Jenseits des Herzwalds oder die Lust am Schmutz der Realität
von Sophia Wege
13.6.2023

Kritik an Populärkultur und postmoderne Neoaufklärung im Kinderbuch-Bestseller »Das Neinhorn«

I

Ein Neinhorn ist ein Einhorn, das immer Nein sagt; es handelt sich um die Hauptfigur in Marc-Uwe Klings Bilderbuch „Das NEINhorn“ (2019), dessen Held es in kürzester Zeit in den Wortschatz nicht weniger Familien geschafft hat. Wie viele moderne Kinderbücher weist auch dieses Werk eine zweifache Kodierung und damit doppelte Adressierung auf. Es wendet sich in erster Instanz an Kinder, bietet aber darüber hinaus eine zweite Bedeutungsebene für erwachsene Leser:innen an. Im Falle vom „NEINhorn“ holt Kling die Kinder, insbesondere auf Einhorn-Liebe getrimmte Mädchen, bei ihrer Vorliebe für rosafarbene Kitschwelten ab, die sich nach wie vor hoher Popularität erfreuen. Auf der zweiten, an die Eltern gerichtete Ebene tut sich eine erzieherische und darüber hinaus eine kulturdiagnostische und politische Dimension der Geschichte auf.

In dem von Astrid Henn farbexplosiv und dabei in Bezug auf das Text-Bild-Verhältnis klug und ironisch illustrierten Bilderbuch geht es auf erster Ebene um ein Einhorn-Kind, das sich mittels notorischen Nein-Sagens gegen die rosig homogenisierte, die emotionale Differenz und kognitive Dissonanz des Kindes missachtende Wunschwelt seiner Eltern auflehnt, genauer gegen deren durchaus vernunftmäßige Forderungen, welche diese zum Fundament ihres harmoniesüchtigen Lebens gemacht haben. Auf zweiter Ebene zeigt Kling die Notwendigkeit auf, als Individuum, und später auch innerhalb eines freundschaftlichen Bündnisses, mittels Spiel, Sprache und Körper gegen die krisenignorante Verblödung durch zuckersüße Populärkultur zu opponieren, sich gegen gemütliche bürgerliche Wellness und homogene Wirklichkeitskonstruktionen aufzulehnen. Am Horizont dieser gewitzten Kultur- und Ideologiekritik blitzt die Utopie einer aufgeklärten, selbstbestimmten und dabei zugleich empathischen, gerechten, gender-sensiblen wie auch streitlustigen postmodernen Pluralität von Daseinsformen auf, in der neben dem gesättigten Einheitsrosa noch Platz für den unliebsamen und düsteren Dreck der Realität, für das einheitsstörende Faktische der inneren Realität, für miese Laune und wenn man so will für Kulturpessimismus ist. Das Buch ist ein Plädoyer gegen die Verlogenheit schönfärberischer Krisenignoranz beziehungsweise für die Akzeptanz der differenten inneren Geschichte des Menschen, in diesem Falle der Kinder.

II

Marc-Uwe Kling ist einer der populärsten Autoren der Gegenwart. Mit den „Känguru-Chroniken“ (2014) wurde er einem breiten Publikum bekannt; 2022 lief sein zweiter Film in den großen Kinos; in der ZEIT erscheint täglich ein zumeist das tagespolitische Geschehen kommentierender Comic mit Texten von Kling. Der Roman „QualityLand“ (2017) verkaufte sich gut, allerdings liegt Klings Stärke nicht auf der erzählerischen Langstrecke. Bemerkenswert sind vor allem seine originellen, clever konstruierten und zudem kommerziell erfolgreichen Kinderbücher. Als Nachfolger des „Neinhorns“ erschien 2021 das Bilderbuch „Die Schlangeweile“. Mit „Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat“ (2018) legte Kling eine Geschichte vor, die sich auf humorvolle Weise und ohne zu pauschalisieren mit den ambivalenten Auswirkungen der Internet-Nutzung auf das Familienleben auseinandersetzt. Kling gelingt mit diesem Buch das Kunststück, das für technische Laien undurchschaubare Labyrinth des world wide web als rätselhafte, nahezu mythischen Raum der Gegenwart erscheinen zu lassen.

Dass Klings Schaffen bislang weitestgehend unter dem Radar von Literaturwissenschaftler:innen bleibt, ist unter anderem dem Nischendasein von Kinder- und Jugendliteraturforschung geschuldet, die an den meisten Universitäten bedauerlicherweise nicht vertreten ist und somit im Hinblick auf ihre hohe gesellschaftliche Relevanz geradezu grotesk vernachlässigt wird. Für Kinderliteratur gibt es eigene Publikationsorte, aber in den wichtigen Fachzeitschriften ist sie kaum vertreten. Auch in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen wird Kinder- und Jugendliteratur wenig Platz eingeräumt; beispielsweise leistet sich die FAZ nur einmal monatlich eine vorzügliche Kinderbuchseite.

Im Fall von Kling ist das Ausbleiben des philologischen Interesses wohl auch der anhaltenden Skepsis gegenüber populären Bestseller-Autor:innen geschuldet, wobei dieses Forschungsvakuum in jüngster Zeit erfreulich schrumpft.  Bei Klings „NEINhorn“ handelt es sich um ein Kinderbuch, das das Potenzial zum Klassiker hat, insofern es auf unaufdringliche Weise Fragen aufwirft: nach Gegenwartskultur und Gegenwartsästhetik, dem Stellenwert des Populären, der aufklärerischen Funktion von Literatur, der Macht des Sprechakts, dem Verhältnis von populärem Realismus und Idealismus, nach der Identifikation mit Fiktion und auch dem Großthema Identität. Mit dem „NEINhorn“ hat Kling eine Geschichte vorgelegt, in der die popkulturelle Gegenwart metapoetisch reflektiert und ironisch-kritisch kommentiert wird.

