Madonna auf Deutschlandtournee
von Gregor Schuhen
28.11.2023

Zwischen Geisterbeschwörung und Wiedergeburt

Nach Madonnas Auftritt beim Eurovision Song Contest in Tel Aviv im Mai 2019 war sich die Presse und Weltöffentlichkeit einig: Das Ende der Queen of Pop schien unmittelbar bevorstehend, die Rede war von einem „Desaster“ („Rolling Stone“), von einem „Tiefpunkt“ („Tagesspiegel“, „Spiegel“) und einer „Peinlich-Aktion“ („TZ“).

Was war geschehen? Der vor allem von der queeren ESC-Community herbeigefieberte Auftritt der Sängerin begann mit einem ihrer größten Hits, „Like A Prayer“, einem Song also, den sie bereits unzählige Male bei ihren Welttourneen zum Besten gegeben hatte. Sicheres Terrain, hätte man meinen können. Doch schon beim ikonischen Intro „Life is a mistery…“ traf Madonna keinen Ton, außerdem hatte sie ganz offenkundig massive Schwierigkeiten, die Showtreppe halbwegs anmutig hinabzusteigen.

Überraschend genug, hatte man doch im Laufe ihrer langjährigen Karriere immer den Eindruck, als gehöre die große Show zu ihrem natürlichen Habitat. Wer kennt nicht ihre bis aufs Kleinste durchchoreografierten Performances? Die sich im Hochzeitskleid räkelnde Jungfrau oder die mit Fächern jonglierende Marie Antoinette bei den MTV Awards oder gar den Kuss mit Britney Spears? Die gekreuzigte Schmerzensfrau am Discokugel-Kruzifix oder der Masturbationsmarathon auf dem roten Samtbett? Wann immer Madonna auftrat, war ihr größtmögliche Aufmerksamkeit sicher, da wohlkalkulierte Tabubrüche stets zu ihrem Markenzeichen gehörten. Die Aufmerksamkeit war ihr auch in Tel Aviv sicher, aber dieses Mal wurde ein Millionen-Publikum Zeuge der öffentlichen Selbst-Demontage einer der wohl größten Ikonen der Popkultur.

Im selben Jahr veröffentlichte Madonna ihr bislang letztes Studio-Album Madame X und präsentierte sich wie so oft in einem neuen Look, der nun im Wesentlichen aus einer Augenklappe mit silbernem X bestand. Hatte sie es bis dato mit ihren zahlreichen Neu-Erfindungen geschafft, neue Trends zu setzen, so erntete sie mit diesem Accessoire vor allem Spott und Häme. Olaf Scholz wusste schon, warum er sarkastischen Memes auf ungewohnt selbstironische Weise vorausgriff, als er sich selbst gezwungenermaßen in diesem Jahr mit einer Augenbinde der Öffentlichkeit präsentieren musste.

Madonna wiederum beharrte bei sämtlichen Promotion-Auftritten auf ihrem bizarren Piratenlook. Hinzu kamen im Folgenden Auftritte in jugendlicher Hip-Hop-Kleidung, neue Nacktaufnahmen und Instagram-Fotos, auf denen ihre Lippen immer voluminöser wurden und das Gesicht kaum noch wiederzuerkennen war. Auf Kritik an ihrem stark veränderten Aussehen reagierte die Sängerin mit Ageism-Vorwürfen. Damit hatte sie tatsächlich ein neues Thema gesetzt, das insbesondere in der heutigen Zeit vor allem im öffentlichen Umgang mit weiblichen Prominenten immer mehr an Virulenz gewinnt.

Im Januar kündigte Madonna dann schließlich an, erneut auf Welttournee gehen zu wollen, und zwar erstmalig mit ihren größten Hits: Four Decades – The Celebration-Tour. Allein bei dem Titel verschlägt es einem den Atem. Ja, bereits im Jahr 1983 feierte Madonna mit der Single „Everybody“ ihren ersten, noch bescheidenen Charts-Erfolg – alles, was danach kam, ist seither bestens dokumentierte Popgeschichte. Madonna, das sind vierzig Jahre gelebte Popkultur mit allen Höhen und Tiefen, meistens mit Höhen: das Punkmädchen mit freiem Bauchnabel und Kruzifixen, die Gotteslästerin, die es sich mit dem Papst verscherzte, die SM-Domina, der Evita-Klon, die esoterische Henna-Göttin, das Cowgirl, die Aerobic-Queen. Obwohl Sängerin im Hauptberuf, war Madonnas Geheimrezept doch stets die visuelle Revolution – ihre Medien waren MTV und der Live-Auftritt. Stimmliche Defizite machte sie durch permanente Style-Wechsel wett, durch bis dato unerhörtes Empowerment, das sich vor allem an junge Frauen und die queere Szene richtete. Sie kopierte Marylin, Marlene und Maria und galt lange Zeit als die fleischgewordene und perfekte Verkörperung postmoderner Zitierpraxis.

