Zu viel Energie
von Wolfgang Ullrich
19.12.2023

Erschöpfte Kulturkritik, hektisches Marketing

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 10-14]

Kaum eine Vokabel taucht im Marketing so häufig auf wie ›Energie‹. Es gibt nicht nur Energy-Drinks und Energie-Riegel, sondern von Mineralwässern über Joghurts bis hin zu Shampoos, Tees und CDs wird dem Konsumenten durchgängig suggeriert, er könne sich mit zusätzlicher Kraft und Power aufladen. Dabei sind einerseits Produktinszenierungen beliebt, die jede Leistung zu einem sportlichen Event verklären und mehr Energie für die nächsten Höchstleistungen versprechen; andererseits aber werden Designs geschätzt, durch die der Konsument sich als ausgepowert und erschöpft – und entsprechend energiebedürftig – erfahren soll. Wird er einmal zum Sieger und Helden erhoben, so ist ihm im anderen Fall das Mitleid sicher, das jemandem zukommt, der das Letzte gegeben hat und nun dringend der Regeneration bedarf. In der Summe konstituieren die Sieger- und Therapieplots ein Menschenbild, wonach der Einzelne das Potenzial für großartige Leistungen besitzt, zugleich aber von Überbeanspruchung bedroht ist. Damit bestätigt das Marketing sowohl die Vorstellung, das Individuum lebe in einer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft, als auch die Sorge, diese sei zu anstrengend und Ursache zahlreicher Schäden, die kompensiert werden müssten.

Die Art und Weise, in der fortwährend die Notwendigkeit von mehr Energie beschworen wird, versetzt also in Unruhe: Hat man sich vielleicht zu sehr verausgabt? Raubbau getrieben? Sich vernachlässigt? Hat man beim Umgang mit den eigenen Ressourcen gar Fehler gemacht? Je drängender sich diese Fragen stellen, desto anfälliger wird man für die Verheißungen der zahlreichen Energie-Produkte. Und so ergibt sich eine wechselseitige Rückwirkung: Erschöpfungsängste bestätigen ein Marketing, das mehr Energie verspricht, dies wiederum steigert die Bedenken, man könne ohne diese Energie gar nicht auskommen, ja stehe schon zumindest am Rande der Erschöpfung. Letztlich lindern die Produkte, die Energie und Power für sich reklamieren, die Sorge, überfordert zu sein, nicht nur nicht, sondern steigern sie sogar noch.

Damit aber ließe sich das Energie-Marketing sogar als begünstigender Faktor des Leidens identifizieren, das mehr als alle anderen die Schlagzeilen der letzten Zeit beherrscht: Burnout. Den Krankenkassen zufolge haben sich die therapiepflichtigen Fälle innerhalb eines knappen Jahrzehnts ungefähr verzehnfacht. Skeptiker sprechen von einer bloßen Mode- oder Statuskrankheit, die vor allem Popstars, Sportler und Manager betreffe – also Menschen, die damit nochmals beweisen wollten, wie viel sie leisten. Doch auch Modekrankheiten haben ihre Ursachen. Da es aber Stress, Konkurrenzsituationen, Multitasking oder Mobbing nicht erst seit zehn Jahren gibt, reicht es nicht hin, diese Phänomene für die Burnouts verantwortlich zu machen. Ob also nicht gerade die durch das Marketing erzeugten Ängste vor Erschöpfung und Ausgepowert-Sein bei vielen Menschen zu dem Gefühl beitragen, unter Energiearmut und Überbeanspruchung zu leiden?

Für das Marketing als Mitauslöser spricht, dass es sich innerhalb des letzten Jahrzehnts geändert hat. Zwar gab es auch davor schon Produkte, die mit »Energie« für sich warben, doch waren das Einzelfälle, beschränkt auf Artikel, bei denen klar war, dass damit entweder viele Kalorien oder Stimulanzien wie Koffein gemeint waren. Heute jedoch ist von Energie und Power auch bei Fahrradhelmen, Haargel oder Deos die Rede, also bei Produkttypen, bei denen nicht nachvollziehbar ist, auf welche Art die Zufuhr – ohne direkte Einwirkung auf den Stoffwechsel – stattfinden soll. Von Energie kann hier nur metaphorisch gesprochen werden – das aber umso häufiger.

Die Energie-Metapher ist so erfolgreich, weil sie klare innere Bilder weckt. Alles, was dem Konsumenten mehr Selbstvertrauen gibt oder auch nur ein Ungenügen behebt, wird als aufbauend empfunden und kurzum zum »Energieschub« verklärt. So etwa ein Shampoo, das »in seiner Struktur geschädigtes Haar« wieder aufbaut. Oder eine Sprühsahne mit Alkohol, die für gute Laune sorgen soll. So wird dem Konsumenten immer wieder suggeriert, gegen jedes Defizit gebe es ein Mittel, jeder Mangel sei reparabel, der Organismus also nichts anderes als eine Maschine, die nur mit den richtigen Stoffen versorgt werden müsse. Jedes vage Unwohlsein lässt sich dann als Ressourcenmangel und im Weiteren als Fehlen von Energie interpretieren; um den leeren Akku wieder aufzuladen, gibt es zahlreiche hochenergetische Getränke und Substanzen. Wenn es dennoch an Energie fehlt, zeugt das also von schlechtem Ressourcenmanagement. Und so darf sich, wer unter einem Burnout leidet, nicht nur als Opfer misslicher Umstände fühlen, sondern muss sich auch selbst die Schuld geben, nicht genügend gegen die innere Auszehrung getan zu haben.

