Zu Guido Zurstieges Buch »Taktiken der Entnetzung«
Laut einer Umfrage des Digitalverbandes Bitkom hat jede*r vierte Deutsche bereits versucht, eine bestimmte Zeit auf digitale Medien zu verzichten und ist dabei gescheitert. Für das Jahr 2020 habe sich jede*r zehnte einen gemäßigteren Medienkonsum vorgenommen, der Phasen des Verzichts beinhaltet.[1] ‚Digital Detox‘ ist ein Trend – es gibt zahlreiche Ratgeberbücher zu einem gelungenen Leben in der digitalisierten Welt, protokollierte Selbstversuche und sogar Camps, in denen man für viel Geld das Smartphone abgeben darf, um ein paar Tage ohne Handy und in der Natur wieder zu sich selbst zu finden.
Nun hat der Tübinger Medienwissenschaftler Guido Zurstiege ein Buch darüber geschrieben. „Taktiken der Entnetzung. Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter“ ist im November 2019 in der edition Suhrkamp als erste deutschsprachige Monographie[2] zum Thema erschienen. Das Buch versammelt unterschiedliche Phänomene der Entnetzung (ob es sich dabei tatsächlich um „Taktiken“ handelt, ist fraglich – aber dazu später), deren Darstellung Zurstiege in fünf Kapitel gliedert, die von einer Einleitung und einem Fazit gerahmt sind.
Das Phänomen der Entnetzung
Unter Entnetzung versteht Zurstiege Momente des Rückzugs und des Verzichts. Seine Beschäftigung mit dem Thema begründet er einleitend damit, dass die Sehnsucht nach Stille heutzutage größer sei als jemals zuvor. Zurstiege stellt fest, dass Medienkompetenz seitens der Nutzer*innen immer gefragter werde. Diese These wird plausibel, wenn Zurstiege unter dem Kapiteltitel „Apostel der Entnetzung“ unterschiedliche Positionen vorstellt, die allesamt dafür plädieren, dass sich jede*r Einzelne bemühen müsse, sich gegen die Zumutungen der Netzwerkgesellschaft (wie etwa ständige Erreichbarkeit, Überwachung und Cybermobbing) zu wehren. Zurstiege stellt fest, dass die zunehmende Präsenz des Entnetzungsdiskurses ein gesellschaftliches Klima erzeuge, in der hingebungsvolle Mediennutzung stets von einem Unbehagen begleitet sei. In den darauffolgenden Kapiteln schildert er anschaulich, wie heutige Mediennutzer*innen zwischen Hingabe und Unbehagen oszillieren und sich dabei Schutzmechanismen aneignen, die der Autor als Taktiken der Entnetzung fasst. Hier seien nur einige Beispiele genannt:
Zurstiege vergleicht die inkorporierte Selbstverständlichkeit, mit der viele Menschen in jeder freien Sekunde ihr Smartphone checken, mit dem Verhalten von Kettenraucher*innen, die sich geübt eine Zigarette anstecken, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Unsere Geräte verlangten nach ständiger Aufmerksamkeit, soziale Medien hielten ihre Nutzer*innen mit Hilfe eingebauter Belohnungsmechanismen ständig dazu an, ihre Profile zu pflegen. Jedoch meint Zurstiege beobachtet zu haben, dass Menschen geradezu erleichtert seien, wenn ihr Smartphone kaputtgehe. Die Pause von der digitalen Dauervernetzung werde von einigen bewusst verlängert, indem sie die Reparatur des Smartphones hinauszögerten. Dieses Hinauszögern ist für Zurstiege eine Taktik der Entnetzung.
Weitere wichtige Taktiken der Entnetzung macht Zurstiege bei der Selbstdarstellung Jugendlicher auf sozialen Medien aus. In Folge schmerzhafter Erfahrung mit Cybermobbing hätten sich Jugendliche einen „Panzer“ (S. 116) zugelegt, wenn sie sich auf sozialen Medien präsentieren. Durch gekonnte Inszenierung schützen sie „das authentische Selbst vor allzu bohrenden Blicken von außen“ (S. 114). Die Annahme eines authentischen Selbst, das durch gekonnte Selbstinszenierung versteckt würde, entspricht der Annahme eines inneren Kerns, einer Essenz jedes einzelnen Menschen. Entgegen dieser romantisierenden Annahme hat Goffman bereits 1959 auf den theatralen Charakter einer jeden Interaktionssituation aufmerksam gemacht.[3] „Impression Management“ ist keine Praktik, die erst mit sozialen Medien aufgekommen ist, sondern wir sind ständig damit beschäftigt, uns auf bestimmte Weisen zu präsentieren, die kontextabhängig sind. Von Authentizität auszugehen, bedeutet Identität zu naturalisieren. Aufgabe einer (medien)-soziologischen Herangehensweise ist m.E. jedoch, das Augenmerk auf die nie abgeschlossenen Prozesse zu richten, die notwendig sind, um Identität herzustellen.