Man durfte also gespannt sein, wie sich Madonna nach einigen kommerziellen und persönlichen Krisen der Öffentlichkeit präsentieren würde – insbesondere nach schweren gesundheitlichen Problemen im Sommer dieses Jahres, als sie nach einer bakteriellen Infektion fünf Tage im Koma gelegen hatte und die US-Termine ihrer Tournee auf nächstes Jahr verschieben musste.

Das Eröffnungskonzert der Celebrations-Tour fand am 14. Oktober 2023 in London statt – viele ihrer Fans hatten bis zum Auftakt die Befürchtung, dass doch noch irgendetwas dazwischenkommen würde, zumal sie schon während ihrer letzten Madame X-Tournee einige Auftritte gesundheitsbedingt absagen musste. Doch dieses Mal erschien sie, und das anschließende Presseecho war erstaunlich gut, ja geradezu hymnisch. Der „Guardian“ stellte fest, dass ihre „star power“ trotz einer technischen Panne zu Beginn des Auftritts immer noch da sei und der gemeinsame Gang durch ihre Karriere nicht nur gelebte Popgeschichte, sondern Popmythologie gewesen sei. „Variety“ schwärmt, dass Madonna mit ihrer Performance bewiesen habe, dass sie immer noch die „Reigning Queen of Pop“ sei. Von den einschlägigen Fanforen auf Social Media gingen regelrechte Tsunamis der kollektiven Begeisterung aus.

All diese Vorschusslorbeeren machten die Erwartungen an ihre Deutschland-Auftritte nur noch umso höher, von denen die beiden ersten am 15. und 16. November in Köln stattfanden. Zu den allbekannten Markenzeichen von Madonnas Auftritten gehörte seit jeher nicht nur das Spektakuläre und Provozierende, sondern auch die Verspätung. Diesem Image blieb sie auch dieses Mal treu, indem sie ihre Show nicht wie angekündigt um 20:30 Uhr begann, sondern um kurz nach zehn. Doch nicht sie persönlich eröffnete den Abend, sondern die durch die Sendung Ru Paul’s Drag Race bekannte schwarze Performance-Künstlerin Bob the Drag Queen. Im selben Marie-Antoinette-Kostüm, das Madonna bei den MTV Music Awards 1990 getragen hatte, schritt sie durch die nun kreischenden Fans im Innenraum der Lanxess-Arena und bahnte sich den Weg zur Hauptbühne, um das Publikum darauf einzustimmen, dass es nicht nur eine Party oder ein Konzert zu erwarten habe, sondern eine „Celebration“, und dann geht es los.

Auf einem kreisförmigen Podium schwebt Madonna auf die Bühne, bekleidet mit einem schwarzen Versace-Mantel und einem Heiligenschein. Sie beginnt den Abend mit ihrem Hit „Nothing really matters“ vom Album Ray Of Light – einem Song, den sie bislang noch nie auf einer Tournee gesungen hat, der aber das Motto einer groß angelegten Retrospektive sehr gut vorwegnimmt: „When I was very young, nothing really mattered to me…“

Dieser Auftakt bildet so etwas wie die Ouvertüre zur Show, die nun in halbwegs chronologischer Reihenfolge, beinahe im Stil eines Musicals, die wichtigsten Stationen von Madonnas beeindruckender Karriere auf die Bühne bringt. Der erste Block widmet sich mit Ohrwürmern wie „Holiday“, „Into The Groove“ und „Open Your Heart“ den 1980er Jahren. Die Bühne zeigt abwechselnd die Skyline von New York und die Front des legendären Nachtclubs Paradise Garage, vor dem Bob the Drag Queen als Türsteher darauf achtet, dass nicht jede/r in die Gunst des begehrten Einlasses kommt. In dieser hedonistischen Underground-Szene hat sich Madonna in den frühen 80ern bewegt und dort mühsam das Fundament ihres späteren Erfolges aufgebaut.

Den emotionalen Höhepunkt dieses ersten Akts bildet die Darbietung der Ballade „Live to Tell“, als Madonna in einer Art Bilderrahmen durch die Halle schwebt, während um sie herum auf riesigen Leinwänden Schwarzweiß-Bilder der AIDS-Toten der 80er und frühen 90er Jahre gezeigt werden. Spätestens hier wird deutlich, dass der schwarze Mantel zu Beginn des Auftritts auch eine Feier der Verstorbenen intoniert hat.

Es folgt der zweite Akt, und damit die SEX-Phase der 90er Jahre – Tod und Wiedergeburt im Zeichen des Sexus, Bataille lässt grüßen. Songs wie „Erotica“, „Justify My Love“ und „Fever“ liefern den Soundtrack zu dieser wohl umstrittensten Phase in der Karriere des Popstars. Wie von Geisterhand erscheint auf einer Nebenbühne das rote Samtbett der Blonde-Ambition-Tournee, darauf ein Double der Sängerin mit den berüchtigten Cone Bras von Jean Paul Gaultier und dem blonden Pferdeschwanz. Madonna selbst, nun mit blonder Marilyn-Perücke, räkelt sich in Satin-Unterwäsche mit ihrem jüngeren Alter Ego auf der Bettdecke, hat angedeuteten Sex mit ihrer eigenen Vergangenheit. Ihre Adoptivtochter Mercy begleitet sie anschließend auf dem Klavier zu einem ihrer unterschätztesten Songs „Bad Girl“, den sie ebenfalls noch nie auf einer Tour gesungen hat. Auch im zweiten Akt sorgt somit eine Ballade für den einzigen veritablen Gänsehautmoment.

