Die Normalwissenschaft und eine ihrer filmreifen Alternativen
In einer frühen Phase der Pandemie gab es eine Stoffmaske mit dem Aufdruck: „Every Disaster Movie Starts with the Government Ignoring a Scientist.“ Auf meinen Post mit einer Fotografie dieser Maske auf Twitter antwortete @joergscheller am 24.12.2020: „And some start with governments blindly following those who claim to be scientists.” Sicher epistemologisch zu verorten und ohne Weiteres zu befürworten sind die Aussagen einzeln und in ihrem Zusammenspiel nur, wenn man entweder ein allgemeingültiges, unhinterfragtes Verständnis davon hat, was Wissenschaft(en) bzw. Wissenschaftler:innen sind und dass sie nach bestem Wissen und Gewissen nach anerkannten und zuverlässigen Methoden zutreffende Aussagen über die Welt tätigen, oder wenn man die Position des:derjenigen kennt, der:die die Aussagen trifft, und man ihm:ihr als Person vertraut, wobei letzteres darauf basiert, dass man dieser Person zutraut, auf einem verifizierten oder zumindest nicht falsifizierten wissenschaftlichen Stand zu argumentieren.
Nach bestem Zutrauen, Wissen und Gewissen kann man beide Aussagen folgendermaßen lesen: Äußerung 1: Wenn wir denjenigen, die vor SARS-CoV-2 warnen, glauben und ihrem Rat folgen, können wir ein Desaster vermeiden. Äußerung 2: Dabei müssen wir ausschließen, dass es sich um falsche Wissenschaftler:innen oder Pseudo-Wissenschaftler:innen handelt, die sich den Status als Wissenschaftler:innen lediglich zuschreiben.
Im Sinne der Interpretation der ersten Äußerung handelt es sich bei den falschen Wissenschaftler:innen in der zweiten Äußerung um Covid-Verharmloser:innen. Aber die zweite Äußerung (von Scheller) impliziert in einem ironischen Modus, dass die erste Äußerung durchaus auch anders interpretiert werden könnte und dass sie eigentlich nichts aussagt, solange sie nicht inhaltlich konkretisiert wird, dass sich aber auch die zweite Äußerung für sich genommen in diesem unentschiedenen Zustand befindet. Die erste Äußerung wurde nun ihrerseits (von mir) mit dem Bewusstsein gepostet, dass sie eigentlich vieldeutig ist, aber dass wir vernünftigen Menschen trotzdem ganz genau wissen, was eindeutig der Fall ist, nämlich: Leute, tut alles, um uns vor Covid zu schützen. Ich habe diesen Konsens mit arrogantem und ignorantem Gestus vorausgesetzt, weil es nun einmal das Richtige ist, wissend, dass manche denken, dass es auch anders sein könnte, und auch bei dieser Äußerung bin ich mir des ihr inhärenten Postulats bewusst, über das man ewig diskutieren könnte – könnte, nicht sollte ;).
Dass in beiden Äußerungen nicht gemeint sein kann, dass man nun gemäß den Einschätzungen derjenigen Personen handeln sollte, die die Existenz des Virus oder dessen Gefährlichkeit völlig in Abrede stellen, ergibt sich aus dem Wissen um meine eigene Person und dem sicheren Vertrauen darauf, dass die Person Jörg Scheller nicht dazu neigt, sich in kruden Verschwörungsnarrativen zu verlieren. Aber auch unter dieser Voraussetzung bleibt die Möglichkeit bestehen, dass hinsichtlich der Frage, welchen Wissenschaftler:innen nun zu folgen sei, ein Dissens besteht. Es kann vermutet werden, dass Jörg Scheller und ich auf Grundlage eines gemeinsamen Nenners (!) und einer übereinstimmenden Einschätzung dessen, was gar nicht geht, doch zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen können und kommen, welche wissenschaftlichen Standpunkte wir konkret als die validesten erachten und welches kollektive Handeln daraus im Einzelnen abzuleiten ist.