III

Zum Auftakt setzt der Autor seinen Leser:innen einen bonbonfarbenen Bombast stereotyper Einhorn-Glückseligkeit vor, überquellend von rosaroten Herzchen, Blümchenwiese, Regenbögen, goldenen Keksen – eine gegenwärtige Version des Schlaraffenlands also, und zwar entscheidender Weise auf visueller wie auch sprachlicher Ebene:

Auf den ersten Blick spiegelt die Illustration die paradiesische Idylle exakt wider; man sieht die zahlreichen Mitglieder der Einhorn-Familie glückselig lächelnd im Gras herumliegen und herumtanzen. Allerdings macht allein die schiere Übererfüllung der gefälligen, plüschigen, pinkfarbenen Einhorn-Kitsch-Kultur schnell misstrauisch: Während die jungen Leser:innen die flatternden Liebesherzchen noch für bare Münze nehmen, blicken die vorlesenden Eltern bereits mit einer gewissen lebenserfahrenen Skepsis auf die freudetrunkene Liebesblödigkeit in den treuherzig blickenden Gesichtern der Einhorn-Eltern.

Die überzeichnete Affirmation sämtlicher Niedlichkeitsklischees auf visueller Ebene kann von den vorlesenden Eltern als erstes ironisierendes Distanzsignal durch den Autor identifiziert werden. Auf sprachlicher Ebene wird das die heile Familienwelt dominierende Harmonieprinzip durch den Gleichklang des schlichten und eingängigen Paar-Reims realisiert (Träume – Bäume, hatte – Watte), der auf den zweiten Blick auffällig pedantisch und trivial wirkt, und zwar spätestens dann, wenn sich der Autor das Wort Jäger so zu „Jäga“ zurechtreimt – und damit verfälscht –, so dass es sich perfekt auf das jugendsprachlich populäre Wort „mega“ reimt.

Simultan korrigiert der gleiche Autor allerdings für alle Leser:innen sichtbar seine eigene falsche Schreibweise mit Rotstift zu „Jäger“ zurück und macht somit den kreativen Sprech- und Schreibakt als bedeutungskonstituierenden Akt flexibler Zeichenverwendung sichtbar und zugleich metapoetisch reflexiv. Mehrfach stellt der Autor auf diese Weise die Gemachtheit seines Werkes, die fluide, subjektgebundene Sprachverwendung aus, macht die daraus resultierende Sinnverschiebung augenfällig und sinnfällig. Kling bedient sich hier einer in der Romantik wurzelnden postmodernen Strategie der Auto(r)reflexivität. (Auf eine ausführliche Beschreibung der großartigen Illustrationen von Astrid Henn muss hier aus Platzgründen verzichtet werden. Sie stehen einerseits in einem abbildenden Verhältnis zum erzählten Geschehen, allerdings wird auch mehrfach ein Widerspruch zwischen Bild und Text erzeugt, der von den Leser:innen als Ironisierung des Verhaltens der Protagonist:innen gedeutet werden kann).

In die heile, hyperidealisierte Einhorn-Welt, in diesen süßen Brei, wird nun ein kleines Einhorn mit „superflauschigem“ Fell hineingeboren, ein Kind, das alle Familienmitglieder selbstverständlich als „schnickeldischnuckeligsüß“ anhimmeln (2). Dass das spitze Horn des Nachwuchses der Einhorn-Mami bei der Geburt ziemliche Unannehmlichkeiten bereitet haben muss, wird vom lyrischen Ich angedeutet und zugleich an den Rand des Erzählbaren verwiesen: „gehen wir nicht ins Detail…“ (2). Damit aber blitzt die Desillusionierungskompetenz des Realen erstmals auf, denn was hier als nicht kindgerecht oder störend ausgeblendet, was aus dem Bereich des Sagbaren und Literaturfähigen gedrängt wird, ist der weibliche Körper, der reale Schmerz einer womöglich blutigen Geburt, der hier repräsentativ für eine schmerzhafte Wahrheit von Wirklichkeit steht, die nicht zu den reinweißen Zuckerwattewölkchen der erzählten Idylle passt.

Diese Wahrheit drängt sich jedoch zusehends durch die rosa Brille des Populären und steigert sich seitens des kleinen Einhorns stetig, bis es zum unvermeidlichen Eklat kommt: Eingelullt in diese Hölle der Monochromie hat das Einhorn alsbald das Gefühl „am falschen Ort zu sein“ (4). Für seine Differenzbewegung, die Deklaration seine Nicht-Identität mit dem Ideal des elterlichen rosaroten Scheins, findet das Kind „das einzig wichtige Wort“: NEIN. Nein sagt das Einhorn zu allen vernünftigen Forderungen, deren Erfüllung die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung des heiligen bürgerlichen Familienglücks bildet: Nein zum Essen, Nein zum Waschen, Nein zur Schule. Der rebellische Nachwuchs entdeckt die Macht des Wortes als Waffe des Widerstands gegen die harmoniesüchtige heterogene Einheits-Welt und die symbiotischen Identifikationsansprüche der Eltern, „worauf man es auf Vorschlag einer Tante nicht mehr Einhorn sondern Neinhorn nannte“ (5).