Wie konstitutiv die Energie-Metapher für die menschliche Selbstwahrnehmung und für Krankheitsbilder ist, wird im historischen Vergleich deutlich. So wurden ähnliche Symptome des Unwohlseins am Ende des 19. sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz anders interpretiert. Damals deutete man Konzentrationsschwäche, Unruhe, Lethargie oder Dauermüdigkeit als Beleg dafür, dass der Körper für die moderne Arbeits- und Technikwelt generell nicht geschaffen sei. Statt dem einzelnen eine Mitschuld daran zu geben, erschöpft zu sein, erklärte man die negativen Symptome mit der veränderten ökologischen Nische des Menschen. Von Überreizung, Konkurrenzdruck und einer allgemeinen Beschleunigung des Lebenstempos war auch damals allenthalben die Rede, doch diagnostizierte man keine Burnouts, sondern Neurasthenien, folgte also einem anderen Bild. Die Nerven hielt man für überbeansprucht, ja machte sich Sorgen, die Sicherungen könnten durchbrennen, weil zu viel auf einmal durch die zarten Fasern und Bahnen geleitet werden müsse.

Diese Vorstellung war so verbreitet, dass Historiker rückblickend sogar vom »Zeitalter der Nervosität« sprechen. Joachim Radkau, der diesem Phänomen ein ganzes Buch widmete, bringt zahlreiche Belege für die Angst vor einer Überforderung der Nerven. So zitiert er auch aus einem medizinischen Artikel in der Zeitschrift eines Antilärmvereins, in dem das menschliche Nervensystem mit »den Blättern einer Zitterpappel« verglichen wird: »Wie diese durch den leisesten Lufthauch, so wird jenes schon durch die minimalsten, von außen kommenden Reize in Erregung versetzt. […] Und wie der Lufthauch zum Sturm werden und die Äste knicken, die Blätter mit sich reißen kann, so ist auch das Nervensystem der ganzen Staffel von den schwächsten bis zu den schwersten Erregungen unterworfen, wobei die Spuren eines solchen Nervensturmes auch nicht ausbleiben.«

Diese Metaphorik wurde natürlich ebenfalls schon für kommerzielle Interessen genutzt und so zugleich immer wieder bestätigt. So kam es etwa zu einem Boom an Wasserheilstätten und Kurhotels, von denen sich die Patienten eine Entspannung ihrer Nerven versprachen. Doch auch damals halfen all die Anwendungen und Produkte weniger, als sie viel eher die Sorge noch eigens bestätigten, überreizt und daher therapiebedürftig zu sein: Je wohlhabender jemand war und je mehr Geld er dafür ausgeben konnte, die eigenen Nerven zu entlasten, desto gefährdeter war er, eine Neurasthenie diagnostiziert zu bekommen.

Mochte ehedem die wichtiger werdende Elektrizitätstechnik die Vorstellung begünstigt haben, auch die Nerven seien so etwas wie Stromleiter und könnten entsprechend unter Überspannung leiden, so scheint heute die seit den 1970er Jahren verbreitete Angst vor sich erschöpfenden Rohstoffen wie Öl und Gas auf das Individuum übertragen zu werden. Nun ist jeder Einzelne von Energieknappheit bedroht.

