Wie real ist digitale Intimität?
Wer mal eine Nacht auf YouTube verbracht hat, dem wird ASMR wahrscheinlich bekannt sein. ASMR steht für Autonomous Sensory Meridian Response (Deutsch: Autonome sensorische Meridianreaktion). Gemeint ist eine neurophysiologische Reaktion des Körpers auf bestimme Reize, die von der Empfindung eines milden Kribbelns bis hin zu einem sinnlichen Rausch reichen können. Der Schriftsteller Clemens Setz beschrieb diese mal als eine »sanfte Euphorie, erst nach und nach mündet es in einen beruhigten, schläfrigen Zustand.« In seinem Essay konzentrierte sich Setz auf die subjektive Dimension, der ASMR auch ihren Namen verdankt. Für ihn stellt ASMR eine Form manifester psychologischer Wirkungen dar: eine Kunst der Versenkung in die Leere des Augenblicks. In diesem Text möchte ich ASMR dagegen aus dem Blickwinkel seiner soziologischen Wirkung betrachten und dabei jene sinnlich-sozialen Zusammenhänge erörtern, die ASMR offenbar hervorbringt. Insbesondere interessiere ich mich dabei für die Bedeutsamkeit menschlicher Sinneswahrnehmung für Gefühle der Nähe und die Begegnung mit anderen.
Entgegen mechanistischer Erkläransätze hat Nitin K. Ahuja ASMR schon relativ früh als »a hypersensitivity to touch in the setting of its relative deficiency« bezeichnet (Ahuja 2013: 445). Er verweist damit auf Verhaltensweisen körperlicher Abkapselung, Distanz oder Isolation, die für unser digitales Zeitalter bestimmend seien. Ahuja sah ASMR als eine Form der Therapie, »used for identifying and at least partially bridging the gaps by which we become stranded from ourselves.« ASMR, so stellte er klar, »presents a vision of the problematized relationship between technology and modern loneliness sorting itself out« (Ebd.: 448).
Ausgehend von Ahujas optimistischer Betrachtungsweise möchte ich zunächst auf die Verschränkung von Hör- und Tastsinn hinweisen, die durch die ASMR-Erfahrung deutlich wird. Diese Erfahrung vollzieht sich als eine angenehm erlebte körperliche Reaktion, die in vielen Menschen ein Gefühl von Vertrautheit oder Nähe weckt, dabei aber oft unbemerkt bleibt. Unbemerkt bleibt sie vermutlich auch deswegen, weil es eine wirkmächtige Vorstellung davon gibt, wie das Verhältnis von Technik und Mensch beschaffen ist. Technik, so eine gängige Annahme, wirke auf die Menschen ein, statt mit ihnen zusammen. Es evoziert ein Bild, in dem einsame Monaden gezwungen werden, in einer kalten und technologischen Welt zu leben. Sie sind dort außerstande »affektive Beziehungen zu Technologien« aufzubauen (Pols und Moser 2009: 160). In dieser Welt wären wir tatsächlich gemeinsam, und doch allein (Turkle 2011).
Aber Gefühle der Nähe und Intimität sind nicht auf die physische Ko-Präsenz menschlicher Körper angewiesen. Notwendig für das Aufkommen solcher Gefühle sind diverse Infrastrukturen, wie zum Beispiel technische Vorrichtungen, soziale Milieus, Ökosysteme und Netzwerke aller Art. In der medizinischen Fachzeitschrift »The Lancet« erschien im 19. Jahrhundert ein Kommentar zu den angeblich gesundheitsschädigenden Wirkungen von Eisenbahnfahrten: »In these days of railway catastrophes, the timid traveller, possessing a strong imagination – an essential element in great timidity, – might weave a curious fancy of a siren lulling to sleep the victims whom she lures to destruction (…). But to the physiologist the phenomenon has a scientific interest as another illustration of the strange effect of reiterated sound upon the brain-cells; gently loosening, by its vibrations, the links which bind together the centres of consciousness and of sensation.« (Anonym 1872; zitiert in Trower 2012: 104)
Dieses Zitat aus Shelley Trowers Senses of Vibration: A History of the Pleasure and Pain of Sound verweist auf eine Verflechtung der Sinne, die synästhetisch genannt werden kann. In ihrer Studie befasst sich Trower mit Vibrationen und Schwingungen, um zu einem präziseren Verständnis der Beziehungen zwischen den menschlichen Sinnen zu gelangen: »Vibration crosses sensory thresholds in so far as it can be simultaneously palpable and audible, visible and audible« (Trower 2012: 5). Trower beschreibt, wie Ärzte im 19. Jahrhundert ihren Patient*innen langsames Aufwärtszählen empfahlen, um den negativen Nebenwirkungen von Bahnreisen vorzubeugen. ASMR stellt insofern eine Aktualisierung dar. Die ASMR-Erfahrung zeigt, wie sich Klang und damit der menschliche Sinnapparat nicht in zuordenbaren Symbolen oder Informationsfetzen erschöpft. Eine »Berührung« durch ASMR erfordert ein aktives Loslassen, eine Entscheidung zur Versenkung, vielleicht auch nur den Willen zum Schlaf.
Als eine mögliche Ursache für die allseits beklagte »Zoom fatigue« der letzten beiden Jahre wurden etwa die von Entwicklerfirmen nach und nach integrierten Spracherkennungs- und Reinigungs-Features identifiziert, die den Vollzug von Kommunikation so bruchlos wie effizient gestalten sollten. Dabei, so die Kritik, seien jene Anteile der menschlichen Stimme in den Hintergrund geraten, die – jenseits reiner Semantik – zwei oder mehr Körper zueinander in Beziehung setzten: »[A]ll I hear is the misery of a voice without a body, unable to touch or be touched«. Seit Beginn der Corona-Krise ist bemängelt worden, dass es in unseren digitalen Räumen an taktilen, klanglichen und visuellen Stimuli fehlt, dabei existiert mit ASMR seit Jahren ein populäres Genre für digitale Intimität. Der Fall des Hörens als Modalität des bewussten Erlebens ermöglicht es zu erkennen, was in menschlichen Begegnungen vor sich geht, sei es nun im Beisein oder in Abwesenheit anderer Körper. Demnach verdeckt die oben skizzierte technikkritische Sicht auf das Digitale also mehr, als sie aufzuzeigen vermag. Wenn die menschliche Wahrnehmung wirklich das Fundament von Begegnungen und des Berührtwerdens bildet, dann wäre es angebracht, systematisch zu erforschen, unter welchen Umständen solche tieferen Kontakte zustande kommen. Was sind die Entstehungsbedingungen von Nähe, Vertrautheit, Intimität, und was wären daran anschließende Verhaltsenslehren? Eine Beantwortung dieser Fragen könnte Entwicklungen in Bereichen des Software-Development, der Robotik und digitaler Kunst inspirieren.
Literatur
Ahuja, Nitin K. 2013. »It feels good to be measured: clinical role-play, Walker Percy, and the tingles.« Perspectives in Biology and Medicine, Volume 56, Number 3 (Summer 2013): 442–51.
Pols, Jeannette; Moser, Ingunn. 2009. »Cold technologies versus warm care? On affective and social relations with and through care technologies.« ALTER, European Journal of Disability Research 3 (2009) 159–178.
Trower, Shelley. 2012. »Senses of Vibration: A History of the Pleasure and Pain of Sound.« London: Continuum.
Turkle, Sherry. 2011. »Alone Together. Why We Expect More from Technology and Less from Each Other.« New York: Basic Books.