Zurstiege interessiert sich nicht für den Konstruktionscharakter sozialer Ordnung in Zeiten des Internets, sondern er begnügt sich mit einem alltagsweltlichen Verständnis von Mediennutzer*innen, die sich in „digitaler Selbstverteidigung“ (S. 118) üben, z.B. indem Eltern gegenüber ihren Kindern Aufklärungsarbeit bzgl. Datenklau und Überwachung leisten. Folge daraus sei die sinkende Popularität von Facebook bei jungen Nutzer*innen sozialer Medien. Dass sie lieber Instagram, Snapchat und WhatsApp nutzen, sei der Tatsache geschuldet, dass diese Plattformen dem Prinzip der ‚Publetion‘ (publication und deletion) folgten – das Verschwinden der Veröffentlichung also schon immer inhärent sei. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Zurstiege der Popularität von Instagram bei Jugendlichen zu viel Rationalität unterstellt. Facebook hat ohne Zweifel an Attraktivität eingebüßt – die Gründe dafür sind jedoch vielfältig. Dass Fotos wieder verschwinden, ist sicherlich ein Grund für die Popularität von Instagram und Snapchat auf Kosten von Facebook; darüber hinaus spielt m.E. jedoch eine Rolle, dass es für Jugendliche schlichtweg unattraktiv ist, dieselbe Plattform zu nutzen wie ihre Eltern (also Facebook). Die Interfaces von Instagram und Snapchat sind für Smartphones designt, die Möglichkeiten der Bildbearbeitung sind vielfältiger und die bildbasierte Kommunikation mag unmittelbarer erscheinen.
Zurstiege räumt zwar der eigentümlichen Semiotik der Fotos eine Bedeutung ein, rationalisiert diese m.E. wiederum auf implausible Weise: Bildbasierte Plattformen seien deswegen so populär, weil sie den Jugendlichen erlaubten, sich in ihrer Kommunikation nicht festzulegen und so später (z.B. von potenziellen Arbeitgeber*innen) schlechter haftbar gemacht werden könnten. Hier stellt Zurstiege eine Kohärenz her, die es ihm erlaubt, die Abkehr von Facebook als Taktik der Entnetzung zu deuten.
Eine weitere (illegitime) Taktik der Entnetzung erkennt Zurstiege im Verzicht auf Nachrichten. Die Verunsicherung durch die Rede von Fake News führe dazu, dass Menschen gar keine Nachrichten mehr konsumierten oder sich in die Echokammern des Internets zurückzögen, in denen sich Gleichgesinnte gegenseitig in ihren Meinungen bestätigten. Obwohl einige Entnetzer*innen also über das Ziel hinausschössen, plädiert Zurstiege in den letzten Absätzen des Buches für Entschleunigung. Taktiken der Entnetzung drückten eine Sehnsucht nach Langsamkeit aus, die Zurstiege im Internetzeitalter bedroht sieht. Die letzten Sätze des Buches lauten: „Es ist gut so [langsam, offen für produktive Ablenkung] durchs Leben zu gehen. Eine neue Erkenntnis ist das nicht, aber eine aktuelle, für die wir uns womöglich mehr als jemals zuvor alle miteinander einsetzen müssen“ (S. 242).
Missverständliche Positionierung
Zurstiege endet also mit einer klaren Aussprache für Entnetzung. Diese klare Positionierung lässt an vielen Stellen des Buches zu wünschen übrig. Nicht weil es wichtig wäre, zu wissen, ob der Autor Entnetzung gut oder schlecht findet, sondern weil häufig nicht klar ist, welcher Status den beschriebenen Entnetzungsdiskursen zukommt. Sind sie nun Gegenstand von Zurstieges Analyse oder stimmt er mit den Positionen überein, die in ihnen vertreten werden?
