Fragmente und Replikate
Die Star Trek-Serie Picard hatte einiges wieder gut zu machen. Damit meine ich nicht, dass sie Star Trek wieder zu Star Trek machen musste, indem sie die unsägliche Erinnerung an die paar Discovery-Folgen, die man ertragen konnte, bevor man die Rezeption abgebrochen hat, aus dem Gehirn tilgen sollte, indem sie das Gedächtnis überschreibt. D.h. damit meine ich auch nicht, dass die Serie nach diesem einfach nur bescheuerten Action-Ausleger ‚die Zeit zurückdrehen‘ und wieder zu ihrer Anlage als – mit Deep Space 9 und auch Voyager durchaus stark gebrochener – Völkerverständigungsutopie zurückkehren sollte. Dass sie das getan hat, war zwar begrüßenswert, aber nein, ich meine, dass von vorneherein klar war, dass sie sich zum Tod von Data würde verhalten müssen.
Es ist diskutabel, wie man zu dem zehnten Star Trek-Film Nemesis insgesamt steht. Aber Datas doch recht unspektakulärer Tod, sofern man dabei eine gigantische Weltraumexplosion nicht gelten lassen will, sondern Plot-Kriterien anlegt, hatte auch andere Trekkis als nur mich nachhaltig verstört und in diesem Zustand zurückgelassen. Da geht man erwartungsvoll ins Kino hinein, nachdem einen die Serie mehr als die Hälfte des eigenen Lebens im Alltag begleitet hatte, nachdem die Crew zu täglichen Begleiter*innen – im Wesentlichen am Nachmittag auf Sat1 – geworden war, und dann geht man aus dem Kino allein wieder heraus – ohne Data. Und man weiß: Das ist das Ende.
Bzw. es wäre vielleicht sogar beruhigend, wenigstens das wissen zu können, aber eigentlich wird man ja mit der Frage zurückgelassen, ob ein Android überhaupt sterben kann, ob es möglich ist, ihn aus Bruchstücken wieder zusammenzusetzen, oder ob der Datentransfer zu dem Androiden-Vorgängermodell B-4 geglückt ist und Data in dieser Figur wiederaufersteht oder weiterlebt.
Letzteres konnte man im Jahr 2002 nicht gewollt haben. Dass ‚Before‘ sang- und klanglos zu ‚After‘ werden kann, sodass der dazwischen stattgefundene Tod wirkungslos bleibt, dass Identität so einfach austauschbar ist, dass Persönlichkeit so leicht übertragen werden kann, dem haftet ein metaphysisches Unbehagen an. Vermutlich würde ich den Versuch wagen, mich vor meinem Tod in eine künstliche Intelligenz transferieren zu lassen, sollte dies möglich sein. Aber ich würde es vielleicht nur schwer verkraften, wenn diejenigen, die ich liebe, dies täten. Denn der menschliche und tierische psycho-physische Tod, wie wir ihn kennen, ist irgendwie auch der Garant für die Einzigartigkeit eines Lebens und eines Lebewesens. Und so hatte man Data bei aller Trauer doch gewünscht, an diesem Punkt menschlich geworden zu sein, also wenigstens tot sein zu dürfen, wenn er schon nicht weiterleben darf und die Show daher nicht weiter gehen kann.
Dass ‚Before‘ einfach ‚After‘ werden kann, konnte man sich allerdings auch nur in den 2000er Jahren noch nicht vorstellen, als Serien noch nicht in der Breite in Serie gegangen, also in ein unendliches transmediales Storytelling und Worldbuilding übergegangen waren. Heute ist auch das Ende einer Serie vielleicht kein Ende mehr, und wenn es doch den Endpunkt der Diegese markiert und es vielleicht tatsächlich kein Sequel mehr gibt, so kann die Serie immer noch in einem Prequel ‚before‘ weiter gehen, d.h. ‚Before‘ kann sehr wohl zu ‚After‘ werden, wenn man Diegese und Darstellungsebene umkehrt. Letzteres hat Discovery ja versucht, aber bevor ich mich hier über diesen Ableger auslasse, bleiben wir doch lieber bei den Next Generation-Figuren als der Star Trek-Storyworld als Ganze.
Bezeichnenderweise war der zehnte Kinofilm der letzte Auftritt der Next Generation-Crew für eine lange Zeit. Nun möchte ich meine Leser*innen nicht langweilen, indem ich einer aktuellen Mode entsprechend, einmal mehr eine Allegorie oder Personifikation des Seriellen in einer Serie oder einer transmedialen Storyworld ausmache, aber als Android verkörpert Data doch das Prinzip des Seriellen selbst. Die Next Generation-(Kino und Fernseh-)Serie endet mit Datas Tod, aber als künstliches Gebilde ist ihr die Möglichkeit der ewigen Wiederkehr gegeben, und dass die künstliche Intelligenz das auch kann, erfahren wir ja in Picard.