Der Text funktioniert durchgehend mit doppelter Adressierung: Zum einen können sich die kleinen Leser:innen mit der Rebellion des NEINhorns gegen die harmonieversessene elterliche Allmacht identifizieren, zum anderen erkennen die vorlesenden Eltern im Widerstand des NEINhorns die Trotzphase ihrer eigenen Kinder wieder, und praktischerweise auch das klägliche Scheitern moderner Erziehungsstrategien: „Vielleicht müssen wir noch lilalieber zu ihm sein“, überlegt der Einhorn-Mann, „damit das Kleine auch so gigaglücklich wie wir sein kann.“ (6) Doch der antiautoritäre Ansatz verfängt nicht. Das NEINhorn will nicht mehr vom gezuckerten Glücksklee fressen, mit Engeln knuddeln, mit güldenen Feen tanzen, mit Glücksschweinchen kuscheln, sondern viel lieber möchte es unvernünftig sein, bocken, quengeln, rebellieren: „Klingt das nicht toll? Klingt das nicht fein?“, fragen die Eltern – „Nein“ (9), widerspricht das Kind. Es ist klar, dass Kling an diesem Punkt der Erzählung vornehmlich die erwachsenen Leser:innen erzieht.

Die Mitglieder der Einhornfamilie versuchen es unterdessen mit Ursachenforschung:

„Aber wieso?“, fragt der Einhornopi, „Sag uns wieso?

Warum bist du nicht wie wir? Warum bist du nicht froh?“

Die verblüffende Antwort des Neinhorns lautet:

„Ach, euer Lächeln, das ist euch doch ins Gesicht geleimt!

Und mich nervt, dass sich jeder Satz hier immer reimen muss.“ (10)

Ab diesem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte verweigert das NEINhorn den Reim! Gattungstechnisch gesprochen besteht der Clou darin, dass sich der Text des Buches ab diesem Punkt gar nicht mehr reimt. Kling und mit ihm seine Figur lassen den kreuzbraven Paar-Reim fallen und wechseln für den Rest der Geschichte, die zugleich Lebensgeschichte ist, von der Lyrik in schnodderige Alltagsprosa. Die fiktionsinterne Ebene, die zwangsgereimte Familienidylle, und die bis dato extradiegetische Autor-Ebene werden an diesem Punkt – den Kommentar der Figur zur sprachlichen Form der eigenen Geschichte – metaleptisch verschmolzen. Auf der Ebene der Handlung markiert der abrupte Gattungswechsel, als Sieg der Prosa über die Poesie, einen sprachlichen Bruch, der zugleich als weltanschaulicher Seitenwechsel gedeutet werden kann: Es geht um die Emanzipation des NEINhorns aus der zwanghaft popularitätssüchtigen, optimistisch-idealistisch verklärten Scheinwelt, welche in Dissonanz zur wahren Gefühlswelt des Kindes steht, die sich als verschattet, differenziert und im erweiterten Sinne als pessimistisch erweist.

Der Gattungswechsel steht für Erkenntnis und Bekenntnis des Subjekts zur subjektiv empfundenen schmutzigen Realität, zum faktischen Inneren, welches nicht äußerlichen Bedingungen seiner Sozialisation und auch nicht den Erwartungen und Wahrnehmungen der Anderen entspricht. Fortan weigert sich das Einhorn die Wahrnehmung der Eltern zu spiegeln; es bestimmt seine Identität über die Namensgebung neu als NEINhorn. Aus der verbalen Verweigerung und der selbstbestimmten sprachlichen Neuordnung der eigenen sprachlich organisierten Welt, der Differenzbewegung der Zeichen, resultiert in einem zweiten Schritt ein körperlicher, performativer Akt der Verneinung und Verweigerung, positiv formuliert einer neuen Identitätserprobung: Das NEINhorn verlässt seine Familie, es flüchtet aus dem Herzwald und stürzt sich im übertragenen wie wörtlichen Sinn in die vormals ausgeblendete dreckige Prosa der Verhältnisse. Es suhlt sich im Schlamm – die Illustration zeigt hier ein grau-schwarzes Loch –, futtert faule Äpfel, bis ihm übel wird, und jagt unschuldig weiße, „irre niedliche Katzenbabys“ die Bäume hoch (13). Das Katzen-Motiv ist keineswegs Zufall: Das süße liebe NEINhorn verwandelt sich plötzlich vom Kuscheltier in einen Jäger – wozu sonst das Horn! – und lebt somit endlich auch seine durchaus unmoralische animalische Triebnatur aus.

Dieser Twist unterscheidet Klings Einhorn-Variante von den meisten anderen aktuell erfolgreichen Adaptionen des Fabelwesens. Die Kinderbuchreihe „Emmi und Einschwein“ (Anna Böhm, 2018) beispielsweise wartet mit einer Mischung aus Einhorn und Glücksschwein auf, deren Denotat die harmlose und ironiefreie Niedlichkeit und Tugendhaftigkeit reinster Sorte ist. Klings Umgang mit dem Katzen-Motiv dagegen erinnert eher an Ludwig Tiecks romantisches Metadrama „Der gestiefelte Kater“. Zudem versetzt Kling hier der populären Katzenvideo-Kultur in einschlägigen social media-Kanälen einen Seitenhieb, sowie generell der in sozialen Netzwerken grassierenden Niedlichkeitsobsession. Niedlichkeit ist laut Moritz Baßler und Heinz Drügh (2021) ein distinktes Phänomen von Gegenwartsästhetik. Dagegen ließe sich allenfalls einwenden, dass süße Kätzchen bereits „Die Gartenlaube“ zierten. Der Reiz des Niedlichen, auf deren Affirmation die infantilen Kitschprodukte der Kulturindustrie abzielen, ist auf evolvierte emotionale Dispositionen zurückzuführen.

