Warum eine Wertethik immer eine Elitenethik ist…
von Wolfgang Ullrich
27.1.2020

…und was sie heute so erfolgreich macht

Einleitung: Wertediskurse sind integrativ – Wertediskurse sind elitär-exklusiv

Dass zwangsläufig einer Elite angehört, wer sich auf Werte beruft, erscheint alles andere als evident. So ist bei Politikern verschiedener Couleur und insbesondere bei Vertretern größerer Volksparteien sehr gerne von Werten die Rede. Gerade wenn sie den Verdacht des Elitären und Exklusiven zu vermeiden suchen, verfallen sie darauf, Werte zu beschwören und sich auf diese Weise besonnen-staatsmännisch zu geben und über bloße Parteipolitik zu stellen. Als Angela Merkel bei einer Pressekonferenz im September 2015, auf der sie ihre Flüchtlingspolitik erklärte, zu Protokoll gab, wir seien „ein Europa der Werte“,[1] erkannte der Philosoph Andreas Urs Sommer darin ein „universal-integratives Anliegen […], sich mit der ganzen Welt in ein Verhältnis der Umarmung zu setzen“. Zu diesem Anliegen passt auch, dass auf die angemahnten Werte nicht näher eingegangen wird, man sie in einem vagen Plural belässt und sich allein deshalb niemand ausgeschlossen fühlen muss. Sommer identifiziert daher „größtmögliche Unverbindlichkeit und Unbestimmtheit“ als „typisches Kennzeichen“ des politischen Wertediskures.[2]

Das ist jedoch – so meine Behauptung – nur die halbe Wahrheit. Die zweite Hälfte besteht darin, dass dem Versprechen von Offenheit und Toleranz, das in dem unbestimmten Sprechen über Werte zum Ausdruck kommt, ein exklusiver, elitärer Gestus korrespondiert, ein Beschwören von Werten also – mehr oder weniger ausdrücklich – damit einhergeht, eigene Überlegenheit zu manifestieren sowie sich zugleich von anderen zu distanzieren. Diese zweite Hälfte der Wahrheit scheint mir deutlich brisanter, vor allem aber gesellschaftspolitisch relevanter zu sein als die erste Hälfte – und sie kommt, wie die folgenden Beispiele belegen sollen, beim politischen Werte-Dropping auch deutlich zum Vorschein. Durch eine schrittweise Analyse dieser Beispiele will ich im Weiteren zu zeigen versuchen, welche Folgen der elitär-exklusive Charakter einer Wertethik hat und wieso es besser wäre, die heutzutage übliche wertethische Ausrichtung diverser Diskurse zumindest kritischer in den Blick zu nehmen, vielleicht aber sogar selbst zum Gegenstand politischer Auseinandersetzung zu machen.

Werte in der Politik – eine kleine Beispielsammlung

Im Wahlkampf zur österreichischen Nationalratswahl 2019 klebte die ÖVP Plakate, die für den Spitzenkandidaten Sebastian Kurz mit dem Slogan „Einer, der auf unsere Werte schaut“ warben.[3] Manche irritierte die Nähe dieses Slogans zu einem Slogan, mit dem nur wenige Tage zuvor FPÖ-Spitzenkandidat Norbert Hofer auf Facebook für sich geworben hatte: „Einer, der unsere Werte noch lebt“.[4] Das könnte man wiederum als Variation auf eine frühere Äußerung von Sebastian Kurz begreifen, der im Oktober 2017 – damals in Verbindung mit dem Vollverschleierungsverbot – in einem Tweet auf Twitter formuliert hatte: „Wichtig, dass wir unsere Werte aktiv vorleben.“[5]

Auf Werte schauen, Werte leben, Werte aktiv vorleben – diese Formulierungen wecken jeweils Bilder. Einmal erscheinen Werte als etwas, das es zu beschützen gilt, so als sei ihre Existenz nicht selbstverständlich, sondern müsse eigens sichergestellt werden. Dass Werte verschwinden können, suggeriert ebenfalls das „noch“ in Hofers Posting, das zugleich die Überzeugung verrät, Werte seien stabil, solange man sie lebt. Das heißt wohl, dass es darum geht, sie im eigenen Handeln zu verkörpern, sie eigens als solche zur Geltung zu bringen. Sie müssen sich idealerweise so stark verwirklichen, dass das jeweilige Handeln ausdrücklich als Wertebekenntnis sichtbar wird. Dazu passt auch die Vorstellung eines aktiven Vorlebens von Werten. Indem man sie demonstrativ zum Ausdruck bringt, schützt man sie zugleich am besten.

