Vom Leben der Non-Player-Characters in der Gegenwartsliteratur
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 23, Herbst 2023, S. 10-14]
In der »Süddeutschen Zeitung« schrieb Marie Schmidt in der Debatte über den neuen Midcult: »Selbst unter streng ästhetischen Gesichtspunkten müsste sich poetische Gerechtigkeit aber nicht an jedem einzelnen Nazi beweisen, der durchs Bild läuft«. Da möchte man zustimmen: Gerechtigkeit für Nazis kann unser vordringlichstes Ziel nicht sein. Aber was ist mit einem wie Peter Bender, dem Anhänger der parawissenschaftlichen Hohlwelttheorie in Clemens Setzʼ Roman »Monde vor der Landung«? Einem, der sehr wohl bemerkt, wie in den esoterischen Vereinigungen, denen er um 1930 angehört, zunehmend Nazis das Wort übernehmen und sich offizieller Grußbotschaften Hitlers erfreuen; einem, den es durchaus gruselt vor den Sätzen, die man neuerdings daherschnarrt (»Da haben Sie wohl ganz nah an der Erde gelacht, was?«, »Da haben Sie aber zu nah am Feind geweint, was?«), Sätze, »als wären einige deutsche Wörter in ihnen wahnsinnig geworden« (»Schinkenkloppe«, »die Spendierhosen anhaben« oder »Ringelpiez mit Anfassen«. »Narrenbütt, Grütze, Narhallamarsch. Turnwart. Pferdefranz, ein Schuss Humor. Ein klarer Fall von Denkste«) – und der doch mitläuft? Wenn seine als Jüdin verfolgte Frau ihre Verzweiflung äußert, bringt er kaum mehr hervor als ein »Na, na«; denn er wäre ja so gern selbst bedeutend, einer von denen, die an der Macht sind. Am Schluss zeichnet er wirre Diagramme über das Verhältnis der Geschlechter, die allesamt Hakenkreuzform annehmen.
Poetische Gerechtigkeit für »Querdenkertum und alternative Wahrheiten«, wie sie die U4 des Suhrkamp-Buches annonciert? Setz wird seither kaum mehr nach anderem gefragt als nach seiner Einstellung zur Querdenkerei von heute. Dabei ist das Projekt ein anderes. Man könnte es mit dem Titel von Setzʼ erster Frankfurter Poetikvorlesung vom Sommer 2023 »Das Leben der NPCs« nennen: Non-Player-Characters Leben einzuhauchen, Nebenfiguren, die im Storymodus von Computerspielen nur als »Ornament«, »Hindernis« oder bloße »Funktion« in der Landschaft herumstehen. »Als literarischer Erzähler« habe man »die Verpflichtung, an nichts so sehr zu arbeiten wie an: ›Beseelung‹. Keine Nebenfiguren mehr; es ist nicht mehr die richtige Epoche für sie«.
Sollen literarische Figuren mehr sein als moralische Pappkameraden, brauchen sie ästhetisches Spiel, und das zahlt sich letztlich auch im Ethischen aus. Die Genialität der Gerechtigkeit, so Nietzsche in »Menschliches, Allzumenschliches« (Aphorismus 636), »ist eine Gegnerin der Überzeugungen, denn sie will jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – […] sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum«. Zu rezipieren wäre das dann mit einer »Goldschmiedekunst und ‑kennerschaft des Wortes, die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat« und die Dinge in suspenso hält, statt sich zu ereifern. Das wäre »mitten in einem Zeitalter der ›Arbeit‹, […] der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich ›fertig werden‹ will« (»Morgenröte«; Vorrede 5), die Aufgabe des Ästhetischen.
»Moralisch im Recht zu sein oder auch nur sich zu wähnen, macht so dumm, das ist immer das Problem« – so der autofiktionale Held von Benjamin von Stuckrad-Barres neuem Roman »Noch wach«. Wir erinnern uns: Der Leak von Matthias Döpfners privaten SMS über »die Ossis« durch das Holtzbrinck-Wochenmagazin »Die Zeit« just eine Woche vor dem Erscheinen des Romans bei KiWi (huch, auch Holtzbrinck). Resultat: sagenhafte 100.000 Exemplare verkauft, und der Autor entertainert seither zu überteuerten Eintrittspreisen durch gleichwohl volle Hallen, als Popstar, der er schon immer sein wollte. Mit seinem Springer-Reichelt-MeToo-Buch nobilitiere er sich doch nur selbst, meint Miriam Zeh im Deutschlandfunk, und versuche sich moralisch weißzuwaschen, Döpfners Hofschranze und hochbezahlte Springer-Edelfeder, die er selbst lange gewesen ist. Als »großes moralisches Rührstück« geht Iris Radisch – ihrerseits in der »Zeit« – den Roman an, als einen Etikettenschwindel, gehe es in ihm doch »ausschließlich um Männer. Um Günstlingswirtschaft, um Männerkämpfe, um Männerrache, um Männerliebe« – und »im maximal Popstahlgewitter-gestählten-Stuckrad-Barre-Sound« werde den eigentlichen MeToo-Opfern die Stimme geraubt, würden sie degradiert zu »Pop-Trullen« (ihre Worte).
