›Jump’n’Run‹ durch mediale Inhalte
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 16-23]
Als jahrelange glühende Anhängerin von Teenagerfilmen und -Serien hat mich selten etwas zu Beginn derart irritiert, schließlich aber begeistert wie die Webserie »Druck«. »Druck« ist die deutsche Variante der multimedialen norwegischen Serie »Skam«, deren Format so erfolgreich ist, dass sie auch in zahlreichen anderen Ländern – Frankreich, Italien, Spanien, den Niederlanden oder auch den USA – adaptiert wurde. Ihre Besonderheit besteht darin, dass die Folgen der Serie in zwei bis vier Minuten langen Stücken im Laufe der Woche als YouTube-Clips zur Verfügung stehen – immer zur gleichen Zeit, in der die Serienhandlung gerade spielt. Da es sich um eine Schulserie handelt (bisher zumindest, die dritte Staffel schloss mit dem Abiball), wird z.B. oft in den Schulpausen der Serienhandlung gefilmt und dann auch in den tatsächlichen Pausen der Zuschauer angesehen, zumindest wenn diese selbst Schüler sind. Erst am Ende der Woche wird die vollständige und um wenige Sequenzen ergänzte Folge auf YouTube veröffentlicht, die dann eine durchschnittliche Gesamtlänge von 20 bis 30 Minuten besitzt.
Als ich anfing, diese Serie zu streamen, habe ich mir ausschließlich die bereits vorhandenen ganzen Folgen angesehen. Zwei bis drei Minuten waren mir schlichtweg zu kurz. Als es dann aber keine Folgen mehr im Archiv gab, die ich vollständig hätte ansehen können, musste ich entweder warten oder die Serienhäppchen live verfolgen und in einzelnen Stücken betrachten. Anfangs hat mich diese Betrachtungsweise regelrecht verrückt gemacht, es war, als würde man erst heiß gemacht und dann eiskalt zurückgewiesen. Schließlich habe ich zu dem Mittel gegriffen, das viele benutzen, wenn eine Folge oder – schlimmer noch – eine ganze Serie zum Ende gekommen ist, man aber noch nicht genug davon hatte: Ich suchte nach ergänzenden Inhalten im Netz, natürlich erst allgemein auf Google (was haben die Schauspieler noch gedreht, welche ähnlichen Formate gibt es), dann auf Instagram. Dort stellte sich nun aber überraschenderweise heraus, dass alle Accounts der Schauspieler privat geschaltet waren, was sehr unüblich, geradezu mysteriös ist.
Schließlich bin ich aber auf etwas gestoßen, das meine Sucht nach mehr Inhalten vollständig befriedigen sollte. Auf dem Profil einer Hauptdarstellerin wurde mir eine Followerin angezeigt, die den Namen der Serienprotagonistin trug. Ich bin der Verlinkung selbstverständlich gefolgt und geriet damit in einen Bereich des Serienkosmos, der sich mir bis dahin noch nicht erschlossen hatte! Alle Protagonisten der Serie haben eigene Instagram-Accounts, die sie auf eine ihnen entsprechende Weise und überaus authentisch bespielen. Gibt es wenige, die kaum auf Instagram aktiv werden, nutzen die meisten sämtliche Features, die das Soziale Netzwerk zu bieten hat: Postings im Feed und in den Storys, Likes und Kommentare unter eigenen sowie anderen Bildern. Auf diese Weise wird die Narration der Serie auf Instagram ergänzt und aus den unterschiedlichen Perspektiven neu bzw. anders erzählt. Ich bin sofort allen Profilen gefolgt, ebenso dem offiziellen Serien-Account, auf dem täglich neue What’s-App-Chats der Protagonisten veröffentlicht und Hinweise auf neue Clips gegeben werden. Nun wurde »Druck« Teil meines Alltags, die Protagonisten gleichrangig zu Freunden, Bekannten, Influencern und anderen Personen des öffentlichen Lebens, deren Geschichten ich regelmäßig verfolge. Nun haben die drei tagtäglichen Minuten Serienzeit genau die richtige Länge, werden sie doch begleitet von Chats, Bildern und Videos aus der Sicht der Serienfiguren, die ich mir in freien Minuten selbstbestimmt ansehen und mir über den Tag verteilt ein Urteil über die Geschichten und Figuren, ihre Abläufe und Beziehungen, machen kann.