Die Werte werden in allen Beispielen allerdings noch näher bestimmt, ist doch jeweils von ‚unseren’ Werten die Rede. Bei diesem Adjektiv ist von vornherein offensichtlich, dass es eine integrative und eine exkludierende Dimension hat. Es schließt alle ein, die zur jeweiligen Wir-Gruppe gehören, und grenzt alle anderen aus. In den Politiker-Äußerungen bleibt aber wiederum unbestimmt, wer genau mit dem ‚Wir’ gemeint ist – und wer nicht. Klar ist hingegen, dass ‚unseren Werten’ etwas gegenüberstehen muss. Vielleicht sind das andere Werte, vielleicht ist es auch etwas, das die jeweilige Wir-Gruppe nicht gleichrangig als Werte anerkennt. Und während das Andere etwas sein kann, vor dem die eigenen Werte beschützt werden müssen, könnten diese umgekehrt vielleicht auch das sein, was vor dem Anderen schützt.

Um dem Eindruck entgegenzuwirken, derartiger Denkfiguren würden sich vor allem konservative und rechte Politiker aus Österreich bedienen, seien die nächsten Beispiele von Politikern aus den Reihen der Grünen in Deutschland genommen. So findet sich auf deren Website unter dem Stichwort ‚Programm’ der Appell „Kämpfe mit uns für ein starkes Europa, das unsere Werte weltweit verteidigt“.[5] Und Winfried Kretschmann, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, bediente sich nach den Terroranschlägen von Paris im November 2015 der Losung „Wir verteidigen unsere Werte und unsere Freiheit“. Zudem äußerte er die Gewissheit, „unsere Werte“ seien „stärker als die Verblendung und der Hass von Fanatikern“.[7]

Hier wird noch deutlicher, dass man die Werte zwar einerseits schützen muss, dass sie andererseits aber stark genug sein können, um im Kampf gegen Fremdes und Feindliches zu helfen. Wie entschlossenes Handeln jeweils Werte verkörpert und diese durch Präsenz stärkt, tragen starke Werte dazu bei, dass man überhaupt handeln und sich positionieren kann. So unverbindlich sein mag, welche Werte jeweils gemeint sind, so markant ist also formuliert, was man von ihnen erwartet und ihnen zutraut. „Menschen suchen nach Halt, nach Werten“, sagt Robert Habeck, Bundesvorsitzende der Grünen, und signalisiert damit wiederum, dass Werte ein Faktor von Stabilität und Sicherheit sind.[8] Man könnte in ihnen sogar ein Bollwerk sehen: etwas, das zwar angegriffen werden kann und daher verteidigt werden muss, aber genauso etwas, das Verteidigung erst erfolgreich macht.

Aber reicht das schon, um unterstellen zu können, die Berufung auf Werte sei exkludierend, gar elitär? Zwar wird dann offenbar der Zweck verfolgt, Grenzen zu definieren, doch braucht das nicht zwangsläufig zu bedeuten, dass alles jenseits der Grenze des ‚Wir’ abgewertet wird. Allerdings ist das dennoch immer wieder der Fall, woran der – von mir behauptete – elitäre Gestus von Wertediskursen sichtbar wird. Dazu sei ein weiteres Politiker-Statement betrachtet, diesmal ein Tweet der CDU, in dem im Februar 2019 eine Aussage der Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer wiedergegeben wurde: Sie „erwarte von Menschen, die zu uns kommen, dass sie unsere Werte akzeptieren – und vor allem erwarte ich von uns selbst, dass wir dafür eintreten! Und dass wir das auch durchsetzen!“[9]