So weit, so gut. Und so weit, so verhandelbar. Gerade die impliziten Verständnisvoraussetzungen in unseren Posts indizieren, dass wir (mit guten Gründen) glauben, uns auf einem Common Ground zu bewegen, dass wir aber wissen, dass auch diejenigen, die sich nicht auf diesem Common Ground bewegen, diese Äußerungen lesen und je unterschiedlich interpretieren. Nun dürfte allgemein bekannt sein, dass es aber noch viel komplizierter ist.
Wir Wissenschaftler:innen und vor allem wir Kulturwissenschaftler:innen wissen natürlich am besten, dass es gar nicht so einfach ist, den Stand der Dinge oder Diskurse einzuordnen. Wir sprechen über Epistemata, Wissenskulturen, Aushandlungspraktiken, Machstrukturen usw. usf. Von Foucault bis Latour und darüber hinaus handeln wir nicht nur Wissen über Gegenstandsbereiche aus, sondern führen reflexiv mit, dass die Verankerung von Wissen ihrerseits stets hinterfragbar bleibt – absolut hinterfragbar oder nur bis zu einem gewissen Grad… auch hier kommt es darauf an…
Hinzu kommt, dass wir aktuell mit Feinden unserer modernen Zivilisation konfrontiert sind, die Narrative geltend machen und normalisieren, die sich weit außerhalb allem bewegen, was wir auch im Rahmen der soeben genannten Diskussionen beim besten Willen und nach bestem Wissen und Gewissen anerkennen können. Eine Interpretation der ersten Äußerung in dem Sinne, dass das Desaster daraus resultiert, dass die Regierung Covid-Leugner:innen usw. usf. ignoriert, dass man also anders ausgedrückt, auf Covid-Leugner:innen usw. usf. hören sollte, ist schlicht absurd.
Aber natürlich reklamieren diejenigen, die sich auf diese Position beziehen, nicht nur Foucault, die Dekonstruktion, den Konstruktivismus etc. für sich – wie es Latour eben problematisiert hat –, sondern sie können auch schlicht historisch geltend machen, dass die wissenschaftlichen Underdogs nicht selten in die Geschichte eingegangen sind. Nur axiologisch, nicht aber logisch oder epistemologisch kann man es lächerlich finden, wenn sich Covidiot:innen mit Galileo identifizieren. Dass etwas oder jemand mal ‚alternativ‘ war, um aufzuklären oder im zivilisierten Sinne aufklärungskritisch die Aufklärung zu vollenden, wird nun eingesetzt, um die Zivilisation zu sabotieren.
Naturwissenschaftlich und medizinisch lässt sich nun leicht erweisen, dass es SARS-CoV-2 gibt, dass es gefährlich ist, dass man sich damit besser nicht infizieren sollte und dass Maskentragen (aber lieber nicht aus Stoff, sondern FFP2) neben diversen anderen Maßnahmen wie Impfen und die Vermeidung von Menschenansammlungen in Innenräumen schützen, aber auf naturwissenschaftlichem Terrain bewegen wir uns schon lange nicht mehr.
Vielmehr kann nun wissenschaftshistorisch diskutiert werden, wie sich bestimmte wissenschaftliche Epistemata in einer irrsinnigen Verdrehung gegen sich selbst wenden, oder man kann sich anschauen, aus welchen populärkulturellen Beständen sich pseudo-wissenschaftliche Narrative speisen. In diesem Sinne seien ein paar Überlegungen zu den aktuellen Desaster-Filmen Don’t Look Up (2021) und Troll (2022) angebracht, die allerdings nicht die Pandemie thematisieren, sondern mittels eines Kometeneinschlags und der Erweckung eines norwegischen Trolls den Klimawandel.
Don’t Look Up
Don’t Look Up ist in epistemologischer Hinsicht ein recht eindeutiger und simpler Film. Er setzt mit einer Szene ein, in der Wissenschaftler:innen, genauer gesagt Astronom:innen bei der Arbeit gezeigt werden. Mit modernen Messinstrumenten, in diesem Fall einem gigantischen Teleskop, wird eine Entdeckung gemacht, die sich eindeutig verifizieren lässt, aber zunächst mit bloßem Auge nicht zu erkennen ist: Ein Komet rast auf die Erde zu. Viele wollen es nicht wahrhaben, andere es ökonomisch instrumentalisieren, 5 vor 12 verstreicht, und das Leben auf der Erde wird nahezu vollständig ausgelöscht. Hätte man mal besser auf die Frau mit den Nasenringen, die eingangs einen Hip-Hop-Song mitsingt und ein ebenso ungesundes wie reizloses trockenes Toast isst, und den uncoolen, tollpatschigen Typen, der in einer Talkshow die Nerven verliert, gehört. (Dass Leonardo Di Caprio jemanden spielen kann, den man sich rein optisch und habituell auch als Incel vorstellen könnte, ist schon eine Leistung.)
