The Clash of Mediatizations
von Jochen Venus
9.5.2023

›Let’s-Play‹-Videos und der Mythos des Computerspiels

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 43-47]

Die Massenmedien zeigen sich im Gewand einer je eigenen Mythologie: Jede Nachrichtensendung gibt vor, das Wichtigste vom Tage zu verkünden; jedes A-Movie will Inkarnation der globalisierten Traumfabrik sein; jeder Rock’n’Roll-Act prätendiert, riskante Maximalintensitäten zu pflegen.

Das Massenmedium Computerspiel verheißt Folgendes: Aus den Tiefen reiner Information lassen sich mithilfe von Algorithmen und elektronischen Rechnern, Monitoren, Eingabegeräten und Sensoren alternative Welten inszenieren, in denen wir ohne weitere Gründe und Folgen all das verwirklichen können, was unsere natürlichen und sozialen Lebensbedingungen uns in der realen Welt verweigern. Das Computerspiel verspricht nichts Geringeres als einen medialen Totaleskapismus, der das restlose Eintauchen in eine alternative Welt mit der Reversibilität aller Handlungen verbindet. Man kann immer zurück zum letzten Savepoint oder auch das komplette Spiel von Neuem beginnen.

Zwar beweist jede authentische Erfahrung mit Computerspielen, dass die Wirklichkeit digitalisierten Probehandelns systematisch hinter ihrem Mythos zurückbleibt: Die Algorithmen der Spiel- und Grafik-Engines produzieren ausschließlich serielle Modellfälle, niemals Singularitäten; es gibt im navigierbaren virtuellen Bildraum kein Realität stiftendes Hier und Jetzt, sondern lediglich ein sinnlich dünnes, unbestimmtes Dort und Dann, das der situativen Bestimmtheit des Spielenden perfekt entzogen bleibt; im Verlauf des Spiels ist der Horizont der virtuellen Handlungsmöglichkeiten recht bald abgeschritten; die Kulissenhaftigkeit der Szenerie ist dann jederzeit unmissverständlich präsent. Jedes einzelne Computerspiel dementiert den Mythos, der sich um alle zusammen rankt.

Das muss auch so sein, denn die Zielspannung, die das Spielen motiviert, nämlich die Spielwelt beherrschen zu wollen, erfüllt sich eben darin, dass sich das Konstruktionsprinzip der Spielwelt im Spielverlauf immer deutlicher zu erkennen gibt. Der Spielerfolg fällt zusammen mit der Desavouierung der virtuellen Realität. Die rezeptive Eroberung eines Spieltitels verwandelt die virtuelle Realität seiner Szenerie in die reale Artifizialität seines ludischen Regelsystems.

Dieser Preis des Spielspaßes wird unter der Hand gezahlt. Dass sich das Immersionsversprechen des Computerspiels selbst destruiert, bleibt in der finsteren Innerlichkeit der individuellen Rezeption eingeschlossen und wird nur selten kommuniziert. Computerspielmarketing und Medienpädagogik sorgen in gegenläufigem Interesse und mit einander stabilisierenden Übertreibungen dafür, dass die Idee der eskapistischen Lebenssimulation weiterhin das tragende Element der Computerspielmythologie bleibt.

Gleichwohl scheint die geltende Medienmythologie in der letzten Zeit fadenscheiniger zu werden, jedenfalls wenn man sich die neueren Remediatisierungspraktiken vergegenwärtigt, die im Internet auf ›klassischen‹ Medienprodukten aufsetzen. Es ist wohl kein Zufall, dass im Internet, das im Mediensystem noch keinen rechten Ort hat, da in ihm alle medialen Grenzen verschleifen und klar umrissene mediale Handlungsrollen diffus werden, mediale Praktiken sprießen, die medial entmythologisierend wirken. Der mehr oder weniger ungepflegte Online-Journalismus und die wild wuchernden Shitstorms des twitternden Kommentariats zerstören den Mythos klar umgrenzter Tagesaktualität und einer gemäßigten bürgerlichen Öffentlichkeit. YouTube konfrontiert das Ideal des überlebensgroß erzählten Spielfilms der Gesellschaft mit einer dezentrierten Albtraumfabrik, in der alle groß gemeinten Bewegungsbilder zum Material einer formal nivellierenden Remix-Kultur werden. Die Bilder und Klänge der Massenmedien und populären Künste, die im Internet verarbeitet werden, offenbaren, aus ihrem Ursprungskontext gerissen, ihre reine Sichtbarkeit und Hörbarkeit diesseits aller medienmythologisch stabilisierten Verstehenshorizonte. Im besten Fall entsteht so eine performative Wissenschaft populärer Formen: Die Sampling-, Remix- und Mashup-Praktiken des Internets trennen die sinnlichen Qualitäten der medialen Formenrepertoires von ihren ursprünglichen semiotischen Funktionen und ziehen so Mythos und Realität der Medien auf prägnant erfahrbare Weise auseinander. Der Schritt von einer formal nivellierenden Remix-Kultur zur fröhlichen Wissenschaft formästhetisch und semiotisch aufschlussreicher Mashups vollzieht sich als kommunikative Schließung differenter Mashup-Genres.

