanzipatorisches Potential inne. Er demonstriert, dass es den Künstler_innen gelungen ist, die strukturellen Ungleichheiten einer rassistischen Gesellschaft zu sprengen. Dies manifestiert sich im ständigen Geldzählen innerhalb von Hip-Hop-Tracks. Eine solche Inventur des eigenen Reichtums findet sich etwa im Track »Bank Account« von 21 Savage. Immer wieder lässt er uns wissen: »I’ve got one, two, three, four, five, six, seven, eight M’s in my bank account, in my bank account.«

 

Zählen und Erzählen

Der New Yorker Musiker Jonathan Richman ist für sein komödiantisches Talent bekannt. Dieses beweist er bereits in einem seiner ersten Songs, den er mit der Gruppe The Modern Lovers im Jahr 1976 veröffentlicht hat. Der Song »Roadrunner« beginnt mit einem Einzählen, bleibt aber nicht bei der vier stehen, sondern zählt weiter bis zur sechs. Der Song selbst ist im konventionellen Viervierteltakt gehalten. Das Zählen bis zur sechs mokiert sich über das Einzählen, nimmt aber auch das Thema des Liedes vorweg. In ihm fährt die Erzählinstanz »with the radio on« durch das nächtliche Massachusetts – sobald der Motor einmal gestartet ist, gibt es keinen Halt mehr.

Der Einstieg macht auf das spielerische Moment aufmerksam, das dem Einzählen zukommt. Dieses findet sich auch in dem T-Rex Song »Lean Woman Blues«. Der Sänger Marc Bolan, der in seinen von Hipster-Slang durchzogenen Texten meist ein surreales Sprachbild auf das nächste folgen lässt, zählt dort: »One n’ two and buckle my shoe«. Das Einzählen verweist auf die Nähe von Popmusik zu Kinder- und Abzählreimen. Zutage tritt dies etwa in dem nervtötenden Beatles-Song »All together now«, der mit den Zeilen beginnt: »One, two, three, four, can I have a little more? / Five, six, seven, eight, nine, ten, I love you.«

Das Übergehen des Einzählens in die Songtexte selbst verdeutlicht, dass der Popmusik das Zählen als Form zugrunde liegt. Besonders deutlich wird dies am frühen Rock ’n’ Roll. Das Einzählen scheint dort noch nicht zugelassen zu sein und wenn, dann nur in der verschlüsselten Form eines »A wop bop a loo bop a lop bam boom«, wie es sich in Little Richards »Tutti Frutti« bewundern lässt. Stattdessen bestimmt das Zählen die Songtexte selbst. Carl Perkins »Blue Suede Shoes« beginnt mit »Well, it’s one for the money, two for the show / Three to get ready, now go, cat, go« und »Rock Around the Clock« von Bill Haley & His Comets startet mit »One, Two, Three O’ clock, Four o’ clock, rock«. Wie in der rhetorischen Figur der enumeratio folgt in der Popmusik aus dem Zählen ein Erzählen. Im Höhepunkt des Songs »Kiss Off« der Gruppe Violent Femmes findet sich eine numerische Aufzählung an Vorwürfen, die zugleich vom eigenen Leiden am Ende einer Beziehung erzählt: »I take one, one, one cause you left me / And two, two, two for my family / And three, three, three for my heartache / And four, four, four for my headache / And five, five, five for my loneliness / And six, six, six for my sorrow / And seven, seven, seven, no tomorrow / And eight, eight, I forget what eight was for / And nine, nine, nine for a lost god / And ten, ten, ten, ten, ten, for everything, everything, everything.«

In der rhetorischen Tradition erfüllt die Aufzählung außerdem den Zweck der memoria, also der Erinnerung an das Vorzutragende. Diese Funktion kommt vor allem bei eher improvisierten Songtexten zum Einsatz, wie sie für den Hip-Hop bezeichnend sind. Dort wird nur noch selten eingezählt, dafür aber umso mehr gezählt. Bereits auf der ersten kommerziellen Hip-Hop-Aufnahme, dem Track »Rapper’s Delight« der Sugarhill Gang, kommt das Zählen zum Einsatz. In seinem Part wendet sich der MC Master Gee an das Publikum mit einem »One, two, three, four, come on, girls, a get on the floor« und überreicht das Mikrofon an sein Crew-Mitglied mit den Worten: »One, two, three, four, tell me Wonder Mike what are you waiting for?«

Indem der Hip-Hop das Zählen vom Einzählen trennt und in das Zentrum seiner Texte stellt, richtet er die Aufmerksamkeit auf die Materialität der Sprache, wie es sich auch in seinem ständigen Buchstabieren von Eigennamen manifestiert. Die Materialität von Zahlen betont bereits das Kraftwerk-Stück »Nummern«. Dessen gesamter Text besteht aus dem Zählen in unterschiedlichen Sprachen und wird von einer Computerstimme vorgetragen. Diesen Faden greifen Hip-Hop-DJs auf. Eine Vielzahl der Mixes des legendären DJ-Duos Steinski konstituiert sich aus Zahlen. Die Hip-Hop-Crew De La Soul, die ein Faible für die magische Zahl »three« hat, sampelt dann wiederum die Zahlen aus den Steinski-Mixes und DJ Shadow zollt dem Duo in »The Number Song« Tribut.