Die Astronom:innen einer staatlichen Universität, die zu Beginn des Films die Umlaufbahn des Kometen händisch auf einer Tafel berechnen, werden, obwohl sie institutionell verankert sind, als ‚alternativ‘ oder nicht dem ‚Mainstream‘ der Gesellschaft zugehörig vorgeführt und in diesem Status im Verlauf des Films mit zunehmender Dignität versehen, während das ‚System‘ und die ‚Etablierten‘, wie gesagt, die Gefahr nicht wahrhaben wollen oder glauben, sie ökonomisch instrumentalisieren zu können. Bezeichnend ist u.a. die Szene, in der Dr. Mindy zu Beginn des Films darauf verweist, er habe schon länger nichts mehr publiziert (00:06:55). Es soll nun nicht im Einzelnen nachvollzogen werden, mit welchen Mitteln die beiden Wissenschaftler:innen augenscheinlich dekonstruiert werden, aber dies geschieht recht deutlich und wird gepaart mit dem Wissen der Zuschauer:innen, dass sie Recht haben, und der spektakulären Bestätigung am Ende, dass sie Recht hatten. Insgesamt zeigt sich das Narrativ, dass die als Underdogs gekennzeichneten Figuren, denen man auf den ersten Blick nichts zutraut, diejenigen sind, nach deren Einschätzung man staatliches, militärisches, ökonomisches und gesellschaftliches Handeln lieber hätte ausrichten sollte, um die Welt zu retten.
Das entspricht nicht den realen diskursiven Gegebenheiten rund um den Klimawandel!! In der Realität verhält es sich tatsächlich so, dass die allermeisten Wissenschaftler:innen die Gefahr sehen und ein wissenschaftlicher Konsens besteht und dass sogar die meisten anderen gesellschaftlichen Akteur:innen demnach handeln wollen, aber Details jonglieren und trotzdem nicht unisono denken, sprechen und handeln können. D.h. in der Realität sind die ‚Alternativen‘ recht eindeutig die so genannten Klima-Leugner:innen, während im ‚Mainstream‘ durchaus Einigkeit darüber besteht, die Scientists nicht ignorieren zu wollen, aber darüber gestritten wird, wie, in welchem Maß, mit welcher Priorität und Geschwindigkeit welche Klimarettungsmaßnahmen implementiert werden können und müssen.
So nett der Film auch gemeint und so sympathisch der kapitalismuskritische Einsatz des Elon-Musk-Verschnittes auch sein mag, so folgt Don’t Look Up doch einem bestimmten filmhistorisch etablierten narrativen Muster und nicht den aktuellen Debatten rund um den Klimawandel, indem er den Typus ‚verrückte Wissenschaftler:innen‘ als diejenigen ausweist, die gegen den ‚Mainstream‘ Recht behalten. Diese Anordnung wird der lebensweltlichen Debatte nicht gerecht. Vielmehr liefert sie ein filmisches Skript mehr dafür, dass sich Querulant:innen, die etwas sehen, was die anderen nicht sehen, im Recht befinden.
Von Querulant:innen zu Querdenker:innen ist dann der Weg nicht mehr weit. D.h. das Underdog-Narrativ, das in Filmen so wunderbar funktioniert und das sich in Filmen durch jedes Thema durchdeklinieren lässt, kann, wenn es auf aktuelle epistemologische Problemlagen trifft, diejenigen bestätigen, die sich nicht mehr auf methodisch und argumentativ gestützte wissenschaftliche Aussagen beziehen, obwohl der Film ganz eindeutig zeigt, wie sehr die beiden Wissenschaftsfiguren dies tun. Die ‚Wissenschaft‘, die Erkenntnis, Methodik etc. ist im Film ganz auf der Seite der Figuren und somit der Film auf der Seite der Wissenschaft. Die Figuren, die diese im Film verkörpern, könnte man sich aber auch auf der ‚alternativen‘ Seite vorstellen. Die noch nicht etablierte Doktorandin und der nicht mehr etablierte nicht publizierende Professor verkörpern als Typen Außenseiter.