Kerstin Grether, Initiatorin der Prä-Me-Too-Bewegung Slutwalk (von Radisch mit verlässlichem »Anti-Pop-Reflex« zur »Ulkveranstaltung« erklärt) und Autorin des ersten MeToo-Romans in der deutschen Literatur, »An einem Tag für rote Schuhe« (2014), sieht das anders. Ist es wirklich klug, fragt sie, ist es produktiv, »dass sie alle immer wieder nur diesen EINEN Punkt gemacht haben, dass ein MANN über ein Thema geschrieben hat, von dem FRAUEN betroffen sind«? Wo das doch eigentlich nur Sinn mache: »Mächtige Männer, die ihre Seilschaften zu solchen Männern in Power in Frage stellen, die sich in dieser Vergewaltigungskultur scheußlich und missbräuchlich verhalten«.
Für das ästhetische Spiel, die Beseelung der Charaktere und der Prosa erscheint es als durchaus produktiv, dass Stuckrad-Barres Sprecherposition nicht in cleanem Rechthaben einrastet, dort gar nicht einrasten kann. Denn natürlich ist das eine Bromance, dieses Verhältnis zu Matthias Döpfner, Arm in Arm in einem Oberengadiner Hotelbett einen italienischen Film schauen, dabei »wahnsinnig viel Schokolade« essen und einschlafen, »komplett bekleidet«, und »versehentlich das ganze Bett« voll Schokolade schmieren, was für ein Bild für die homosoziale Emphase und das gleichzeitig Verschwiemelte dieser Beziehung! Und die Attacken gegen den »Bild«-Chefredakteur Julian Reichelt sind unverkennbar auch von Eifersucht getrieben, ist dieser widerliche Typ doch von niemand anderem angeheuert worden als dem Männerfreund – und dann steigt Sophia, Stuckrad-Barres female buddy, mit dem auch noch ein zweites Mal ins Bett. Dieses Jungs-Ding, das war es bei Stuckrad-Barre doch schon immer, Tristesse Royale, Udo Lindenberg und Helmut Dietl in »Panikherz«.
So ganz und gar »austherapiert« (Dirk Knipphals) wirkt das nicht – aber ist das nicht gerade das Gute? Dass dieser Text weiß, was er da tut, in einer Welt, in der niemand als Döpfner selbst ihm »CARTE BLANCHE« gibt (»Mach was über #MeToo! Ist mein voller Ernst. Kann auch gerne wehtun. Muss es sogar! Wir wollen ja besser werden, lernen. Das kann ein absolutes LEUCHTTURMPROJEKT werden, ein MILESTONE. Das wäre doch geil, überleg mal – ein humorvoller #MeToo-Spot. Wirklich zeigen, dass wir da führend sind.«)? Sophia wiederum fasst die ersten Presseberichte über die Sache als »eine männerige Männergeschichte« zusammen. Da wird zweifelsohne nah am Feind geweint, und das Ethische bleibt notgedrungen in suspenso. Wollte man dagegen diese Bros und Buddys aus moralisch überlegener Position eifernd zu Non-player-Pappkameraden mit immer schon fertig gescripteter Agency machen – wäre damit jemandem gedient auf dem Feld der Literatur?
Maximal dringlich als ethisch-erzieherisches, man könnte schon sagen: didaktisches Projekt hat Laura Leupi dieses Jahr in Klagenfurt ihr »Alphabet der sexualisierten Gewalt« ausgerichtet. »A steht für Angst, die uns anerzogen wird: Angst vor dem öffentlichen Raum, Angst vor Sex, Angst vor der Nacht, Angst vor dem Fremden, Angst vor der Angst. Die Angst verweist uns zurück an den Herd und den Mann ans Gewehr.« Hier scheint es keinen Raum mehr für ästhetisches Spiel zu geben. Und doch eröffnet gerade der heilige Ernst, mit dem das Thema angegangen wird, den literarischen Raum der Ambiguität. Es ist ja an keiner Stelle eindeutig, ob diese Angst zwangsläufig, berechtigt, real, gewollt, produktiv oder ganz falsch ist, ob Angst oder Missbrauch oder Vergewaltigung überhaupt die richtigen Begriffe sind; und es ist auch nicht eindeutig zu machen, so wenig wie die individuelle Gewalterfahrung, um die der Text kreist, der bekannten »Storyline im ›rape script‹« oder der juristischen Definition von Vergewaltigung entspricht. Leupis listenförmig-alphabetische Ordnung verhindert die typisch perspektivische Einteilung in Handelnde und die Kulisse der Non-player, den topischen Fokus auf arme Opfer und böse Täter, die eine gerechte Strafe ereilen möge. »Und dabei sind es gerade Gefängnisse, in denen Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind.« Die Identifikation mit der guten Seite, jede wir/die-Einteilung wird uns dadurch nicht nur erschwert, sie wird aktiv zerschossen: »Lassen Sie mich Ihr Bild zerstören: Ich scheisse auf Ihren Beschützer*inneninstinkt. Ich scheisse auf Ihr Mitleid. Ich scheisse sogar auf Ihre Empörung und Ihre Wut. Das Eingeständnis meiner Ohnmacht ist in Ihren Händen nicht sicher aufgehoben.« Das ist im Grenzbereich des Ästhetischen doch eine genuin ästhetische Strategie und unterscheidet sich wohltuend von all den autofiktionalen Texten, die immer noch im Starren auf Krankenhausbetten, der Schinkenkloppe der jeweils anderen und den Generationstraumata von anno dunnemal ihr Sinnzentrum suchen.