Zunächst einmal war aber klar, dass Picard in Picard wiederkehren würde, und man wusste, es kann nur, ja es muss dann auf jeden Fall um Data und dessen Tod gehen, denn keine Frage/Wunde ist im Serienuniversum je so offen geblieben wie die, wie wir mit Datas Tod umgehen sollen. Ich persönlich hatte allerdings nicht erwartet, dass Data wirklich wieder auftaucht. Dass Brent Spiner im Cast angekündigt wurde, hatte ich mir mit Rückblenden erklärt. Als immer noch traditionell Mediensozialisierte hatte ich die Möglichkeit zur fast unendlichen Wiederkehr noch nicht ganz im Blick, sondern erwartet, dass um Data getrauert wird und dass wir endlich unsere alten fiktionalen Freunde in unsere reale Trauer einbeziehen können. Dem entsprach die erste Einstellung der Serie von Picards Alptraum, in dem Data erscheint und in dem durch eine Explosion das uns bekannte Trauma um Datas Tod mit einem uns noch unbekannten jüngeren Trauma Picards, um das es in der neuen Serie gehen wird, nämlich der Mars-Explosion, verschränkt werden. Indem wir nun in der ersten Staffel in den ersten Folgen sehen, wie sehr Jean-Luc um Data trauert, sind wir vielleicht ein bisschen mit Datas Tod versöhnt.
Zunächst einmal haben wir es hier mit Fanservice pur zu tun. Aber dann verfährt die Serie doch recht widerspenstig und egoistisch, will sie doch offenbar nicht mehr nur eine unserer Erinnerungen sein, sondern wirklich synchron mit uns wieder weiterleben. Wir erfahren, dass aus Datas Positronen Nachkommen gezeugt werden konnten. So weit, so gut! Nachkommen zu haben sichert Datas Fortbestand in einem menschlichen Sinn, und außerdem stehen seine Zwillingstöchter für den Weitergang der Erzählung, indem sich um sie ein neuer Plot ranken kann. Diesen progressiven, nach vorne weisenden erzählerischen Zug hat die Serie.
Aber wir erfahren auch, dass Datas Bewusstsein noch lebendig ist, dass sie auch an etwas Altem festhält. An dieser Stelle erwähne ich noch einmal das soeben angemerkte metaphysische Unbehagen. Wir haben die Freude und die Missempfindung, den aktuell noch lebenden Data in den letzten Folgen der ersten Staffel in einer eigenen Dimension wieder sehen zu können. Indem er Picard aber bittet, den Stecker zu ziehen, um sterben und damit wirklich menschlich werden zu können, tut er das einzig Richtige, und es ist vielleicht doch wieder alles gut unter uns alten Freunden, denn nun können wir langsam und bewusst, ausreichend vorbereitet und erzählerisch motiviert doch noch Datas wirklichen Tod erleben, wird der kurze unwürdige Schock-Moment aus dem Nemesis-Film in einem Akt der Selbstbestimmtheit der Figur überschrieben.
Nun ist es aber Picard, der stirbt, um technoid wiederbelebt zu werden, und das muss er, sofern es eine zweite Staffel Picard geben soll, die nun noch eins drauf setzt bei der Selbstreflexivität des ewigen Seriellen; nicht nur, indem Picard der gleiche und doch mit mehr ganz derselbe ist, also das serielle Schema- und Variation-Spiel durch den Tod des alten Körpers und das Wiederleben in einem identisch aussehenden neuen gespiegelt wird, sondern indem die zweite Staffel in der Handlung nicht an die erste anknüpft. Das ursprünglich episodische Star Trek-Universum hat ab dem Tod Gene Roddenberrys schon in Next Generation winzige progressive Partikel eingewoben; DS9 und Voyager hatten neben den episodischen üblicherweise auch progressive Handlungsstränge, die gegen Ende dominierten. Picard ist nun völlig eine ‚neue‘ Serie, indem die erste Staffel progressiv einen großen Handlungsbogen erzählt. So kann man zunächst erwarten, dass die zweite Staffel an die erste anknüpft. Indem sie das aber nicht tut, transformiert sich die Serie ostentativ wieder in eine episodische und fragmentarische Anlage, wenn dies nun auch eine ganze Staffel statt einzelne Folgen betrifft. Die zweite Staffel stellt ein eigenständiges Fragment dar. Und zu behaupten, sie funktioniere wirklich progressiv, wäre vielleicht auch nicht ganz richtig, denn zunächst einmal repliziert sie eine Vielzahl von Fragmenten.