Im Bereich der Computerspiele haben sich schon seit Längerem zwei Remediatisierungsgenres herauskristallisiert, die den ›offiziellen‹ Computerspielmythos performativ konterkarieren: ›Mods‹, mehr oder weniger tiefgreifende Modifikationen kommerzieller Spieltitel durch programmiertechnisch versierte Spieler, und ›Machinimas‹, mehr oder weniger aufwändig produzierte ›Spielfilme‹, die von künstlerisch ambitionierten Spielern auf der Basis der Grafik-Engine eines Spiels entwickelt werden.

Neben diesen beiden Genres scheint sich in den letzten beiden Jahren ein drittes Genre zu konsolidieren: das so genannte ›Let’s-Play‹-Video. ›Let’s-Play‹-Videos sind Videomitschnitte von Computerspielsitzungen, die mit einem Voice-over-Kommentar des jeweiligen Spielers unterlegt sind. Zumeist wird der gesamte Spieldurchlauf in mehreren Teilen präsentiert. ›Let’s-Play‹-Videos zeigen die audiovisuelle Form eines Computerspiels und lassen zugleich einen Spieler hörbar werden, der in einer Art Thinking-aloud-Test seine Wahrnehmungen und Assoziationen während des Spielens schildert.

Ihrer Herkunft nach stehen ›Let’s-Play‹-Videos in der Tradition von ›Tutorials‹ und ›Walk-Throughs‹, die von Einzelhinweisen, wie bestimmte Schwierigkeiten eines Spiels zu meistern sind, bis hin zu Textprotokollen vollständiger Lösungswege die Spielbarkeit eines Titels für alle Spielwilligen garantieren. Der Video-Mitschnitt von Spielsessions hatte ursprünglich allein illustrierenden Charakter. Die erste eigenständige Form von Videomitschnitten waren sogenannte ›Run-Throughs‹, die Beweisstücke für die schnellstmögliche Bewältigung einer Spielherausforderung präsentierten. ›Run-Throughs‹ zeugten nicht nur von der artistischen Steigerbarkeit der menschlichen Fähigkeit, das sensomotorische Zusammenspiel von Auge und Hand zu koordinieren, sie zeigten auch das ästhetische Artefakt des Computerspiels in seiner letztgültigen Gestalt: Als absolut beherrschtes artifizielles Regelsystem, demgegenüber die phantasievoll gestalteten virtuellen Szenerien, die Spielfiguren, Landschaften, Gebäude und Werkzeuge nur »gift-wrapping« (Markku Eskelinen) sind.