Die Entwicklungsgeschichte des NEINhorns – wenn man so will ein Bildungsroman en miniature – nimmt damit nun ihren Anfang. Mit der Flucht aus der Liebeshölle des Herzwaldes setzt nun eine zweite Individuationsetappe ein. Jedes noch so emanzipierte Kind muss feststellen, dass es außerhalb der Kernfamilie zunächst auf sich allein gestellt ist und es im Leben ohne ein Ja zu neuen sozialen Beziehungen und Kompromissen auf Dauer nicht auskommt. Auf seinem abenteuerlichen quest, welcher seiner postmodernen Natur nach allerdings ins „Nirgends“ führt (17), bleibt das NEINhorn auf Freunde und Gefährten angewiesen.

So lernt es einen Waschbär kennen und mit ihm sich selbst und spiegelbildlich die Wirkung seines Neins auf Andere. Der Waschbär beantwortet die Fragen des NEINhorns notorisch mit „Was?“, das heißt, er gibt kleinkindtypisch vor, nicht richtig zu hören oder zu verstehen. Weil die Verweigerungsstrategie des WASbären mit seinem ewigen Was-Fragen dem NEINhorn bald gewaltig auf die Nerven geht, beantwortet das NEINhorn dessen Fragen wiederum genervt mit seinem notorischen Nein: „Was hast du gesagt“, fragte der WASbär. „Nein“, sagte NEINhorn. „Was?“, fragte der Wasbär, uns so weiter (15). Prompt lernt der rebellische Nachwuchs den Nachteil pauschalisierten Widerspruchs kennen: NEINhorn und WASbär werden zum Opfer ihrer sprachperformativen Verabsolutierung, ihrer einerseits fraglos emanzipatorischen, andererseits aber in dieser unreflektierten Pauschalisierung egozentrischen und antisozialen Liberalisierung.

Wenn die sprachliche Zeichen im Zuge solch nahezu narzisstischer Funktionalisierung zu Worthülsen erstarren, wenn das Zeichen die Beziehung zum Subjekt als Ursprung der Sinngebung verliert, mündet das in ein amüsantes, von außen betrachtet durchaus befreiendes Wortgefecht, aber Kommunikation gedacht als Medium sozialer Beziehungen wird langfristig sabotiert, ja verunmöglicht. Den beiden kleinen Protagonisten dämmert allerdings schnell, dass man auf diese Weise keine Freunde findet. Als der WASbär das NEINhorn schlussendlich fragt, ob er nach Nirgends mitkommen dürfe, lautet die Antwort plötzlich „Meinetwegen“ (17). Das NEINhorn bricht also erneut mit der Konvention, jedoch diesmal nicht mit fremdbestimmenden Zuschreibungen und Erwartungen, sondern mit der selbstauferlegten Norm der Freiheit zur absoluten Verweigerung, die sich als nicht überlebenstauglich, als empathielos, antisozial und somit letztlich als unethisch erwiesen hat.

Dieses Verhaltens- und Kommunikationsmuster spielt Kling dem märchenhaften Dreischritt von Entwicklungsgeschichten gemäß noch zwei weitere Male durch. Zu NEINhorn und Wasbär gesellt sich ein Hund, der auf jede Forderung kleinkindtypisch bockig mit „Na und“ reagiert, weil er diesen Modus des Widerspruchs mit den Eltern so eingeübt hat, und der deshalb NahUND genannt wird. Die Freundschaftsanfrage des Hunds beantwortet das NEINhorn zunächst mit dem üblichen Nein, und später, als Resultat der Erfahrung des Scheiterns, aus dem sich lernen lässt, schlussendlich mit „Ja, von mir aus“ (20).

Zu guter Letzt begegnen die drei Gefährten einer zickigen und verwöhnten Königstochter, die von ihrem Vater in einen Turm gesperrt wurde, weil sie auf Ablehnung ihrer vermutlich weit überzogenen Forderungen an die Eltern stets mit einem notorischen „Doch“ reagierte. Die KönigsDOCHter gibt den drei Gefährten den Befehl, sie aus ihrem Turmgefängnis zu befreien. In Anbetracht des gebieterischen Tonfalls haben die Gefährten dazu jedoch keine Lust. Die Szene ist an komischer Absurdität kaum zu überbieten: „Ich bin hier eingesperrrt!“, brüllt die KönigsDOCHter empört aus ihrem Turmfenster. „Na und“, erwidert der Hund. „Helft mir“, fordert die KönigsDOCHter. „Nein“ beharrt das NEINhorn – „DOOCH“ schreit die KönigsDOCHter (23).

Die sprachliche Performanz aller Beteiligten führt zur Stagnation und lässt den Konflikt eskalieren, aber am Ende lenkt das NEINhorn aus eigener Einsicht ein. Kling inszeniert nun eine Befreiungsaktion, die einerseits sämtliche Merkmale des Gattungsschemas Märchen affirmiert und andererseits deren Konventionen in einer Reihe witziger Volten auf den Kopf stellt: Im NahUND erwacht die Natur und er tut, wozu ein Hund da ist – anstatt nur sein gleichgültiges „na und“ abzuspulen, bellt er furchterregend, woraufhin der Wachmann des Turms den Schlüssel zum Turmzimmer der Königstochter einfach fallen lässt: „Klar, denn solche Wachmänner lassen immer den Schlüssel für die Zelle der Prinzessin fallen“, kommentiert der Erzähler/Autor das Geschehen und seinen eigenen Plot-Twist ironisch (24). Nun schnappt sich der vormals lethargische WASbär den Schlüssel, klettert damit an den Weinrankens des Turms hinauf und übergibt ihn der Prinzessin, die sich nun selbst aus dem Turmzimmer befreien kann, denn dazu braucht es im 21. Jahrhundert keinen Prinzen. Unterdessen fällt dem NEINhorn ein, dass sein Horn zur Waffe taugt und rammt die versperrte Tür zum Turm ein – womit bewiesen ist, dass Sprache allein nicht immer das geeignete Mittel im Kampf für Freiheit und Selbstbestimmung ist.