Die Begeisterung für die eigene Schönheit von Zahlen setzt sich bis in die Gegenwart fort. Die meisten Texte der Gesangsdarbietungen des vietnamesischen TikTok-Stars Soytiet bestehen ausschließlich aus Zahlen, die er mit großem Pathos vorzutragen weiß. Die spanische Musikerin Rosalía lässt Soytiet die Ehre zukommen, ihren Song »CUUUUuuuuuute« einzuzählen. Das Einzählen stellt Jonathan Richmans »Roadrunner« in den Schatten, es reicht von »one« bis »twenty-one«. Damit erinnert es an das Abzählen beim Versteckspiel von Kindern und erfüllt die im Refrain immer wieder skandierte Aufforderung: »Keep it cute, manito, keep it cute!«

 

Pop & Tod

Das 2005 erschienene Album I’m Wide Awake It’s Morning der Gruppe Bright Eyes beginnt mit der Erzählung eines Flugzeugabsturzes. Als Connor Oberst, der Sänger der Band, an der Stelle anlangt, an der die Maschine aussetzt und sich das Flugzeug im freien Fall befindet, beginnt er auf den abgedämpften Saiten seiner Akustikgitarre einen Rhythmus zu schlagen, dem ein Einzählen – »one, two, one, two, three, four« – und der Einsatz der Band folgt. Die Erzählung geht in einen Song über, wobei das Einzählen die Schwelle zwischen den beiden Bereichen markiert.

Das Einzählen gleicht hier einem verkehrten Countdown: Es wird nicht von oben nach unten gezählt und es soll auch nicht das Zeichen für den Start einer Rakete geben. Stattdessen begleitet es den Absturz eines Flugzeugs. Ein Countdown in der Popmusik – nun in der richtigen Reihenfolge –, auf den ebenfalls der Tod folgt, findet sich in dem Song »Space Oddity« – dem ersten größeren Erfolg des Sängers David Bowie. Der Countdown ereignet sich nicht zu Beginn des Songs, sondern in dessen Mitte. Daraufhin wird die Erzählinstanz Major Tom ins All geschossen. Nur kurz darauf bricht die Verbindung zur Raumstation ab und Major Tom geht in den Tiefen des Weltalls verloren.

Der Song lässt sich als Reflexion über Ruhm in der Popmusik lesen. Das Schaffen eines den eigenen Tod überdauernden Musikstücks konfrontiert einen mit der Sterblichkeit. Diese Thematik verfolgt David Bowie bis zu seinem letzten Album Blackstar, das kurz vor seinem Tod erschien. Im Musikvideo zu dem Song »Lazarus« konnte man ihn sehen, wie er in einem Krankenhausbett liegt und singt »Look up here, I’m in heaven.« Dadurch stellte sich der gespenstische Eindruck ein, dass er zu uns aus dem Jenseits spricht und – wie der Namensgeber des Songs – ewig weiterlebt.

In der Popwelt sind Ruhm und Tod besonders eng miteinander verschränkt. Der frühe Tod ist – einem Klischee entsprechend – geradezu Voraussetzung für Ruhm. Hiervon zeugt der nach der Zahl 27 benannte Club, der unsterblich gewordene Musiker_innen versammelt, die in diesem Alter gestorben sind. Im CD-Spieler von einem der Mitglieder dieses Clubs, Kurt Cobain, soll sich nach seinem Selbstmord das Album Automatic for the People von der Gruppe R.E.M. befunden haben. Mit diesem Album hat die Band selbst ihren Ruhm begründet. Zu Beginn hört man ein Einzählen, das die hochkonzentrierte Stimmung der Gruppe wiedergibt, bevor sie damit startet, an ihrem Nachruhm zu arbeiten. Das Einzählen stimmt uns zugleich auf die vorherrschenden Themen des Albums ein. Nicht nur wegen der Anekdote, dass Kurt Cobain das Album kurz vor seinem Tod gehört haben soll, haben die Stücke einen morbiden Charakter. Ein Großteil der Lieder handelt vom Tod.

Das Einzählen zu Beginn des Albums erinnert uns daran, dass unsere Tage gezählt sind; ist das Zählen doch ein Mittel, um die Zeit zu messen, die bereits in der Bildsprache des Barocks an die eigene Vergänglichkeit erinnert – man denke nur an die im barocken Stillleben omnipräsente Sanduhr oder die Totenuhren, auf denen zu jeder vollen Stunde der Sensenmann erscheint. Zeit spielt dann auch in dem auf das Einzählen folgenden Song »Drive« eine Rolle. Im Refrain wiederholt der Sänger der Band Michael Stipe immer wieder die Zeilen »Tick-tock, tick-tock«.

Das Einzählen als Nabel der Popmusik erinnert uns also auch an die Vergänglichkeit. Dies gilt bereits für den Nabel selbst, der sowohl ein Zeichen unserer Geburt als auch unserer Körperlichkeit ist. Dadurch gemahnt er uns an unsere eigene Sterblichkeit. Das Einzählen in der Popmusik lässt sich als memento mori begreifen. Dass uns angesichts der Kürze eines Popsongs aber auch die Fülle des Lebens vor Augen geführt werden kann, zeigt das Stück »Impossible Soul« des Musikers Sufjan Stevens. Es beschließt das Album Age of Adz und hat eine Spieldauer von 25 Minuten. Ab der Mitte des Songs zählt ein Chor von eins bis vier, woraufhin viermal der Ausruf erfolgt: »It’s a long life«.

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