Einerseits spricht Zurstiege von der „Dialektik dieser Entnetzungsdebatten“ (S. 220), die darin bestehe, dass Werte der „kalifornischen Ideologie“ (ebd.) wie Spiritualität, Authentizität und Selbstbestimmtheit, die einst das Internet entstehen ließen, nun genauso vorgetragen werden, wenn für Entnetzung plädiert wird. Es entsteht der Eindruck, dass sich Zurstiege außerhalb des Entnetzungsdiskurses als dessen Beobachter positionieren möchte. Auch die Formulierung „Apostel der Entnetzung“ legt eine ironische Distanzierung von Entnetzungsdebatten nahe. Wenn er jedoch andererseits emphatisch für Stille und Langsamkeit plädiert, geriert sich Zurstiege selbst als Apostel der Entnetzung. Sein Buch hat dann eindeutig den Charakter einer Gegenwartsdiagnose. Wenn Zurstiege detailliert beschreibt, wie Eltern erfolgreich den Medienkonsum ihrer Kinder beschränken oder wie eine Schülerin gute Noten schreibt, obwohl sie intensiv Computer spielt, trägt das Buch Züge medienpädagogischer Ratgeberliteratur. Ein empirisch geerdetes „Theorieprojekt“ (S. 45), als das Zurstiege sein Buch anfangs erklärt, ist es jedenfalls nicht. Das Vorgehen einer „Authoethnographie“, die auf „gedanklichen Protokollen von Gesprächen“ (S. 46) beruht, lässt sich nur mit viel gutem Willen als empirische Erdung von vermeintlicher Theorieproduktion verstehen. Bewerten wir das Buch als Essay, lässt sich Folgendes feststellen: Es ist gut geschrieben. Zurstiege formuliert pointiert und abwechslungsreich. Das Buch liest sich schnell. Es ist ein schöner Überblick über ein relevantes und hoch aktuelles Thema. Zurstieges Beobachtungen bringen das Unbehagen, das heutige Mediennutzung begleitet, so auf den Punkt, dass sich sicherlich viele Leser*innen damit identifizieren können.
Fraglich ist jedoch, inwiefern Zurstiege die politische Dimension von Entnetzung berücksichtigt. So schreibt er beispielsweise in der Einleitung: „Die großen Konzerne der Plattformökonomie stehen im Schlaglicht der Kritik wie einst Axel Springer und seine mächtige Bild-Zeitung. ‚Enteignet Springer!‘ lautete der Kampfschrei damals. ‚Werdet endlich erwachsen, lernt Medien zu nutzen!‘ heißt es heute“ (S. 28). Hier erfolgt aber eine grundlegende Verschiebung – nicht die Konzerne werden in die Verantwortung genommen, sondern deren Kund*innen. Zurstiege thematisiert zwar, dass Mediennutzer*innen heute verantwortlich für ihre Medienkompetenz gemacht werden – die einzige Verschiebung, die er jedoch beobachtet, ist die, dass die Maschine sich früher dem Menschen angleichen sollte, während sich heute die Menschen den Maschinen anpassen sollten.
Michel Foucault hat in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität[4] deutlich gemacht, inwiefern neoliberal organisierte Gesellschaften auf Individuen angewiesen sind, die sich innerhalb eines sorgsam strukturierten Feldes selbst führen. Gouvernementalität ist effizienter als staatlich organisierte souveräne Macht und ergänzt diese. Für Entnetzung bedeutet das z.B., dass die Verantwortung des Staates, Datenschutz gesetzlich zu sichern, auf individuelle Mediennutzer*innen übertragen wird, indem sie dazu aufgefordert werden, aufzupassen, welche persönlichen Informationen sie in sozialen Medien preisgeben. Statt diese politischen Implikationen einer Responsibilisierung von Individuen zu reflektieren, redet Zurstiege von „Selbstregulierungspflichten“ (S. 212) heutiger Mediennutzer*innen, ohne diese zu problematisieren. Abermals entsteht der Eindruck, dass Zurstiege selbst an die Medienkompetenz seiner Leser*innen appelliert.
Taktiken der Entnetzung
Wie hält Zurstiege sein schön beobachtetes Ensemble empirischer Phänomene der Entnetzung nun jenseits eines Responsibilierungsdiskurses theoretisch zusammen? Einleitend erklärt er, dass ihm Michel de Certeaus Unterscheidung zwischen Taktiken und Strategien als theoretische Perspektive auf Entnetzung dient. Allerdings verschenkt Zurstiege m.E. das Potenzial dieser Perspektive, weil er davon ausgeht, dass Entnetzung stets taktisch funktioniert. Zurstiege beschreibt, wie Menschen gegenüber den Zumutungen der Welt resilient werden. Taktiken, im Sinne de Certeaus, sind jedoch etwas anderes: Sie beschreiben das listige Profitieren von Gelegenheiten auf fremdem Territorium; ihr Charakter ist kämpferisch und produktiv[5] – mit dem verunsicherten Wegducken oder den verzweifelten Versuchen des Ausweichens, wie die von Zurstiege beschriebenen Praktiken häufig anmuten, haben sie nichts gemein.