Die zweite Hälfte des Abends steht dann durchweg im Zeichen des Dancefloors und des Feierns. Hier wird dann auch die Chronologie zu Grabe getragen. Mit späteren Hits wie „Ray Of Light“, „Don’t Tell Me“ oder „Bitch I’m Madonna“ feiert sich Madonna selbst und das Leben. Der James-Bond-Song „Die Another Day“ könnte allein vom Titel her passender nicht sein. In einem Medley von „Like A Virgin“ und „Billie Jean“ tanzen die Scherenschnitte der jungen Madonna und von Michael Jackson gemeinsam auf einer Leinwand – eine Hommage an den verstorbenen King of Pop, die aufgrund der Missbrauchsvorwürfe gegen Jackson immerhin zu etwas Kritik geführt hat.

Zwischendurch findet die bei jedem Madonna-Konzert obligatorische Rede an die Fans statt, wo die Queen of Pop noch einmal zum Ausdruck bringt, wie knapp sie im vergangenen Sommer dem Teufel buchstäblich von der Schippe gesprungen ist. Diese Rede geht nahtlos über in eine Akustik-Version des Gloria-Gaynor-Evergreens „I Will Survive“ – selten hat man diesen Disco- und Bierzelt-Klassiker mit so viel Melancholie und Dankbarkeit dargeboten gehört.

Am Ende geht dann alles ganz schnell. Eröffnet durch eine rasant geschnittene Video-Installation, sieht man noch einmal Schnipsel der letzten vierzig Jahre, während auf der Bühne rund zwanzig Madonna-Doubles in ikonischen Kostümen tanzen. Wir sehen die junge Braut, die Latex-Madonna aus dem Video zu „Human Nature“, das All American Baseball-Girl aus „A League Of Their Own“, die Kleopatra des Super-Bowl-Auftritts 2012, die Aerobic-Tänzerin der „Confessions On A Dancefloor“-Ära, usw. usf.

All diese Kunstfiguren haben uns in den letzten Dekaden beständig begleitet, nun stehen sie alle gleichzeitig auf der Bühne und tanzen sich die Seele aus dem Leib. In diesem fulminanten Moment, der vermutlich nur drei bis vier Minuten dauert, hat man tatsächlich den Eindruck, vierzig Jahre Popkultur im Zeitraffer mitzuerleben. Live-Performance und Bildarchiv verschmelzen in diesem atemlosen Finale, das dann schließlich in dem der Tour ihren Titel verleihenden Song „Celebration“ kulminiert.

Die wohl drängendste Frage, die die Vorab-Berichterstattung zu dieser Tournee dominiert hatte, war zweifelsohne: „Kann sie es noch?“ Vielen Vertreterinnen und Vertreter der Boulevardpresse hatten sicher schon die Bleistifte gespitzt, um über den chirurgisch optimierten Körper und seine biologischen Defizite herzufallen, die Tragödie des nach ewiger Jugend strebenden Altstars zu erzählen, der den Absprung nicht geschafft hat. Man muss sagen: Madonna hat ihnen diesen Gefallen nicht getan, wie sie eigentlich nie das getan hat, was man von ihr erwartete.

Anlässlich einer Preisvergabe für ihr Lebenswerk im Jahr 2016 hatte sie einmal den Satz gesagt: „The most controversial thing I’ve done is to stick around.“ Dieses Zitat taucht auch während der atemlosen Video-Collage am Ende der Show auf. Ihre jüngsten Auftritte setzen gewissermaßen ein Ausrufezeichen hinter diese Aussage. Dabei macht sie aus ihren 65 Jahren keinen Hehl, trägt über weite Strecken des Abends gut sichtbar eine Kniebandage und liefert auch nicht mehr jene akrobatischen Höchstleistungen ab, die man von früheren Tourneen kannte. Sie lässt eher tanzen als selbst zu tanzen. Und dass die Schwellungen nach den OPs, die man etwa bei den letzten Grammy Awards noch deutlich sehen konnte, nun abgeklungen sind, verleiht ihr zwar ein deutlich jüngeres Aussehen, aber es passt doch auch zu ihrer lebenslangen Authentizitätsverweigerung – Madonna wollte niemals nur eine Frau sein, sie wollte alle Frauen gleichzeitig sein: Heilige, Hure, Göttin, Schlampe, Diva, Politikerin, Mutter, Künstlerin, Revue-Girl. Dass nun auch die Grande Dame zu ihrem Rollenrepertoire gehört, davon durfte man sich im Rahmen ihrer aktuellen Tournee überzeugen.

 

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