Was mag von dem Film hängen bleiben? 1. Wissenschaftlich avancierte Methoden können uns helfen, den Planeten zu retten. Oder: 2. Wer mit Nasenring, Stottern und Brille am lautesten schreit und wer am heftigsten aus dem Diskurs verbannt wird, hat am Ende Recht. Ersteres will der Film zeigen, und er entspricht in diesem Sinne einem wissenschaftszugewandten Paradigma. Zweiteres könnte eine Nebenwirkung des Figuren- und Handlungsgefüges sein, die absolut problematisch ist, weil sie wissenschaftsfeindliche Narrative und (Selbst-)Bilder stützt.
Außenseiterfiguren werden in Desaster-Wissenschafts-Narrativen oftmals bestätigt, und zumeist weisen sie dabei die avancierteren Methoden und die plausibleren Argumentationen auf, was sich per se im Rahmen der Wissenschaftlichkeit bewegt. Dass aber die hegemoniale Wissenskultur jeweils als unterlegene ausgewiesen wird, die blind und zu diesen Operationen nicht fähig ist, ist erstens nicht realistisch oder wahrscheinlich und wird zweitens dann problematisch, wenn es (bewusst oder unbewusst) auf die Realität übertragen wird und unser Zutrauen in die Wissenschaft als System erschüttert. Eine epistemologische Verankerung des Wissens in einzelnen Akteuer:innen, die anders und laut sind, statt im Wissenschaftssystem kann man ich im Sinne unserer modernen Zivilisation nicht wünschen.
Da der Film einen Kometen als apokalyptische Bedrohung einsetzt, geht es nicht um Schuld. Zivilisatorische Phänomene wie Wissenschaft und Wirtschaft tragen zur möglichen Rettung oder endgültigen Zerstörung bei, sie haben das Problem im Rahmen der Kometen-Allegorie aber nicht verursacht. Damit ist die Allegorie unterkomplexer als das signifizierte Szenario und lässt einige unangenehme Fragen zur Kehrseite wissenschaftlich-technologischen Fortschritts nicht zu bzw. er zeigt in diesem Sinne nicht die Kehrseite zivilisatorischer Phänomene, die Troll darstellt.
Troll
In Troll weckt die Sprengung eines gigantischen, noch unberührt erscheinenden Berges für den Bau einer Bahnstrecke einen Troll. Damit rechnet im norwegischen Szenario niemand, aber Demonstrant:innen hatten eindringlich vor der nicht unmittelbar notwendigen Zerstörung der Natur gewarnt. Dass der Troll als Allegorie auf Umweltzerstörung gelesen werden soll, wird später ein zweites Mal mit dem Zaunpfahl nahegelegt, als ein Wissenschaftler wunderliche Phänomene (der Troll ist noch nicht entdeckt, aber es gibt Zeichen) ausdrücklich als Konsequenzen einer solchen ausweist (01:13:10). Zwar taucht der Wissenschaftler im weiteren Verlauf nicht mehr auf, weil er wirklich oder vermeintlich nicht über ausreichende Kompetenz für den Fall verfügt, aber seine Deutung bleibt hängen, zumal der Troll ja tatsächlich aufgrund der Zerstörung des Berges erwacht ist. Das Vorzeichen, dass es sich bei dem Film um eine Allegorie handelt, wird also mehrfach gesetzt. Spätestens als norwegische Mythen und Legenden ins Spiel kommen, erscheint der Troll als Personifikation der Berge respektive Natur selbst, bestehen Trolle doch quasi aus Stein, sind sie also der beseelte Teil dieser Naturformation.
Als zu Beginn des Films Krater, Staubwirbel und neue Bodenformationen entstehen, wird die Paläobiologin Nora Tidemann zur Klärung des Rätsels bzw. zur Deutung dieser Zeichen hinzugezogen. Es gibt also Indizien, aber zunächst ist unbekannt, was sie indizieren. Zur Interpretationsgemeinschaft oder Task Force gehören auch Militär und Politik, aber eine prominente Rolle kommt der Wissenschaft zu. Und die erste Erkenntnis lautet: Bei den Bodenformen handelt es sich um Fußabdrücke.