Damit hat das Format »Druck« eine Lösung für gleich zwei Probleme gefunden, die von der heutigen multimedialen Welt erzeugt werden: Erstens befriedigt die Webserie inklusive aller Social-Media-Aktivitäten das selbsterzeugte Bedürfnis nach immer mehr Inhalten, die unterhalten und beschäftigen. Durch die vielen verschiedenen einzelnen Clips, Postings und Storys hat man immer das Gefühl, etwas Neues zu sehen, wenn man gerade an der Bushaltestelle wartet und dabei ganz automatisch, fast mechanisch durch die Social-Media-Kanäle scrollt. Dabei hinterlassen sie stets genug Leerstellen und offene Fragen, damit die Neugier auf die weitere Entwicklung des Seriengeschehens auch nicht eingedämmt wird.
Zweitens bietet »Druck« zugleich die ideale Umgangsweise für dieses kaum zu stillende Bedürfnis nach mehr Inhalten an – durch Formate, die entweder kurz sind oder sich ohne Verluste skippen lassen. Die Serie reagiert damit auf die Unmöglichkeit, das Überangebot an interessanten und relevanten Filmen und Serien zeitlich zu managen. Dadurch, dass sie zwangsläufig in den eigenen Tagesablauf integriert ist, kann man das Schauen der Serie nicht als Abwechslung zur (oder gar Flucht in eine andere) Welt beschreiben, sondern ganz im Gegenteil sogar als Intensivierung, als Spannungssteigerung der eignen Alltagswirklichkeit. Wer kein Fan der Serie ist, wird, ganz ähnlich den Wahrnehmungsweisen der Wirklichkeit außerhalb der neuen- oder Sozialen Medien, nur zur Kenntnis nehmen, was ihm, ihr oder divers zufällig begegnet, es sei denn, man verabredet sich, sprich: nimmt sich das Anschauen der Serien oder einzelner Storys gezielt vor. Manches von dem, was man zwangsläufig sieht, weil es in den Feed oder die Storys kommt, wird man sich dann aus unterschiedlichen Gründen länger ansehen, anderes nur ganz kurz oder sogar überhaupt nicht – dann skippt man.
Skippen ist in kürzester Zeit zu einer der wichtigsten Alltagspraktiken im Umgang mit Sozialen Medien geworden. Es ist das ›Jump’n’Run‹ durch mediale Inhalte. Man beschleunigt den Vorwärtsgang durch die sich horizontal fortbewegende zweidimensionale Welt, in der die meisten Objekte eine feste Position haben – beispielsweise durch das Skippen einzelner Snaps. Dann springt man über alles, was einem nicht gefällt, nicht gesehen werden will oder gar ein Hindernis darstellt, wenn man etwa ganze Storys skippt.
Vor allem hat sich das Skippen als Feature von Streamingdiensten etabliert, als Reaktion auf eine relativ junge Rezeptionsweise von Serien: das ›Binge Watching‹. Da man bei dieser Art des Serienkonsums viele Folgen nacheinander ansieht, ist es nicht mehr nötig, ja geradezu unökonomisch, jedes Mal erneut den Einspieler, das Intro der jeweiligen Produktion anzusehen. Natürlich hatte (und hat) das Intro eine wichtige Funktion, nämlich die Zuschauer wieder in ihrem Serienzuhause willkommen zu heißen. Das ist aber nur dann notwendig, wenn man es verlassen hat, entweder (früher) weil die nächste Folge erst eine Woche später ausgestrahlt wird, oder man keine Zeit mehr hat weiterzuschauen, weil man arbeiten oder schlafen muss (heute). Aber wenn man sich gerade im Seriengebäude befindet und es für – sagen wir – drei, fünf, zehn Folgen nicht verlässt, braucht es keine Erinnerung daran, was man sich gerade ansieht. Deshalb hat Netflix im März 2017 die überaus hilfreiche und seither vielgenutzte Funktion »Skip Intro« eingeführt. Mittlerweile bietet jeder Streamingdienst nicht mehr nur »Skip Intro« an, sondern auch zehn- bis fünfzehn Sekunden lange Skip-Funktionen der Player. Sie ermöglichen den Zuschauern, zu jeder Zeit den jeweiligen Film oder die Serien-Folge um wenige Sequenzen zu überspringen. Längst muss man dafür keinen eigenen Button mehr betätigen, ein Antippen des Bildschirms bzw. Filmfensters reicht. Außerdem, das sollte nicht unerwähnt bleiben, funktioniert Skippen ganz hervorragend: Kein lästiges Buffering – wie es beim Weiterklicken im Zeitstrahl entstehen würde. Ferner erfolgt das gezielte Weiterklicken dann auch exakt, nicht eine Sekunde zu spät oder zu früh.