Aber nicht nur das Marketing macht mit der Energie-Metapher große Umsätze. Auch Soziologen bedienen sich ihrer, um die Zustände der aktuellen Gesellschaft in möglichst plakativ-dramatischer Weise zu beschreiben. So kann man beim französischen Soziologen und Psychologen Alain Ehrenberg, dessen zuerst bereits 1998 erschienenes Buch »Das erschöpfte Selbst« mittlerweile als maßgebliche Analyse von Burnout-Syndrom und Depression gilt, nachlesen, der darunter Leidende »hat keine Energie und verharrt in einem Zustand des ›Nichts-ist-möglich‹«. Dies wird als Spätfolge der Emanzipationsbewegung der 1960er Jahre gedeutet, deren emphatisches Alles-ist-Möglich zu einer Überforderung geführt habe. Doch woraus die nötige Energie bestehen soll, ob und wie sie messbar ist, ja wie man auf sie Einfluss nehmen kann, blendet Ehrenberg aus. So durchgängig sein Buch sonst in Fachvokabular schwelgt und so skrupulös er sich hinsichtlich der Methoden seiner Argumentation immer wieder gibt, so wenig klärt er über seinen Begriff von Energie auf. Seine Formulierungen, wonach dem Erschöpften eine »Entfaltung seiner Energie« nicht mehr möglich sei, ja wonach »ihm die Energie und die Motivation fehlen«, unterscheiden sich somit kaum von Slogans des Marketing. So heißt es von einem Energy-Sirup, »bereits beim ersten Schluck entfaltet sich eine explosive Geschmacksintensität, die im Körper neue Energien freisetzt«. Und in der Werbung für ein »Motivations-Energie-Paket« – ein Audioprogramm der so genannten Brainwave-Technologie im MP3-Format – gibt man sich insofern sogar reflektierter als der Wissenschaftler, als man nach den üblichen kulturpessimistischen Behauptungen, wonach die Anforderungen »tagtäglich« wüchsen und man dem »Druck des Alltags gar nicht mehr standhalten« könne, immerhin die Frage stellt: »Hat Ihnen schon mal jemand zeigen können, WO Sie diese Energie anzapfen können? Wissen Sie, wie Sie genug Energie für Ihren Alltag auftanken können?«

Ein Theoretiker wie Ehrenberg erlangt Aufmerksamkeit also nicht anders als irgendein Produzent von Konsumartikeln. Die Verwendung griffiger Metaphern wirkt dabei in beiden Fällen gleichermaßen problematisch, wird damit doch gerade die Befindlichkeit gefördert, gegen die man offiziell vorgeht. Wer Ehrenberg liest, wird sich danach also genauso von Energiearmut bedroht sehen wie jemand, der von einem Werbetexter eingeredet bekommt, endlich mehr für seinen Energiehaushalt tun zu müssen. Zwar erkennt Ehrenberg, dass Antidepressiva eine Ursache für noch mehr Erschöpfung sein können, da sie erst für Formen der Überforderung sensibilisieren, doch bedenkt er nicht, wie sehr auch Konsumprodukte und Autoren wie er auf ähnliche Weise wirken.

Seit dem »Zeitalter der Nervosität« haben sich allerdings die Verhältnisse insofern gewandelt, als Konsumprodukte damals, anders als heute, nur eine untergeordnete Rolle bei der Interpretation und Intensivierung von Symptomen des Unwohlseins gespielt haben dürften. Maßgeblicher waren hingegen zahllose Traktate, Essays und Artikel, die das Leitbild des entfremdeten und ausgesetzten Menschen durchspielten, der den modernen Verhältnissen nicht gewachsen sei. So sehr die Nervosität also die Krankheit eines kulturkritischen Bildungsbürgertums war, so sehr ist der Burnout das Leiden einer konsumistischen Wohlstandsgesellschaft, in der die täglichen Botschaften der Produkte stärker wirken als die Äußerungen sämtlicher Intellektueller zusammen.

Hat man erst einmal erkannt, wie folgenreich Metaphern sind, ja wie sie sogar zur Ausprägung oder Verstärkung von Krankheiten führen können, sollte man strenger und vorsichtiger mit ihnen umgehen. So profitsteigernd etwa die Energie-Metapher für Unternehmen sein mag, so problematisch ist sie volkswirtschaftlich. Es genügt also nicht, nur Medikamente auf Nebenwirkungen hin zu untersuchen; vielmehr ist genauso eine unabhängige Prüfanstalt erforderlich, die sich mit Auswirkungen und Folgen bestimmter Metaphern befasst.

Als Vorbild für eine angemessene Analyse der Risiken und Nebenwirkungen von Metaphern könnte Susan Sontags Buch »Krankheit als Metapher« herangezogen werden, das in zwei Teilen 1977 und 1988 erschien. Ausgangspunkt dafür war Sontags Erfahrung, als Krebspatientin mehr als an der Krankheit selbst an Metaphern zu leiden, in denen der Krebs interpretiert wurde. Dass er etwa als Krankheit derer gilt, die »alles ›in sich hineinfressen‹ und alles unterdrücken«, die sich also eines mangelhaften Emotionsmanagements schuldig machen, verschlimmerte ihren Zustand nicht unerheblich. Und so wendet sie sich in ihrem Buch gegen die leichtfertig-einfache, oft auch nur schuldzuweisende Interpretation von Phänomenen mit Hilfe von Metaphern. Sie will damit »die Phantasie beruhigen, nicht sie aufreizen; nicht Bedeutung stiften, was sonst Ziel des Schreibens ist, sondern etwas seiner Bedeutung entkleiden«. Und ihr ist es wichtig, anderen Menschen »ein Instrument an die Hand [zu] geben, um die […] Metaphern zu durchschauen und […] Hemmschwellen abzubauen«. Genau dasselbe ist bezogen auf die Konsumwelt erforderlich. Die Inszenierungen des Marketing müssen ihrer Bedeutungen entkleidet werden; es braucht Instrumente, um die Gefahren zu erkennen, die in einzelnen Metaphern stecken.

 

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