Auch in Sachen Geschlechterrollen und Gender-Gerechtigkeit werden konventionellen Machtverhältnisse aufgebrochen: Als die verwöhnte Prinzessin auf dem „süßen Einhorn“ reiten möchte – vermutlich ist sie zu faul zum Laufen – sagt dieses natürlich zunächst „Nein“, denn es möchte sich offenkundig nicht auf diese Eigenschaft und seine Dienstleistungsfunktion für den Menschen reduzieren lassen. Dann willigt es aber doch ein, allerdings unter der Bedingung, dass es selbst zuvor auf der Prinzessin reiten darf, also tauschen sie kurzerhand die Rollen – der Mensch trägt hier das Tier, das weibliche trägt das männliche Wesen. „Da nahm die KönigsDOCHter das NEINhorn huckepack. Damit hast du nicht gerechnet, was?“, kichert der Erzähler in Richtung Leser:in (26). Ein besseres Bild für den Wert gegenseitiger Hilfe, das Aufbrechen von Herrschaftsverhältnissen und festgeschriebener geschlechtlicher Rollenmustern und den Wert der Übernahme fremder Perspektiven lässt sich schwerlich finden.

Auch das Ende entzieht sich der Erwartung und den Konventionen eines glücklichen Gestaltabschlusses von Geschichte. Die rebellischen Freunde verbringen fortan viel Zeit mit amüsanten Gesprächen: „Nein“, „Doch“, „Nein“, „Doch“, „Nein“, „Doch“, „Was?“, „Nein“, „Na und?“, „Doch“, und gelegentlich tauschen sie die Wörter und damit die Rollen – dann sagt der NahUND „Nein“ und das NEINhorn fragt „Was?“ und so weiter (27-28). Das erinnert nicht von ungefähr an absurdes Theater oder gar an postdramatische Sprachflächen, wie man sie unter anderem bei Elfriede Jelinek findet. Allerdings münden diese Unterhaltungen nicht in Gewalt, sondern in lustvollen und komischen Sinnverlust, der nicht ins Asoziale abgleitet, weil er durch geteilte sprachspielerische Performanz erzeugt, geteilt wird und alle Diskursteilnehmer integriert. Auch bockig sein mache gemeinsam eben mehr Spaß, kommentiert der Erzähler diese Szene – man darf sich hier durchaus an parlamentarische Debatten erinnert fühlen; nicht immer zählt das Resultat, auch der friedfertige freie Streitkultur an und für sich kommt in demokratischen Gesellschaften ein eigener Wert zu. Am Schluss kehrt das NEINhorn auf Kurzbesuch nach Hause zur Familie zurück, um ein wenig Glücksklee zu essen. Im Zuge dessen wechselt der Text sogar die Reimform zurück, allerdings nur mit ironischem Einschlag (Familie – Petersilie). Damit ist zwar ein versöhnlicher Schlusspunkt gesetzt, der jedoch keinesfalls eine geläuterte Rückkehr des Helden in den Schoß der bürgerlichen Familie markiert. Das Ende weist eher auf die Wiederbelebung des klassischen humanistischen Freundschaftsideals, einschließlich ihrer Differenzen, Dissonanzen und Absurditäten.

Auf den letzten beiden Seiten des Buches wendet sich Kling direkt an seine Leser:innen. Er habe das NEINhorn gefragt, ob die Geschichte eine Moral brauche, etwas, das man daraus lernen könne. Was das NEINhorn antwortet, kann man sich denken. „Falls du gerne eine Moral hättest“, fordert Kling am Ende seine kleinen Leser:innen auf, „dann denk dir einfach selbst eine aus“ oder dichte selbst eine Geschichte mit oder ohne Moral (30).

IV

Auf der zweiten Ebene lässt sich Klings Antimärchen auch vor dem Hintergrund der wiederbelebten Debatte um den vermeintlichen Werteverlust durch postmoderne Pluralisierung deuten, und dies wiederum auch in Zusammenhang mit der Frage nach der Stellung und Wertung des Populären in der pluralen Gegenwartskultur.

Hans-Ulrich Gumbrecht definierte die Postmoderne bekanntlich als „breite Gegenwart“ (Gumbrecht 2010). Wolfgang Welsch diagnostizierte eine „Dispersion des Subjekts, Dezentrierung des Sinns, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, Unsynthetisierbarkeit der vielfältigen Lebensformen und Rationalitätsmuster“, wobei solche Pluralität jedoch nicht als „gefällige Oberflächenbuntheit“ missverstanden werden solle (Welsch 1993: XVII). Im engeren Sinne ist die literarische Postmoderne gekennzeichnet durch das Ende der Großerzählungen (Lyotard), welche durch eine Pluralität des Erzählten und unterschiedlichster Mittels Erzählens abgelöst werden.