Mit den Strategien und Taktiken der Entnetzung hat sich der Soziologe Urs Stäheli bereits 2013 beschäftigt (worauf Zurstiege nicht verweist).[6] Zuvor wurde ‚Entnetzung‘ in der Betriebswirtschaftslehre und in der IT-Sicherheit verwandt: 2004 stellte Michel Reiß Entnetzung als einen „Ansatz zur Netzwerk-Optimierung“ vor.[7] 2011 machten Sandro Gaycken und Michael Karger einen „Paradigmenwechsel bei der IT-Sicherheit“ aus, der darin besteht, dass Vernetzung als Gefahr erkannt wird, der mit Entetzung als „technisch-organisatorisch gebotene Lösung“[8] begegnet werden kann. Entnetzung kann also als Strategie im Netzwerk eingesetzt werden, die zu dessen Effizienzsteigerung führt. Stäheli interessiert sich gerade für die konstitutive Ambivalenz von Entnetzung, die in einem Oszillieren zwischen Taktiken und Strategien besteht.
Für Zurstiege hingegen scheint eindeutig zu sein, dass die Konzerne der Plattformökonomie Strategien einsetzen und die Mediennutzer*innen Taktiken – kommodifizierte Vernetzung also stets strategisch funktioniert und Entnetzung stets taktisch: Unternehmen der Plattformökonomie handelten strategisch, weil sie über einen eigenen Ort verfügen, während die Nutzer*innen digitaler Medien auf dem fremden Territorium von Apple, Facebook und Co ihre Taktiken der Entnetzung praktizierten. Zurstiege macht es sich jedoch zu einfach (und nimmt dem Thema zudem jegliche theoretische Brisanz), wenn er Phänomene wie das Abkleben der Notebookkamera, medienbewusste Kindererziehung, die Lektüre von Cal Newports neustem Buch „Digital Minimalism“, das Tracken der eigenen Screentime, die Verweigerung von Smartphones, das Nutzen mehrerer E-Mail-Adressen, Zurückhaltung auf social media und Digital-Detox-Urlaub-Machen allesamt als Taktiken der Entnetzung fasst.
Alle diese Praktiken haben aber auch strategische Momente, insofern sie nicht nur situative Taktiken des Widerstands sind, sondern ihnen ihre Funktionalisierung eingeschrieben ist: Wer seine Kinder zur Medienkompetenz erzieht, praktiziert keinen Widerstand, sondern möchte sie vor möglichen Verletzungen schützen oder verhindern, dass sie den Anschluss in der Schule verlieren. Das ist ein hehres Anliegen, aber es ist keine Taktik der Entnetzung, sondern eine wohlüberlegte pädagogische Strategie. Menschen, die kein Smartphone nutzen, mögen einerseits taktisch handeln, insofern sie sich aktiv dem Trend der ständigen Erreichbarkeit und der ständigen Überwachung verweigern. Andererseits kann es sich dabei auch um eine Strategie der Selbstdisziplinierung handeln – wer kein Smartphone besitzt, läuft nicht Gefahr, ständig abgelenkt zu werden, sondern kann sich besser konzentrieren. Stäheli plädiert dafür diese „innere Spannung“[9] von Entnetzung zu erfassen. In Zurstieges Buch ist Entnetzung nicht spannend, sondern er reduziert sie auf die „Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter“.
Anmerkungen
[1] https://t3n.de/news/zehnte-deutsche-hat-digital-detox-1238183/ (zuletzt aufgerufen am 10.01.2020)
[2] Vgl. z.B. Ben Light, Disconnecting with social networking sites, Basingstoke 2014 oder Tero Karppi, Disconnect – Facebook’s affective bonds, Minneapolis 2018 für englischsprachige Monographien zum Thema.
[3] Erving Goffman, Wir spielen alle Theater, München 2017.
[4] Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I, Frankfurt am Main 2014; Michel Foucault, Die Geburt der Biopolitik, Geschichte der Gouvernementalität II, Frankfurt am Main 2006.
[5] Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 89.
[6] Urs Stäheli, Entnetzt euch! Praktiken und Ästhetiken der Anschlusslosigkeit, in: Mittelweg 36, 2013, S. 3-28.
[7] Michael Reiß, Entnetzung: Ein Ansatz zur Netzwerk-Optimierung, Arbeitspapier der Universität Stuttgart, Stuttgart 2004.
[8] Sandro Gaycken/Michael Karger, Entnetzung statt Vernetzung – Paradigmenwechsel bei der IT-Sicherheit, in: Multimedia und Recht 3, 2011, S. 4.
[9] Urs Stäheli, Entnetzt euch!, S. 28.
Clara Wieghorst ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Soziologie der Organisation und der Kultur der Leuphana Universität Lüneburg.