In diesem Tweet trennt Kramp-Karrenbauer ausdrücklich zwischen Menschen innerhalb und Menschen außerhalb einer Wir-Gruppe. Beide Gruppen verhalten sich gegenüber „unseren Werten“ anders, wobei sogleich eine weitere Unbestimmtheit auftaucht, ist doch nicht klar, was genau ein Akzeptieren von Werten von einem Eintreten für Werte unterscheidet. Gewiss verlangt letzteres mehr Aktivität und Engagement als ersteres, doch muss sich nicht beides – das Akzeptieren und das Eintreten – im Handeln ausdrücken? Wann aber zeigt man mit dem, was man tut, dass man bestimmte Werte akzeptiert, und wann tritt man für sie ein, setzt sie durch? Oder sollte es so sein, dass Menschen mit anderer Herkunft gar nie mehr möglich ist, als „unsere Werte“ zu akzeptieren, sie sozusagen sekundär anzunehmen und ihnen mehr oder weniger überzeugend zu folgen, während „wir“ mehr mit ihnen tun – sie auch durchsetzen – können, da wir mit ihnen primär sozialisiert wurden? Das legt Kramp-Karrenbauers Aussage zumindest nahe, womit diejenigen, die für Werte eintreten und sie durchsetzen können, aber auch zu einer Elite werden – zwar selbst nicht unbedingt wenige sind, aber dennoch herausgehoben und privilegiert gegenüber allen anderen.

Was aber haben Werte an sich, dass sie nicht allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehen? Sind sie so etwas wie eine Sprache? Dann hätte man bestimmte Werte so, wie man eine Muttersprache hat, während man andere Werte erst wie andere Sprachen lernen muss und nie so gut beherrschen wird wie das, womit man aufgewachsen ist. Und wie man der eigenen Muttersprache neue Facetten abzugewinnen vermag, sie bereichert oder neu lebendig werden lässt, lässt sich genauso einem Wert neue oder zusätzliche Geltung verleihen, kann man ihn anders oder plastischer realisieren als bisher. Dass man für Werte eintreten, sie leben und vorleben kann, verheißt somit einen Gestaltungsspielraum. Man muss sich sogar erst eigens für sie engagieren, damit sie nicht abstrakt und leer bleiben. Aber man kann dann auch stolz darauf sein, es als eigene Leistung empfinden, wenn man für sie eintritt, sich für sie einsetzt, ihnen eigens Gestalt verleiht.

Rückblick auf die Wertephilosophie und deren Entwurf einer Genieethik

Was in Tweets und Parolen von Politikern anklingt und gängigen, üblicherweise nicht weiter reflektierten Redeweisen über Werte entspricht, findet in Wertephilosophien seine Bestätigung und Differenzierung. So sind für Nicolai Hartmann – in seiner erstmals 1925 publizierten Ethik – gerade die Dichter diejenigen, die den Menschen „plastisch vor Augen stell[en]“ können, wie „reich und werterfüllt“ etwas sein kann.[10] Etwas zur Sprache zu bringen und ein Wertebewusstsein auszuprägen, ist für ihn untrennbar miteinander verbunden. Damit aber sind für ihn auch innerhalb einer Kultur nicht alle Menschen gleichermaßen befähigt, Werte vorzuleben und stark zu machen. Dazu bedarf es vielmehr einer speziellen Begabung – einer im weitesten Sinne künstlerischen, einer empfindend-gestalterischen Begabung.

Das wird bei Max Scheler und in seiner Wertephilosophie, die der Hartmanns um einige Jahre vorausgeht, noch offenkundiger. Für ihn sind Werte von vornherein leitend für den Menschen, doch bedarf es besonderen Spürsinns und Gestaltungsvermögens, um einen zuerst nur vage empfundenen Wert umzusetzen und real werden zu lassen. So müssen etwa erst die passenden Objekte und Situationen gefunden werden, an denen er sich zur Geltung bringen lässt. Scheler bezeichnet es ausdrücklich als „‚schöpferische’ Leistung“, Werte als solche zu erfassen und zu manifestieren.[11] Ferner spricht er davon, für das Verwirklichen eines Wertes brauche es einen „große[n] Werkmeister“ und „plastischen Bildner“, der „aus dem Gemenge von empirischen Einzelheiten heraus – gegebenenfalls nur an einer Handlung, ja einer Ausdruckgeste – die Linien ihres Wertwesens herauszuschauen und herauszuarbeiten vermag“.[12] Gelingt dies, so könnte man folgern, wird aus dieser Handlung oder Geste ein Vorleben des jeweiligen Werts.