Dies wird zunächst von Andreas Isaksen, dem Assistenten der Ministerin, in einem eher unernsten, ratenden Ton bemerkt (01:09:42). Anschließend tut Nora ganz ernsthaft und überzeugt die gleiche Interpretation kund (01:13:10). Interessant an dieser Zeichendeutung ist die Tatsache, dass hier vor allem Phantasie und der gesunde Menschenverstand/Augenschein bemüht werden und keinerlei wissenschaftliche Untersuchungen dahinterstehen. Isaksen ist Fiction-Fan und möchte Schriftsteller werden, und Nora haut die Schlussfolgerung auf den ersten Blick raus. Was hier unmittelbar in der Form gesehen und assoziativ, intuitiv oder reflexartig geschlossen und zugeordnet wird, erweist sich als richtige Einschätzung. Es ist fraglich, und es bleibt im gesamten Film ostentativ fraglich, ob man die Paläobiologin als solche überhaupt braucht, um eine geografisch-biologische Struktur zu analysieren.
An wenigen Stellen lässt Nora explizit wissenschaftliche Vorsicht walten: „Das wird sich noch zeigen.“ (01:22:16); „Der Punkt ist, dass wir eigentlich nicht wissen, mit was wir es zu tun haben, bis wir es im Laufe der Zeit untersuchen können.“ (01:37:00) Außerdem steht sie ihrem Vater skeptisch gegenüber (01:20:00, vgl. auch 01:32:30). Aber letztlich erweist sie sich als dessen Tochter, und eigentlich braucht man Nora weniger als Paläobiologin denn als Tochter ihres Vaters Tobias Tidemann, der sich in der wissenschaftlichen Community mit kruden Theorien desavouiert hatte und sogar „eingesperrt“ wurde, bevor er Publikationen veröffentlichen konnte, mit denen er seine Theorien zu beweisen können glaubte (01:30:37). Foucault lässt grüßen, zumal im Film enthüllt wird, dass Tobias immer Recht hatte.
Seine Thesen lauten: 1. Es gibt Trolle. 2. Märchen berichten ganz wörtlich die Wahrheit über Trolle. 3. D.h. Märchen können und müssen wörtlich gelesen werden. 4. Erfährt man dann, dass Trolle u.a. aus Stein bestehen, im Zuge der Christianisierung verdrängt und ausgerottet wurden und dass sie deshalb aggressiv auf christliche Symbole und Rituale wie Kreuze und Kirchenglocken reagieren. 5. Außerdem lernt man, dass Sonnenlicht sie töten kann.
Hinzu kommt, dass es gemäß dem Film tatsächlich eine Verschwörung gab. Eine Handvoll Personen hat gewusst, dass es Trolle gibt und dass sich deren Skelette im Keller des Königlichen Schlosses in Oslo befinden, und diese Personen haben den Vater einst diskreditiert, um das Geheimnis zu wahren: Ergo gilt: Wer an Verschwörungsnarrative glaubt, kann durchaus Recht haben. Und wie soeben bereits gesagt: Wer sich im Irrsinnigen bewegt, kann durchaus die Wahrheit erkennen.
Als erste Szene des Films sehen wir Nora als Kind mit ihrem Vater in den Bergen klettern. Tobias möchte Nora nahebringen, Trollgesichter in Bergspitzen zu erkennen, denn „[i]n jedem Märchen steckt ein Funke Wahrheit. […] Du musst daran glauben, damit Du es sehen kannst.“ (01:01:30). Im kindlichen Saint-Exupéry-Duktus wird ausdrücklich daran erinnert, dass man nur mit dem Herzen wirklich sehen kann.