Auf der Ebene der Erzählweise meint Simultanität und auch Pluralität unter anderem multiperspektivisches Erzählen, die Vermischung der Gattungen und Intermedialität, sowie ein Neben- und Ineinander von mimetisch-illusionsbildenden und illusionsbetonenden, metafiktionalen, das heißt den Fiktionsstatus des Sprachkunstwerks selbstreferenziell ausstellenden Erzählweisen; Buch im Buch, Schreiben über Schrift. Das metapoetische Spiel mit der Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion findet man auch im Bereich Kinder- Jugendliteratur, insbesondere in Michael Endes diesbezüglich kaum übertroffener Unendlicher Geschichte (1979), in Cornelia Funkes vergleichsweise biederer Tintenwelt-Trilogie (2003-2007) und in sämtlichen Werken des sprachgewaltigen Walter Moers.

Durchgesetzt hat sich ein Nebeneinander und Ineinander von sprachlich wie inhaltlich experimentell-elitärer Hochliteratur und konventioneller, populärer Unterhaltungs-Literatur. Auf der Zeichenebene wird Simultanität und Pluralität häufig durch Doppelkodierung realisiert. Das sprachliche Zeichen wird als verspielt inszeniert, Poetizität wird bewusst gehalten. Als postmodern gilt ein nicht primär identifikatorischer, sondern spielerischer Einsatz intertextueller Referenzen auf diverse Motivtraditionen. Durch die Bereitstellung mehrerer Bedeutungsebenen spricht solche Literatur häufig zwei Lesergruppen an – sowohl intellektuelle als auch eskapistische Bedürfnisse werden befriedigt, ein Phänomen, das Moritz Baßler dem warenförmig-konventionellen Populären Realismus zuschlägt (2023). Die Dominantsetzung der Leser:innen-Instanz bildet die wichtigste Schnittstelle mit dem Phänomen der Doppeladressierung in durchaus anspruchsvoller Kinder- und Jugendliteratur.

Grundsätzlich ist die postmoderne Höhenkammliteratur geprägt von einer Vielheit erzählter Held:innen, Perspektiven, heterogener Zeiten und Kulturen (Lützeler 2009: 9). So verstanden wirkt die Postmoderne, wie am Beispiel von Klings Buch unschwer erkennbar ist, bis in die Literatur der Gegenwart fort. Allenfalls die These, dass das Subjekt gänzlich obsolet sei, gilt mittlerweile als überholte Radikalpositionen des Poststrukturalismus. Bereits Hans Robert Jauß hatte dies mit Blick auf die „fast schon trivialen Befunde einer grammatischen wie der anthropologischen Theorie der Subjektivität“ zurückgewiesen (Jauß 1989: 268). Manfred Frank wandte ein: „Ohne den Rückzug auf ein Moment relativer Sich-selbst-Gleichheit wäre Differenzierung (Sinnverschiebung, metaphorische Bedeutungs- und Neueinschreibung) gar nicht feststellbar.“ (Frank 1991: 127). Die Vorstellung eines fixierten Subjekts ist gegenwärtig dem Konzept hybrider Identitäten gewichen.

Worum es bei den bis in die 1980ger Jahre zurückreichenden politischen Debatten um postmoderne und somit auch populäre Kultur geht, ist der Verdacht eines angeblich drohenden Werteverlust durch ein beliebiges anything goes (vgl. hierzu Scholz 2016), welches in den letzten Jahren in Zusammenhang mit der Frage, welche Erzählungen liberale Gesellschaften den postfaktischen und identitären Narrativen von Rechtpopulisten entgegensetzen können, neu diskutiert wird. An diese Debatte schließen sich in jüngster Zeit weitreichende Fragen an: Was ist (non binäre, hybride, plurale) (Geschlechts-)Identität und wie wird sie erzählt? Welche neuen Großerzählungen, etwa zur Klimakrise, kann oder soll es geben. Brauchen wir ein neues Narrativ der Aufklärung, das populistischen Erzählungen entgegentritt (vgl. Gabriel et al. 2022)? In welchem Verhältnis stehen populäre Massenkultur und postfaktische Narrative; steht eine unpolitische Populärkultur den Forderungen nach einem neuen Rationalismus im Weg oder braucht man sich unter den Bedingungen pluraler Kultur nicht um krisenignoranten Eskapismus zu sorgen. Diese Fragen können hier nicht beantwortet werden; mit der Analyse von Klings Buch kann an dieser Stelle lediglich eine aktuelle Sicht auf solche Fragen an populäre / postmoderne Gegenwartskultur vorstellt werden.

Schauen wir uns Klings „NEINhorn“ nun vor dem Hintergrund postmoderner Ästhetik an. Bereits in den 1970er Jahren bescheinigte Leslie Fiedler der Postmoderne eine Renaissance des Heldischen, des Quest-Plots und des Mythischen in der populären Massenkultur – dies lässt sich auch am NEINhorn und an der ungebrochenen Popularität von Adaptionen antiker mythischer Stoffe und Motive auf unterschiedlichsten ästhetischen Qualitätsniveaus beobachten. Einhörner findet man bereits in der persischen und griechischen Antike; in der Bibel stehen sie symbolisch für Heilsbringer. Klings Handhabung des klassischen Fabelwesens kann als postmodern gelten, insofern der Autor aus solchen heterogenen Traditionen nur geringen semantische ‚Tiefe‘ abschöpft.