Wir sehen im Intro der ersten Staffel eine Kameraeinstellung als Bild, aus dem eine Scherbe/ein Fragment herausbricht und herunterfällt. Es schwebt nun durch verschiedene Szenen. Es dupliziert sich, wächst/kristallisiert und vervielfältigt sich weiter. Aus den Fragmenten erwächst eine Struktur, die vage an einen DNA-Strang erinnert, aber auch Erzählstränge visualisieren kann, die weitere Formen annehmen. Anschließend sehen wir noch einmal Fragmente von einem Planeten abplatzen und herumfliegen. Sie fügen sich wie in einem dreidimensionalen Mosaik zu Picards Gesicht zusammen. Natürlich liegt hier eine Visualisierung der Erzählweise vor. Hier wird bildlich gezeigt, dass die Serie aus Fragmenten besteht, und dass aus jedem Fragment, aus dessen Replikation und Rekombination eine neue Erzählung gebaut werden kann. Dabei konkurriert das Bild des fließenden Erzählstrangs, der verwoben werden kann, mit dem der konglomeratartigen Figur, die neu implementiert werden kann.
Beides findet in Star Trek Picard statt, und beides hat etwas mit Datas Verfassung zu tun. Der Erzählstrang der ersten Staffel entwickelt sich schließlich aus seinen Zwillingstöchtern, wie auch die Fragmente im Intro an einem Punkt verdoppelt gezeigt werden und sich dann weiterentwickeln, bis sie Stränge werden. Was die Zusammensetzung von Picards/Picards Gesicht aus Bruchstücken betrifft, so spiegelt dies Datas ‚genetisch-genealogische‘ Anlage, also die der Serie, denn in der ersten Folge der ersten Staffel wird explizit darauf verwiesen, dass ein Code und Erinnerungen aus nur einem einzigen von Datas positronischen Neuronen rekonstruiert werden kann. Ein Teil, das weiterlebt und Erinnerungen trägt, kann im Sinne der Serie nicht nur Nachkommen, sondern neue Geschichten auf Basis der Erinnerung an alte entstehen lassen.
Allerdings kann von Picard behauptet werden, dass die neuen Geschichten gar nicht so liebevoll konstruiert/erzählt sind. Sie bestehen im Wesentlichen daraus, aktuelle diskursive Versatzstücke wie Migration, Asyl, Kolonialismus, Umweltzerstörung, Klassengesellschaft und künstliche Intelligenz irgendwie aneinander zu reihen. Dies sei nicht als Kritik verstanden, sondern als schlichte Beschreibung der Funktionsweise. Wir haben hier eine bunte Teemischung statt einem reinen Earl Grey, und das passt schon, auch wenn die Figur Picard, die immer noch Earl Grey trinkt, immer auch für vergangene Serienkonzepte steht, wie auch die Serie Picard auf rührende Weise das Was-bisher-geschah zu Beginn einer jeden Folge einbringt, das wir in Zeiten des Streamens nur noch selten geboten bekommen.
Neben diesem Diskursverschnitt haben wir es außerdem mit einer wunderbaren Replikation und Rekombination von zahlreichen Star Trek-Fragmenten zu tun. Dies führt nun wieder zum Fanservice, denn wir mögen es einfach, wenn wir vertraute Elemente/Easter Eggs entdecken. Dass Seven of Nine, Deanna Troy und Commander Riker in der ersten sowie Q und Guinan in der zweiten Staffel wieder auftauchen, geht sogar mit dem Erzählen von Geschichten und der Vorwärtsbewegung der neuen Geschichte einher. Dass in der ersten Staffel Hugh eine kleine Rolle spielt, ist allerdings für die neue Story weniger nötig, als wir vielmehr dadurch ganz einfach erfahren, was ihm geworden ist und wie er in der menschlichen Gesellschaft lebt. Ganz nebenbei hören wir auch, was aus Quark geworden ist… In der zweiten Staffel werden in einer alternativen Realität Gul Dukats, Martoks und Sareks – alternatives – Ende erzählt. Und dann hat Whoopi Goldberg einen kleinen Auftritt jenseits dessen, dass eine junge Schauspielerin nun die junge Guinan spielt und zur Handlung beiträgt. Diese Erscheinung findet ganz um ihrer selbst willen statt und hier wird nur zum Nostalgischwerden die übliche Szene durchgespielt, dass Picard in ihre Bar kommt und sie ihn freundschaftlich-psychologisch berät.