Die erste Szene der erwachsenen Nora zeigt sie bei einer Ausgrabung, bei der sie explizit das Motto ihres Vaters befolgt, niemals aufzugeben. Als sie in diesem Geiste ein Fossil findet, hält sie eine Rede: „[Nora:] ‘Unmöglich, haben sie gesagt, absurd, sogar verrückt, haben sie gesagt‘ [Nebenfigur:] ‚Ja, das bist Du ja auch‘ […] [Nora:] ‚Aber ich denke, das hier beweist, dass wenn man dem vertraut, was man denkt [Satz bricht ab, weil ein Hubschrauber auftaucht]‘ (00:10:18). Gegen Ende, als völlig klar ist, dass sie im Sinne des Films immer richtig gelegen und gehandelt hat, stellt Nora fest: „[Nora:] ‚Vielleicht bin ich auch so wie Papa. Vollkommen verrückt.‘ [Andreas:] ‚Ja, und in einer verrückten Welt sind nur Verrückte zurechnungsfähig, und es ist keiner so verrückt im Kopf wie sie Nora Tidemann.‘ [Nora:] ‚Danke…. [?] Glaub ich.‘“ (01:18:42)
Penetrant häufig wird in einem positiven Sinn auf Devianz verwiesen. Diese ist nicht nur für sich genommen legitimiert, sondern es ist ja schließlich die Welt, die schief liegt, sodass Devianz nicht nur positiv zu bewerten ist, sondern eigentlich überhaupt keine Devianz darstellt. Die Verrückten rücken alles gerade, z.B. wenn die Welt angesichts von Umweltproblemen am Abgrund steht. Auch hier entspricht die ver-rückte Welt der Wissenschaftler im Film nicht der realen Diskurslage. Zwar ist der ‚Mainstream‘ noch träge und muss er von ‚alternativen‘ Gruppierungen ein wenig angetrieben werden, aber es besteht ein großer Konsens bezüglich der Wahrnehmung einer Notlage seitens der vernünftigen, verantwortlichen Reräsentant:innen ihrer Systeme.
Aber der Film kann noch merkwürdiger, wenn es um die Darstellung der Paläobiologin Nora geht. Auf die Frage, warum sie Paläobiologin geworden ist, führt sie zunächst ihre Liebe zur Kultur auf, was insofern irritierend ist, als hier Natur- und Kulturwissenschaften in eins geworfen werden, was in der Realität auf diese Weise kaum geschehen würde. Schließlich merkt sie an: „Und außerdem bin ich mit vielen Geschichten aufgewachsen. Mein Vater war Professor für Volkskunde und Folklore […].“ (01:20:00) Dass Geschichten eines Volkskundlers nun ausgerechnet die Liebe für die Paläobiologie geweckt haben mögen, mag auf den ersten Blick im Rahmen der Diegese sogar plausibel erscheinen. Schließlich handelt es sich bei dem Troll um eine alte Lebensform, also Paläo-Bios, und es wird ja sogar herausgefunden, wie sie physisch funktioniert, z.B. wie sie auf Licht reagiert. Aber eigentlich ergibt Noras Begründung absolut keinen Sinn, wenn man die geringste Ahnung von Wissenschaftskulturen hat und diese auch nur im Geringsten achtet und ernst nimmt. Der Film würfelt die verschiedensten Paradigmen und Epistemata durcheinander.