Seit es die Funktion gibt, sehe ich in Wartezimmern und Straßenbahnen überall Menschen, die skippen. Sie scheinen regelrecht auf das neue Feature gewartet zu haben! Die Gründe dafür sind schnell gefunden: Immer mehr Serien und Filme werden zwischendurch angesehen und nicht nur zu ausgewählten (Frei-)Zeiten, etwa am Abend. Als ich noch nicht skippen konnte und Filme oder Serien überwiegend am Abend ansah, fiel es mir sehr schwer, einfach nur zuzusehen, ohne dabei zur gleichen Zeit noch mindestens einer anderen Tätigkeit nachzugehen: zum Beispiel zu essen oder auf dem Smartphone durch das Social Web zu surfen. Auch kam es vor, dass ich nebenbei Texte überflog (auch eine Form von Skippen!), mir die Nägel lackierte oder auf dem Tablet Onlineshops durchforstete. Seit es nun aber die Möglichkeit des Skippens gibt, schaue ich Filme und Serien nicht mehr nebenbei, sondern zwischendurch, bevorzugt auf langen Bahnfahrten, manchmal auch auf kurzen Straßenbahnfahrten. Fährt man eine halbe Stunde Bahn, die Folge der ausgesuchten Serie dauert aber 40 Minuten, will man aber natürlich unbedingt noch sehen, wie sie ausgeht, und deshalb – der Skip-Funktion sei dank! – tippt oder toucht man sich schnell ans Ende.
Jetzt mögen manche vielleicht einwenden, dass man beim Skippen doch sicher auch viel verpasst, etwa Hinweise auf den weiteren Verlauf einer Geschichte. Oder eine bestimmte Seherfahrung, die sich nur einstellt, wenn man die Langwierigkeit und Langweiligkeit auch erträgt. Überhaupt: Wertvolle Details – seien sie inhaltlicher oder rein ästhetischer Natur – könnten dadurch doch aus dem Blickfeld geraten und das Filmvergnügen deutlich verringern! Aber dem ist nicht so. Ich spreche aus Erfahrung. Hier kommt die ideale Skip-Zeitspanne von zehn bis fünfzehn Sekunden ins Spiel. Man mag sich nicht vorstellen, wie wenig man doch in zehn bis fünfzehn Sekunden verpasst!
Dass Filme und Serien immer häufiger zwischendurch und nicht mehr nur am Abend oder zu eigens dafür eingeräumten Zeiten gesehen werden, ist schlichtweg der Tatsache geschuldet, dass es möglich ist. W-Lan ist günstig oder kann an vielen öffentlichen Orten kostenfrei per Hotspot bezogen werden. Smartphones haben mittlerweile eine fantastische Bildschirmauflösung, die bis auf die Größe kaum ein Defizit gegenüber dem Flatscreen darstellt, sondern – im Gegenteil – eine nie da gewesene Intimität zwischen einem selbst und dem Angesehenen erzeugt. All das führt dazu, dass man öfter, vielleicht sogar permanent, auf YouTube, Netflix, Amazon Prime oder IGTV zugreift.
Man skippt, wie erwähnt, aber nicht nur Filme, sondern vor allem und deutlich häufiger einzelne Snaps auf Snapchat oder Storys auf Facebook und Instagram – je nachdem, welches Soziale Netzwerk man bevorzugt. An der zunehmenden Verwendung des Story-Formats kann gut nachvollzogen werden, welche andere Technik das Skippen im Umgang mit medialen Inhalten im Social Web immer mehr abzulösen scheint, die im Moment aber noch gleichermaßen und mindestens gleichrangig existiert: das Scrollen. Auf den ersten Blick ist das Skippen vergleichbar mit dem Scrollen: Beides sind Aktivitäten in einer eigentlich passiven Situation. Im Feed wird etwas angezeigt, worauf man in dem Moment, in dem die Postings erscheinen, keinen Einfluss nehmen kann; der Ablauf einer oder mehrerer Storys, aber auch Filme und Serien versetzen einen bekanntermaßen in dieselbe passive Situation des Zuschauens. Insofern ist Skippen zunächst einmal wie Scrollen, nur in der Horizontalen: Man nimmt Einfluss auf ein Geschehen, das als solches unveränderlich ist. Weder im Feed noch in der Story kann man vorhersehen oder (zumindest nicht in der Situation) bestimmen, welche Inhalte als nächstes angezeigt werden, wohl aber kann man bestimmen, ob und wie lange etwas angesehen wird. Es besteht hier auch eine Vergleichbarkeit zum Zappen des Fernsehens. Allerdings lässt sich im TV nur der Kanal wechseln, nicht aber das, was gezeigt und angesehen wird, beschleunigen. Sowohl beim Skippen als auch beim Scrollen hat man Einfluss auf die Geschwindigkeit der Inhalte. Das Zappen ließ und lässt sich zudem immer auch als eine latente Kritik, entweder am Fernsehprogramm oder an den langen Werbepausen, deuten. Anders beim Scrollen oder Skippen, die eher eine gesteigerte Anteilnahme ausdrücken, wenn man diese Tätigkeiten nicht nur ausführt, weil man etwas nicht sehen will, sondern überwiegend, weil man das, was eventuell noch kommt, nicht verpassen will. Sprich: Man scrollt oder skippt, um möglichst viel in kürzester Zeit ansehen zu können. Man intensiviert das Erleben dadurch.