Die ›Let’s-Play‹-Videos bilden eine Art Komplementär-Genre zu den ›Run-Throughs‹. In ihnen wird nicht die vollendete Spielkompetenz ausgestellt, sondern im Gegenteil eine Art ›sophisticated illiteracy‹ gepflegt. Typischerweise sind die Spielenden, die in den ›Let’s-Play‹-Videos ihre Spielsitzungen aufzeichnen, mit den typischen Eingabefunktionalitäten, Missions- und Levelstrukturen der verschiedenen Computerspielgattungen vertraut, in ihren Kommentaren unterlaufen sie aber zumeist diese Kompetenz durch eine stilisierte Naivität, mit der frei assoziierend der Handlungsverlauf kommentiert wird (so etwa, wenn der vom Spieler gesteuerte Avatar dem Spieler ein narrativ inkonsistentes Handlungsmotiv aufnötigt: »Was los? Du weißt auch nicht, was Du willst!«), innere Monologe und äußere Dialoge des gespielten Avatars betont anachronistisch fantasiert werden (etwa im mittelalterlich-orientalischen Setting des Spiels »Assasin’s Creed«: »Boah, ich sehe ja schick aus!«,  »Ey, ihr Penner, kommt doch her, wenn ihr euch traut!«), die Spielmechanik beurteilt wird (»Mann, was ist das für eine hakelige Steuerung!«) oder mehr oder weniger passende Textzeilen aus Popsongs, Fernsehserien oder Kinofilmen zitiert werden (»You talkin’ to me? You talkin’ to me? You talkin’ to me?«). Bei diesem lauten Denken, mit dem die Spieler ihre Sitzungen illustrieren und erläutern, fällt auf, dass auf die narrativen Motive und die fiktionale Psyche des Avatars kaum eingegangen wird, dass aber das Erlebte auch nicht in rein spielfunktionalen Termini verbalisiert wird. Der Avatar wird wechselnd als dritte Person und als erste Person, oft auch mit unklarem personellen Status, in einer Art schwebender Intentionalität, als ›wir‹ beschrieben. Typisch sind Sätze, die zwischen einer ironischen Distanz zum Geschehen und einem erstpersonalen Erleben schweben; Sätze wie: »Ah, coole Grafik«, »Was finden wir denn hier?«, »Upps, da ist ja noch einer« (angesichts eines unerwarteten Non-Player-Characters).

Bemerkenswert an der Form der ›Let’s-Play‹-Videos ist ihr unvermeidlich demaskierender Effekt: Indem wir selbst nicht an den Eingabegeräten sitzen, sondern aus unbeteiligter Distanz das Spielgeschehen betrachten, teilt sich uns die Spielspannung, der Handlungsdruck der virtuellen Hindernisse und Gegner, nicht mit. Wir sehen lediglich die virtuelle Szenerie, das fiktionale Als-ob der virtuellen Welt. Und just dieses fiktionale Als-ob wird auch durch den Voice-over-Kommentar permanent konterkariert. Indem wir ›Let’s-Play‹-Videos ansehen, nehmen wir die virtuelle Welt des Computerspiels als schräges Artefakt wahr, nicht aber als das Faszinosum, als das es uns die Computerspielmythologie darstellt.

Man könnte das Genre der ›Let’s-Play‹-Videos für ein Epiphänomen ohne systematische Signifikanz halten. Schon immer haben sich die populären Künste in eigentümlichen Fan-Praktiken fortgesetzt, die den Mythen dieser populären Künste zuwiderliefen. Das Erstaunliche aber ist, dass die ›Let’s-Play‹-Videos ganz offenbar nicht nur als zweifelhafte Selbstdarstellung von Computerspielfans fungieren, sondern eine Faszinationskraft eigenen Rechts ausstrahlen. Man kann dies an den Klickzahlen der ›Let’s-Play‹-Videos ablesen. Je offensichtlicher ›Let’s-Play‹-Videos Computerspiele als schräge Artefakte ausstellen und je prägnanter der Personalstil des Voice-over-Kommentators ist, desto mehr Aufmerksamkeit ziehen sie auf sich.

So treten aus der Masse der ›Let’s-Play‹-Kultur einzelne ›Kultautoren‹ auf die Bühne, welche die Produktion von ›Let’s-Play‹-Videos zu professionalisieren beginnen und mit bewusst launigen und schrägen Kommentaren sich eine Fan-Basis aufbauen und ihre Klickzahlen optimieren. Das YouTube-Partnerprogramm ermöglicht ihnen, sich an den Werbeeinnahmen der Plattform zu beteiligen und aus den ›Let’s-Play‹-Videos ein Geschäftsmodell zu machen. Wie Spiegel-Online jüngst berichtete, hat sich der erfolgreiche ›Let’s-Play‹-Autor Commander, der im wirklichen Leben André Krieger heißt, seit Sommer 2011 vollständig auf dieses Geschäftsmodell konzentriert und daraus einen Acht-Stunden-Job gemacht. Ein anderer ›Let’s-Play‹-Autor, Gronkh, hat seine unzähligen »Minecraft«-Sitzungen teilweise mit derart dadaistisch-traumverlorenen Nonsens-Kommentaren gespickt, dass seine Voice-over-Stimme ihrerseits zum Samplingmaterial eines prämierten Music-Clips wurde (Rahmschnitzel feat. Gronkh: »Kohle Metal«, Deutscher Webvideopreis 2012, Sparte: ›Let’s-Play‹).