Es geht ihm mit seiner Transformation des Einhorn-Motivs um eine komisch-ironische Kritik an der fakten-vergessenen Krisen-Ignoranz der Populärkultur der Gegenwart und ihren Verharmlosungs- und Verniedlichungsstrategien mit den Mitteln postmodernen sprachspielerischen Erzählens. Der Plot zielt auf eine Rehabilitierung des emanzipierten, aufgeklärten und zugleich empathisch und sozial agierenden und kommunizierenden Subjekts, ohne das Ästhetische, Oberflächliche und Populäre zu diskreditieren und eingedenk dessen, dass die Freiheit die Lust am zweckfreien (Sprach-)Spiel einschließt. Die von Kling avisierte Gestalt postmoderner Identität versteht das Spiel mit dem sprachlichen Zeichen als kreativen Prozess und als sprachlichen Akt emanzipatorischer Selbsterfahrung, der mit starker körperlich-sinnlicher Performanz und Präsenz einhergeht.

Damit inszeniert Kling Handeln, Sprechen, Schreiben und Dichten als Mittel autonomer, differenzbildender, konventionsbrechender Ich-Bestimmung, dabei durchaus mit einem optimistischen, ethisch-aufklärerischen Impuls. Dies ist keinesfalls als Einladung zu reibungsloser Identifikation mit den Held:innen zu deuten – es bleibt ein ironischer Blick nicht nur auf Populärkultur, sondern auch auf die Pluralisierungsbewegung der kleinen sympathischen Einzelgänger:innen beziehungsweise die Gefahren verabsolutierter Liberalisierung, die über den Drang nach Autonomie die Wahrnehmung der Bedürfnisse des Anderen aus dem Blick verliert.

Das Buch reizt das Potenzial postmoderner Doppeladressierung auf neuem Niveau aus. Die Erziehung der Eltern und das identifikatorische Angebot für ihre Einhorn-Kitsch-verliebten Kinder halten sich die Waage. Wenn Kling die kleinen Leser:innen am Schluss auffordert, sich eigene Geschichten auszudenken, überschreitet der Autor die Grenzen der Fiktion, dringt in die Wirklichkeit der Kinder vor und schafft einen starken Gegenwärtigkeitseffekt; einen solchen sehen einige Literaturwissenschaftler:innen als einziges belastbares Merkmal von Gegenwartsliteratur an. Es geht im Grunde darum, die Kinder und uns, die erwachsenen Leser:innen, zu spielerischer, selbstbestimmter und damit aufgeklärter Zeichenverwendung und somit Identitätsfindung zu ermutigen und zu befähigen, und zwar via Verwendung oder Erfindung von Namen oder sozialen Rollen, Wörter und Geschichten – wenn man so will also postmoderner Mikronarrative, die sich jedoch nicht im Sinne eines othering in feindliche Konkurrenz zu anderen Narrativen und Identitäten positionieren.

Klings Buch steht damit exemplarisch für die postmoderne Simultanität von traditionell illusionsbrechendem und illusionsstiftendem, identifikationsverweigerndem und identifikationsstiftendem Erzählen in der Kinderliteratur der Gegenwart. Was das Buch zu einem kritischen Meisterwerk macht, ist zudem die hochreflektierte Bezugnahme auf Unterhaltungskultur. Niedlichkeit steht hier repräsentativ für das mangelnde Realitäts- und Krisenbewusstsein einer allzu gefälligen, idealisierten und solipsistischen Gefühlskitsch-Kultur der Elterngeneration. Diese wird von Kling mit den elaborierten erzählerischen Mitteln von Hochliteratur kritisch-ironisch destruiert, aber wohlgemerkt nicht, um vor einem Bedeutungsvakuum oder einem Wertsetzung verweigernden anything goes zu kapitulieren, sondern um das selbstbestimmte, zugleich soziale und Ironie-fähige Subjekt hinter der realitätsfernen Zeichenoberfläche zu restituieren.

Ein Blick auf die Kinder- und Jugendliteratur hätte ältere Postmoderne-Debatten um den Tod des Subjekts womöglich schneller beendet. Ein Verschachtelungsspiel mit erzählenden Ichs, wie es Italo Calvino als Merkmal postmodernen Erzählens ausgemacht hatte („Ich schreibe, daß Homer erzählt, daß Odysseus sagt ect.“) setzt ein nicht erodiertes Ich voraus. Am Kinderbuch lässt sich dieses Prinzip auf Wortebene beobachten: Im NEINhorn bleibt das EINhorn enthalten, es ist simultan Ein und Nein – dieses lustvolle Spiel mit der Verschmelzung der Namen und Identität, mit Differenz, mit der inklusiven Non-Binarität von N|EIN, baut auf den fluiden Entzug und zugleich Neusetzung von Bedeutung- und Sinnkonstruktion. Ein Ich bilden Kinder in der Kommunikation mit den Eltern und unter anderem auch in interaktiven Vorlesesituationen aus und halten es zugleich semantisch beweglich. Mittels Sprache macht das Einhorn die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, ja emanzipierter Individuation und zugleich Metamorphose im Rahmen sprachlicher Identitätskonstruktion.

Diese Reflexion von Sprachmacht steht freilich in der Tradition der antiautoritären Kinderliteratur der 1970er Jahre, etwa Paul Maars Sams. Der Vergleich bietet sich geradezu an, denn die Vorzeichen waren dort genau spiegelverkehrt: In der Tradition von E.T. Hoffmanns Erzählung Das fremde Kind rebelliert das phantasiebegabte genderfluide SAMS noch mittels Reim gegen die phantasie- und farblose Banalität der bundesrepublikanischen Alltagsprosa, in gewissermaßen romantischer Manier gegen einen allzu platten, jeglicher Avantgarde abholden bürgerlichen Realismus und dessen materialistische Sachdominanz.