Nun gibt es aber doch auch eine Reihe feiner Unterschiede zwischen Scrollen und Skippen. Erstens ist das vertikale Scrollen deutlich fließender als das horizontale Skippen, bei dem man das Touchpad oder den Bildschirm nicht streichelt, sondern nur antippt. Selbst wenn man wischt, erfolgt das schwunghaft-abgehackt und nicht gerade sanft. Beim Scrollen wird deshalb, anders als beim Skippen, eine gewisse Gleichmäßigkeit erzeugt, die durchaus entspannend wirken kann. Wer sich selbst einmal dabei erwischt hat, wie er, sie oder divers tranceartig seine Feeds durchscrollt, ohne sich die Inhalte dabei bewusst anzusehen, sondern einfach einem gewissen Automatismus folgend, kann diese Einschätzung höchstwahrscheinlich teilen.
Die sicherlich wichtigste Funktion gegenwärtiger Feeds nennt sich »Infinite Scroll« und suggeriert, man käme niemals an ein Ende, wie lange man auch weiter scrollen mag. Das erzeugt eine starke Sog-Wirkung, denn wenn das Touchpad nur noch automatisch gestreichelt wird, besteht die eigentliche Aktivität oder sogar Herausforderung schließlich darin, diese routinierte Bewegung zu beenden, das Scrollen durch den fortgeschrittenen Feed zu stoppen. Zumal man sich an einer Position befindet, die man so nie wiederfinden wird oder kann, wenn man jetzt aufhört, die Szenerie verlässt. Anders als beim Skippen lässt man sich beim Scrollen also tendenziell treiben, man flaniert durch die angezeigten Inhalte.
Zweitens erzeugen wir durch das Scrollen ein Geschehen (würden wir nicht scrollen, bliebe der Feed an einer bestimmten Position einfach stehen), während man beim Skippen auf ein Geschehen, den Ablauf einer Story/Film/Serie reagiert. Dadurch steigert sich das Gefühl von Effizienz, wohingegen beim Scrollen schnell die Vermutung aufkommt, man habe seine Zeit verschwendet, denn man hat die Inhalte ja selbst immer weiter aufgerufen. Beim Skippen wähnt man sich hingegen in einer zielorientierteren und selbstbestimmteren Position. Man bändigt etwas – und setzt es nicht frei.
Bei Filmen und Serien ist das tatsächlich der Fall, weil diese selbst irgendwann an ein Ende kommen und eine Beschleunigung demnach durchaus zielorientiert und ökonomisch ist. Allerdings ist ungewiss, ob es bald überhaupt noch nötig sein wird, die Effizienz zu steigern. Denkbar ist nämlich auch, dass die Formate unserem Konsum entsprechend vorher verändert und angepasst werden – in etwa so, wie es »Druck« bereits vorgemacht hat. Eine Serie, die man an jedem Ort, in der Bahn oder auf der Couch, und zu jeder Zeit, zwischendurch oder nebenbei, in Häppchen oder am Stück ansehen bzw. verfolgen kann. Hat man sich erst an diese Rezeptionsweise gewöhnt, sich sogar mit ihr angefreundet, könnte es sein, dass man auf den nächsten Kinobesuch klaustrophobisch reagiert – oder sich zumindest sehr eingeschränkt fühlt, in einem dunklen, verschlossenen Raum, der etwas zeigt, auf dessen Handlung man weder Einfluss nehmen noch großartig reagieren kann.
Pingback: Alle Texte aus Heft 15 von »Pop. Kultur und Kritik« 22.02.2022 | POP-ZEITSCHRIFT