Mit ihrem Vater verhandelt Nora die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion sowie Wissenschaft und Mythologie: „[Vater:] ‚Was glaubst du denn, wonach wir hier suchen?‘ [Nora:] ‚Was du suchst, gibt es nur in deiner Fantasie.‘ [Vater:] ‚Dinosaurier galten auch mal als Fantasiewesen.‘“ (01:33:34) Letztlich erweisen sich Mythologie und Legenden sowie deren Deutung als richtungsweisend für die Lösung des Problems. Die Paläobiologie ist als solche endgültig raus, auch wenn anhand von alten Geschichten und Bildern herausgefunden wird, dass Lichteinstrahlung eine geeignete Biowaffe gegen den Troll darstellt, was man im allerweitesten Sinn als paläobiologische Erkenntnis ausweisen kann, denn eigentlich geht es in einem kulturanthropologisch-literaturwissenschaftlichen Sinn darum, aus Mythen und Legenden zu lernen. Dabei besteht der Clou, wie bereits gesagt, darin, des Vaters Deutungsschema zu folgen und diese wörtlich zu lesen. Ausgerechnet die filmische Allegorie führt also vor, wie produktiv der Literalsinn von Texten absolut gesetzt wird. In diesem Sinne Nora: „Angenommen, an den Märchen wäre etwas Wahres dran […]“ (00:53:54)
Noras ‚alternative‘ Haltung ist zumindest, wenn man Ansprüche an die Wissenschaftlichkeit der Figur stellt und ihren Beruf ernst nimmt, problematisch, aber im Sinne des Films einmal mehr legitimiert: Wer vom System abweicht, hat Recht. Und obwohl oder gerade weil es sich bei dem Zurück-zur-Natur-Narrativ um eine kulturkritisches, tendenziell reaktionäres Muster handelt, wird die figürliche Verfassung mit progressiven Elementen versetzt und scheinlegitimiert: Wenn Nora etwa sagt, „das Unglaubliche ist nicht unmöglich“ (01:01:20), klingt dies wie ein wissenschaftliches Fortschrittsnarrativ, bei dem eine Wissenschaftlerin Visionärin ist, und wenn sie einen älteren männlichen Wissenschaftler, der sie als „Fräulein“ bezeichnet, auf ihren Titel als Professorin insistierend aus dem Team kickt (01:17:58), wirkt sie feministisch. Diese kleine Szene ist im Grunde sinnlos. Sie dient dazu, einen ‚traditionelleren‘ Kollegen der Protagonistin ins Abseits zu stellen, sie als Vorreiterin einer neuen Generation zu inszenieren und Sympathie mit ihr zu wecken, und das, obwohl der ältere Kollege im Rahmen dessen, was zu dem Zeitpunkt zu sehen ist, keineswegs dumm oder inkompetent deutet. Visionär und feministisch, dann kann Nora ja gar nicht irren…
Wer nun Noras Deutungen als „Hokuspokus“ deklariert, wie die Ministerin (01:01.20), desavouiert sich durch den wenig reflektierten Einsatz von Gewalt unter Billigung enormer Kollateralschäden. Diejenigen, die sanftere Methoden zur Tötung des Trolls einsetzen wollen, und diejenigen, die Mitgefühl mit ihm entwickeln, sind einzelne, jeweils abweichende Figuren aus allen beteiligten Systemen, also Politik, Militär und Wissenschaft. Der filmische Topos, dass Katastrophenfilme damit beginnen, dass die Regierung Wissenschaftler:innen ignoriert, trifft auf diesen Film schon nicht ganz zu. Und dieser Topos geht zumeist damit einher, dass das Militär Wissenschaftler:innen entgegen steht, aber auch dies ist hier nicht der Fall. Der Soldat Chris zieht bis zu einem gewissen Grad mit Nora mit.
Mehr noch tun dies aber Andreas und die Programmiererin Sigrid. Was nun Vater Tobias, Nora, Andreas und Siegrid eint, ist ihr Bezug zu Narrativen aus der Popular- und Populärkultur. Andreas möchte Schriftsteller werden, spielt Call of Duty und ist Trekkie. Als das Team Maßnahmen aufzählt, wie man den Troll außer Gefecht setzen könnte, bezieht er sich auf die Gremlins, indem er scherzhaft anmerkt, dass man ihn nach Mitternacht nicht füttern soll (00:54:20). Er grüßt Sigrid mit einem Vulkaniergruß (00:11:35) und zitiert Captain Picard, als er sein Go für eine Operation mit dem Satz „Make it so“ gibt (01:10:00). Sigrid selbst zitiert an anderer Stelle Herr der Ringe.
Alle ‚Guten‘ im Film verhalten sich deviant oder ‚alternativ‘ zu dem System, das sie repräsentieren, und sie werden übersystemisch alle dadurch verbunden, dass sie Geschichten lieben, die Welt im Rahmen von Geschichten deuten und teilweise selbst gerne Geschichten erzählen. Nun funktionieren zahlreiche Wissenschaften ja nicht nicht narrativ, aber so sympathisch die Gruppe auch ist, so gefährlich kann es in der Wirklichkeit werden, wenn kollektives Handeln nach fiktionalen Narrativen ausgerichtet wird. Hier sind dann Fake-Erzählung, Pseudo-Wissenschaft und Verschwörungs-Muster nicht weit, und genau diese sind im Sinne des Films legitimiert. Das Narrative allein liefert hier alle nötigen Erklärungen und Handlungsskripte.