Diese Popularität, beginnende Professionalisierung und ästhetische Würdigung des Genres spricht gegen seinen epiphänomenalen Status. Offenbar verdeutlichen ›Let’s-Play‹-Videos eine latente Funktion von Computerspielen, die in ihrer Mythologie nicht artikuliert wird. Es scheint gerade die ironische Distanz gegenüber der virtuellen Welt zu sein, das geradezu Antiimmersive des Computerspiels, das sich in ›Let’s-Play‹-Videos stilisiert zur Geltung bringt. Man könnte vermuten, dass sich in der dokumentierten ›Thinking-aloud‹-Rezeption des ›Let’s-Play‹-Videos die sonst unkommunizierte Spielerfahrung versinnlicht findet und dies bei den Betrachtern solcher Videos einen Aha-Effekt produziert. Und wenn man unter dem Gesichtspunkt der ›Let’s-Play‹-Ästhetik das Computerspiel als populäres Darstellungsmedium beobachtet, das in der medienhistorischen Ordnung von Theater und Film zu situieren wäre, fällt in der Tat ein bis dato kaum diskutierter Umstand auf: Die marionettengleich steuerbaren Computerspielfiguren, die Avatare, ermöglichen erstmals in der Mediengeschichte einem globalen Massenpublikum, dramatische Figuren zu verkörpern.  Avatare sind weltweit verfügbare Körperhüllen, in die hineinzuschlüpfen nicht mehr das Privileg einer besonderen sozialen Handlungsrolle ist. War es bisher das Privileg von mehr oder weniger professionellen Schauspielern und Puppenspielern, sich im magischen Zirkel des fiktionalisierten Raums öffentlich und offensichtlich als eine andere Person oder ein anderes Wesen zeigen und erleben zu können, so ist diese Darstellungsfunktion: das Rollenskript eines anderen auszuagieren, im Kontext des Computerspiels keine soziale Handlungsrolle eigenen Rechts mehr. Während die schauspielende Person in der verkörperten Figur mitanwesend ist und so auch immer die soziale Rolle der Schauspielerei exemplifiziert, bleibt die computerspielende Person dem Spielgeschehen auf eigentümliche Weise entzogen. Die Spielenden sind im Körperschema des Avatars ebenso unscheinbar anwesend wie das Verhalten der Avatarfigur der körperlichen Performanz des Spielenden äußerlich bleibt.

Phänomenologisch fällt an diesem Körpercode des avatarbasierten Computerspiels vor allem auf, wie außerordentlich rigide er zwischen privater Spürbarkeit und öffentlicher Wahrnehmbarkeit trennt: hier die leibkörperliche Privatheit (die vor dem Bildschirm stattfindet und in den ›Let’s-Play‹-Videos als Off-Stimme firmiert), dort die inszenierte Öffentlichkeit (die im abstrakten Bildraum des Bildschirmbildes stattfindet). Indem das ›Let’s-Play‹-Video diese rigide Trennung, die vom Computerspielmythos verschwiegen, wenn nicht geleugnet wird, drastisch exponiert, stellt es den Körpercode, den das Computerspiel stillschweigend propagiert, zur Disposition. Im Licht der ›Let’s-Play‹-Videos fällt eine Künstlichkeit der kybernetischen Besonnenheit auf, die uns das Computerspiel stillschweigend antrainiert. So souverän steuernd und dabei zugleich so leibkörperlich unbeteiligt wie uns das Computerspiel codiert, können wir im Ernst nicht sein. Das Detachement des Computerspiels ist ebenso peinliche Prätention wie die Vollverantwortlichkeit des klassischen Subjekts. Dies unmissverständlich zur Geltung zu bringen, ist der ästhetische Reiz und die medienanalytische Funktion der ›Let’s-Play‹-Videos.

 

Schreibe einen Kommentar