Die beiden befreiend-großartigen Dinge mit Pop-Anmutung, die der Bachmann-Wettbewerb dieses Jahr zu bieten hatte, der Blick der Maus am Schreibtisch im Porträtfilm von Andreas Stichmann und Mario Wurmitzers Text »Das Tiny House ist abgebrannt«, wurden einmal mehr von der Jury als zu leicht befunden und gingen ohne Preis aus. Mit Wurmitzer zu sprechen: »Niemand will die Lasagne essen, die ich gekocht habe. In Wallensteins Tod schreibt Friedrich Schiller: Da steh ich, ein entlaubter Stamm!«
Andererseits treibt die Bildlichkeit der ob ihrer Pop-Anmutung Geschmähten aber auch die schönsten Blüten oder vielmehr Tentakel. Wo wir im Stapel der Neuerscheinungen normalerweise auf die nächste Familiengeschichte treffen, und dann auf noch eine, da erzählt Luca Kiesers Romandebut »Weil da war etwas im Wasser« stattdessen aus der Perspektive der acht Fangarme eines Riesenkalmars. »Wie sah ein Traum aus von etwas, das kein Mensch war«? lautet die interessante Frage. Auf diese Weise generiert der Text sein von Donna Haraways tentakulärem Denken inspiriertes Erzählen aus der Spiralform des Kalmars, bei dem sich Saugnäpfe »um den Arm herum« winden. »Genauso die Zähne, selbst sein Gehirn windet sich um seine Speiseröhre«: »Das Sich-Winden ist bei ihnen so grundlegend wie bei uns das Rückgrat. An diesen Tieren ist deshalb ziemlich alles spiralisch«.
Und dann geschehen auch noch Zeichen und Wunder. Leif Randt, mit seinen bisher vier Romanen prägender Autor der letzten Jahre, hat tatsächlich den Hölderlinpreis 2023 bekommen! In seiner Dankesrede wagt er die Umschrift eines Vierzeilers des sehr späten Hölderlin, der mit den notorischen Worten endet: »Ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.« Bei Randt lauten die vier Zeilen so: »Das Angenehme dieser Welt hab ich gesehen, / schreiben, reisen, feiern — kann es so weitergehen? / Auf den Frühling folgt der Sommer folgt der Flug auf die Kanaren, /
Schwermut, Trauer, Depression — das alles werde ich mir sparen.« Antizyklischer kann man derzeit in der deutschen Literatur kaum auftreten, aber da ist sie, die Aufgabe des Ästhetischen: fertig gescriptete agency vermeiden, in suspenso halten, öffnen.
Literatur
Grether, Kerstin: An einem Tag für rote Schuhe. Mainz 2014.
Grether, Kerstin: Manic Mittwoch pt. 27: Nicht wach? Der Stuckrad-Barre Roman und seine Rezeption, https://www.ichbraucheeinegenie.de/2023/05/28/stuckrad-roman-und-rezeption/.
Haraway, Donna: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt am Main/New York 2018.
Kieser, Luca: Weil da war etwas im Wasser. Wien 2023.
Leupi, Laura: Das Alphabet der sexualisierten Gewalt, https://files.orf.at/vietnam2/files/bachmannpreis/202319/975404_fh_laura_leupi_das_alphabet_der_sexualisierten_gewalt_975404.pdf.
Randt, Leif: Frühling, finally – Hölderlin-Dank am 4. Juni [2023, Bad Homburg]. (Manuskript).
Setz, Clemens: Monde vor der Landung. Berlin 2023.
Setz, Clemens: Mysterien. Frankfurter Poetikvorlesungen (Manuskript). Auch auf der Homepage der Frankfurter Poetikvorlesungen: https://www.uni-frankfurt.de/45662348/Frankfurter_Poetikvorlesungen_im_Winter_2021_22.
Stuckrad-Barre, Benjamin von: Noch wach? Köln 2023.
Wurmitzer, Mario: Das Tiny House ist abgebrannt, https://files.orf.at/vietnam2/files/bachmannpreis/202319/975418_fh_mario_wurmitzer_das_tiny_house_ist_abgebrannt_975418.pdf.