Aber die Augen müssen frei sein für dieses Angebot. Das Sehen ist im Film zentral. Zu Beginn geht es um die Frage, mit welchem Blick man welche Muster in Felsspitzen erkennen kann. Später werden Vater und Tochter einmal mehr dadurch verbunden, dass von einer Nebenfigur behauptet wird, Vater und Tochter sähen sich ähnlich, weil sie ähnliche Augen hätten. Und mit den Herzen als Augen vor dem Hintergrund popular- und populärkultureller Narrative steht ja zu Beginn des Films bereits sofort fest, dass etwas das aussieht, wie Fußspuren, auch Fußspuren sein müssen, ebenso wie es sich im Verlauf erweist, dass Geschichten über Trolle auch die Geschichte der Trolle sein muss, die man wörtlich nehmen und realistisch auffassen kann.
Dass ausgerechnet die Herzensmenschen, die Narrativen zugewandt sind, diejenigen sind, die die Welt vor einem Troll, also einem Fabelwesen retten, erscheint nur auf den ersten Blick stimmig. Denn erstens ist Similia similibus curentur kein wissenschaftliches Prinzip und zweitens funktioniert es eben nicht, wenn man den Troll, wie vom Film forciert, allegorisch deutet. Das Schema des Films, dass die Natur gut, unschuldig und schützenswert ist, während sich zivilisatorische und wissenschaftliche Errungenschaften als schädlich oder zumindest nicht als nützlich erweisen, nagt an den Grundfesten unserer Zivilisation, auch wenn der Film völlig zu Recht die zerstörerische Kehrseite technologisch-wissenschaftlichen Fortschritts zeigt. Aber gerade im Umwelt-Komplex sind es ja auch die Wissenschaften, die gar nicht so schlecht sind, um das Ausmaß zu erkennen und Auswege aufzuzeigen. Diese Richtung möchte der Film nicht andenken, weil er Mythen beschwören möchte, was an sich immer schön ist, aber nicht, wenn diese explizit als Wissenschaft ausgewiesen werden oder diese explizit ersetzen.
Dass Trolle im Zuge der Christianisierung aus der norwegischen Kultur und Gesellschaft verdrängt und schließlich getötet wurden, wird in Troll mehrfach betont (00:30:10; 01:10:00). Zivilisierungsprozesse haben in diesem Sinne den Mythos zerstört und in den Bereich der Fiktion gerückt, und Zivilisierungsprozesse haben in diesem Sinne zur Zerstörung der Umwelt beigetragen. Das ist sicher nicht falsch, verkennt aber die der Zivilisation inhärente Dialektik, dass sie eine sehr brauchbare und komfortable Lebensgrundlage darstellt – und eben die Wissenschaften hervorbringt, die in der Realität Umwelt auch schützen und auch zu Umweltschutz besonders aufrufen. (Über Kinder, Hunde und Hauptstadt wird der Gegensatz von Natur und Zivilisation im Film weiter durchdekliniert. Dies sei nicht weiter verfolgt.)
Insgesamt bleibt der Eindruck, dass auch in Troll die verrückten und alternativen Figuren die Retter:innen der Welt darstellen. Sie handeln durchaus nicht völlig irrational, aber sie folgen bewusst vor allem Gefühl und Intuition. Dies machen sie ebenso wie der Film zum Programm. Sie glauben an Narrative und produzieren Narrative, und sie bewegen sich jeweils im Abseits der Systeme, die sie repräsentieren. Indem sie Kinder von Narrativen sind, sind sie natürlich auch Kinder der Kultur und Zivilisation, und natürlich kann es nicht als problematisch angesehen werden, dass sie Mitgefühl mit einem einsamen Wesen sowie der Natur haben, aber fokussiert man die Paläobiologin und das populärkulturelle Bild von Wissenschaft, das sie personifiziert und das sich vor allem durch Nichtwissenschaftlichkeit auszeichnet, muss der Film irritieren. Hier werden Pseudo-Wissenschaften mit kulturkritischen Tendenzen verschränkt und normalisiert.