Guinan einmal kurz in einem Szenenfragment zu zeigen hat eindeutig lediglich die Funktion des Wiedersehens unter alten Freunden auf einer metafiktionalen Ebene. Nun ist Whoopi Goldberg ein wenig älter geworden, wie alle anderen Schauspieler*innen auch. Sie spielt eine Spezies, die kaum altert, weshalb erklärt wird, dass sie diesen Prozess bewusst herbeiführt, damit sich die Menschen in ihrer Umgebung ihrerseits nicht alt fühlen. So kann man die Differenz von Schauspielerin und Figur plausibilisieren. Aber das reflektiert auch die Anlage des Star Trek-Universums, dessen Teil wir Rezipient*innen sind. D.h. es wird in die Produktion hineingeholt und explizit gemacht, wie es sich anfühlt, nach fast 25 Jahren gealterte Schauspieler*innen in der überzeitlichen fiktionalen Dimension wieder zu sehen. Die Serie führt in die eigene Vergangenheit der Erstrezeption zurück, wurde aber in der Zwischenzeit vielleicht vielmals wieder gesehen und ist lebendig geblieben, und macht nun einen Sprung in der realen Zeit um viele Jahre in die – jetzt – Gegenwart mit gealterten Schauspieler*innen, um in großem Maß an Geschichten aus unserer gemeinsamen pop-kulturellen Vergangenheit zu erinnern. Auch mit dem Altern berührt die Serie das Thema Lebendigkeit und Vergänglichkeit.
Insbesondere Whoopi Goldbergs Auftritt war ohnehin schon metafiktional motiviert worden. In der ABC-Fernsehshow The View lädt Patrick Stewart sie förmlich im Namen der Produzent*innen für die zweite Staffel Picard ein. Stewart wirkt dabei ergriffen. Goldberg lacht. Die beiden Schauspieler*innen umarmen sich. Es ist klar, dass Goldberg ‚ja‘ sagen wird, aber wie bei einem Heiratsantrag will Stewart es hören. „Please, say yes.“ Natürlich sagt sie es, und die Moderatorin verweist auf Goldbergs Lächeln, wie man es sonst vielleicht wirklich nur bei einer Braut machen würde.
Goldberg bestätigt, dass sie mit Star Trek die beste Zeit ihres Lebens hatte, und damit spricht sie uns Trekkis aus der Seele. Das ist der Grund, warum diese selbstreflexive fragmentarische Serie als solche so gut funktioniert. Jedes Fragment lässt ganze Welten – unserer Erinnerung – wieder auferstehen und verweist auf die besten Zeiten unserer Erstrezeption. Zwar hat Picard auch eine neue Erzählung, aber die Serie ist nicht angewiesen auf sie. Um noch einmal auf Goldbergs Freude zurückzukommen: Wirklich gänzlich wieder einsteigen wollte sie offensichtlich nicht, denn es wäre leicht möglich gewesen, Guinan aufgrund von Eigenschaften ihrer Spezies auch in der Vergangenheit von der nicht entsprechend jungen Goldberg spielen zu lassen. Die ist bereits in Next Generation in einer Folge geschehen, in der Guinan im 19. Und im 24. Jahrhundert gleich aussieht.
Die Geschichte der zweiten Staffel führt nun tatsächlich wieder in die Vergangenheit, und zwar in etwa in unsere Zeit, wodurch sich die Zeiten und Dimensionen einmal mehr merkwürdig ineinander schieben. Mit diesem Plot erzählt sie nach vorne etwas Neues, und doch handelt es sich auch hier um eine Replikation, ist man nun wahrlich nicht das erste Mal im Star Trek-Universum in der Vergangenheit, um die Zeitlinie zu retten. D.h. der neue Plot scheut sich auch hier nicht, altbekannt zu sein.
Ausnahmsweise kann ich tatsächlich wenig zur gesamten Geschichte der zweiten Staffel sagen, weil ich diesen Essay während des Schauens ihrer vierten Folge beende. Was auch immer meine Gedanken im Folgenden bestätigt oder ihnen zuwiderläuft, ich muss die fragmentarische Serie nicht als etwas sehen, was sie nicht ist, also als Ganzes oder Abgeschlossenes. Nun ist es meistens so, dass meine Essays während des Schauens der Folgen entstehen, aber natürlich warte ich normalerweise auf das Ende einer Staffel, um die Texte dann noch einmal zu bearbeiten. Dieses Mal beschließe ich den Schreibprozess bewusst an diesem willkürlichen Punkt, weil wir uns neben der ewigen Wiederkehr des Ähnlichen im seriellen Universum auch daran gewöhnen müssen, dass wir immer nur Vorläufiges und Fragmentarisches haben. Man könnte nun einwenden, dass schon Kristeva das gewusst hat und ich hier ein altbekanntes postmodernes Thema variiere, aber eigentlich ist es ja kein Einwand, sondern eine Bestätigung. Warum also auf das ‚Ende‘ der Staffel warten, um nun meinerseits darüber zu texten?