Im „NEINhorn“ ist es genau umgekehrt, und doch geht es auch hier um Sprachspiel: Das NEINhorn wehrt sich mittels Prosa gegen eine idealisierte, allzu perfekt gereimte und gesättigte Welt und in Hinsicht auf ihre Farbmonotonie postfaktische hegemoniale Ordnung, zu denen auch die harmoniesüchtige populäre Kitsch-Kultur gehört, die von den Leiden, den düsteren Realitätserfahrungen außerhalb der jeweiligen Filterblase nichts wissen will. Wer jemals die Kinderabteilung großer Kaufhäuser betreten hat, der weiß, dass sich die populäre Kinder-Konsumwelt außerhalb poststrukturalistisch geschulter akademischer Elfenbeintürme nach wie vor in binäre Oppositionen zwischen den Geschlechtern spaltet: In eine ‚männlich-grüne‘ Dino-Abteilung und in eine ‚weibliche‘ rosafarben glitzernde Einhorn-Abteilung.

So gelesen ist Klings „NEINhorn“ auch ein politisches Buch. Anders als die Literaturwissenschaft, die professionell auf der Ebene der Kulturdiagnostik- und Analytik verharrt, die vor utopischen Modellierungen und Moralisierungen zurückscheut, und anders auch als die ‚Hochliteratur‘ für Erwachsene, die nahezu durchgängig moralisch ambivalente Konfliktlagen durchspielt, weil nichts mehr gefürchtet wird, als die Banalität des Eindeutigen, muss Kinderliteratur angesichts von Krisen nicht vor bewusster Sinnstiftung und eindeutigen moralischen Wertsetzungen zurückscheuen.

Kinderliteratur darf explizit Grundwerte sozialer Gemeinschaft bebildern und kommunizieren und auch als normativ ausweisen. Kling gelingt dies ohne plakative Zuschreibungen zu Gut und Böse, ohne Belohnungs- oder Bestrafungsnarrative, ohne othering, ohne moralischen Zeigefinger, und doch unzweifelhaft mit im besten Sinne erzieherischem Impetus; für den Bereich der Kinderliteratur könnte man am Beispiel von Kling womöglich von einer Repädagogisierung der Kinderliteratur in den letzten Jahren sprechen. Im Kern der Geschichte des Neinhorns lässt sich ein komplexes Verständnis für die Relevanz des Ästhetischen und Sprachlichen für die Diskurse der postmodernen Gegenwartskultur ausmachen. Wir haben es beim NEINhorn mit einer Utopie pluraler Identitäten zu tun, die ein gemeinsames, an der eigenen inneren Geschichte und ethischen Prinzipien basiertes Ziel eint – die Erhaltung eben dieser Pluralität in einem aus Rebellion und Widerspruch geformten, bis ins Absurde gesteigert streitfreudigen und dabei doch solidarischen Miteinander. Das heißt nicht, dass Kinderliteratur die Welt in regenbogenbunten Farben verklärt, sondern dass sie ein Ort ist, wo Gesellschaft noch utopisch modellierbar bleibt, und zwar ohne den Ausschluss faktischer Schatten und psychisch-emotionaler Abgründe. Diese Art der Kinderliteratur der Gegenwart versteht sich als neoaufklärerisches Erkenntnismedium, insofern sie an sozial verantwortliche und zugleich freiheitliche Selbsterfahrung und Lernfähigkeit des Einzelnen glaubt.

 

Literatur

Baßler, Moritz (2022): Populärer Realismus. München.

Baßler, Moritz und Heinz Drügh (2021): Gegenwartsästhetik. Konstanz.

Böhm, Anna (2018): Emmi und Einschwein. Hamburg.

Fiedler, Leslie: Cross the Border – Close the Gap. In: Playboy, S. 151-258.

Frank, Manfred (1991): Die Unhintergehbarkeit von Individualität: Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer „postmodernen“ Toterklärung. Frankfurt/M.

Gabriel, Marcus et al. (2022): Auf dem Weg zu einer Neuen Aufklärung: Ein Plädoyer für zukunftsorientierte Geisteswissenschaften. Bielefeld.

Gumbrecht, Hans-Ulrich (2010): Unsere breite Gegenwart. Berlin.

Jauß, Hans Robert (1989): Studien zum Epochenwandel der ästhetischen Moderne. Frankfurt/M.

Kling, Marc-Uwe und Astrid Henn (2019): Das Neinhorn. Hamburg.

Kling, Marc-Uwe und Astrid Henn (2021): Die Schlangeweile. Hamburg.

Kling, Marc-Uwe und Astrid Henn (2018): Der Tag, an dem die Oma das Internet kaputt gemacht hat. Hamburg.

Lützeler, Paul Michael (1998): Nomaden und Arbeitslose. Identität in der Postmoderne. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 9/10, S. 908-918.

Scholz, Danilo (2016): Reflexe. Zur Wiederauferstehung des poststrukturalistischen Popanzes im deutschen Feuilleton. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. https://www.merkur-zeitschrift.de/2016/12/09/reflexe-zur-wiederauferstehung-des-poststrukturalistischen-popanz-im-deutschen-feuilleton/ [7.4.2023].

Weixler, Antonius et al. (Hg.) (2022): Postfaktisches Erzählen? Post-Truth – Fake News –  Narration. Berlin/Boston.

Welsch, Wolfgang (2008): Unsere postmoderne Moderne. 7. Auflage. Berlin

 

 

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