Handlungen, in denen sich Werte manifestieren, sind also auch für Scheler wie Kunstwerke, und wie man nicht diejenigen am höchsten schätzt, die bloß etwas nachahmen oder innerhalb von Konventionen bleiben, so findet auch innerhalb seiner Wertethik das Verhalten am meisten Anerkennung, bei dem ein Wert eigenständig, stark, sichtbar zur Geltung kommt. Das aber ist selten, der Vergleich mit der Kunst impliziert vielmehr auch für Scheler, dass nur wenige Menschen so ‚wertemusisch’ veranlagt sind, dass sie Werten in einzelnen Handlungen Gestalt verleihen können. Um es zuzuspitzen, könnte man Schelers Wertethik sogar als eine Genieethik bezeichnen. Statt eine Ethik zu entwickeln, die es – wie etwa der Kategorische Imperativ – allen Menschen ermöglicht, sich allein deshalb, weil sie Menschen sind, als verantwortungsbewusst und moralisch zu qualifizieren, verlangt er als Voraussetzung dafür besondere Fähigkeiten. Schelers Wertethik ist somit ausdrücklich anti-egalitär. In ihr bestimmt tatsächlich eine kleine Minderheit – eine Elite – von Begabten darüber, was als wertvoll – als gut und moralisch – gilt. Diese wenigen leben es den anderen vor und werden damit zu Vorbildern.

Im Blick auf die Wahlkampfparolen von Kurz und Hofer ist festzustellen, dass diese ähnlich als singuläre Persönlichkeiten herausgehoben werden wie bei Scheler und Hartmann diejenigen, die Werte zu realisieren vermögen. Politiker werden hier in Analogie zu Künstlern und Genies gepriesen und für ihre Fähigkeiten im Umgang mit Werten bewundert, während die große Mehrheit der Menschen offenbar über keine oder viel geringere wertmanifestierende Eigenschaften verfügt. Sie leiden vielleicht sogar – um nochmals einen Begriff Nicolai Hartmanns aufzunehmen – unter „Wertblindheit“, können selbst also gerade nicht auf Werte schauen, müssen sich vielmehr an den ‚Sehenden’ orientieren, um ihrerseits zu spüren, was wichtig und gut ist.[13]

Für Annegret Kramp-Karrenbauer scheint es eine solche Wertblindheit hingegen nicht zu geben. Gemäß ihrer Aussage können grundsätzlich alle Menschen ‚unserer’ Kultur deren Werte stärken. Auch sonst wird einer solchen Auffassung heutzutage nie ausdrücklich widersprochen. Vielmehr berufen sich sogar so viele Menschen zustimmend auf Werte, dass man kaum glauben will, die Begabung zum Umgang mit ihnen könnte etwas Seltenes sein, ja der Umgang mit ihnen überhaupt eine eigene Begabung verlangen und entsprechend den Charakter des Elitären haben. Aber vielleicht liegt das daran, dass es noch andere Möglichkeiten gibt, für Werte einzutreten, man also keiner Minderheit besonders Begabter angehören muss, um sie stark zu machen?

Wer kein Wert-Genie ist, kann sich sekundär durch Einsatz materieller Ressourcen als wertebewusst qualifizieren

Schon die Formulierung, man könne für Werte eintreten und sie durchsetzen, legt nahe, worin derartige andere Möglichkeiten bestehen könnten. Wer für etwas eintritt, sich für etwas einsetzt und engagiert, mobilisiert Ressourcen. Das kann bedeuten, dass man Geld gibt, Zeit aufwendet, Netzwerke spielen lässt, spezielle Kompetenzen zur Verfügung stellt. Was aber heißt das bezogen auf Werte? Dazu ein Beispiel: Geht es um den Wert ‚Nachhaltigkeit’, dann kann man sich etwa dafür einsetzen, das eigene Haus wärmezudämmen, eine Solaranlage auf dem Dach zu installieren oder bei Haushaltsgeräten wie Kühlschränken auf ökologischere Modelle umzurüsten – kann also ziemlich viel Geld, das man sonst für anderes verwendet hätte, für energiesparende Maßnahmen ausgeben. Sofern man körperlich fit ist und über entsprechend viel Zeit verfügt, kann man zudem Autofahrten möglichst oft durch Touren mit dem Fahrrad ersetzen. Eigens Zeit und Engagement widmet man dem Ziel der Nachhaltigkeit ebenfalls, wenn man eine Demo oder eine Crowdfunding-Kampagne organisiert oder eine Bürgerinitiative gründet, die für Änderungen in der Verkehrspolitik oder in der Landwirtschaft kämpft oder sich für eine Energiewende einsetzt. Um dabei erfolgreich zu sein, muss man aber wiederum zusätzlich auf diverse andere Ressourcen zurückgreifen oder braucht Menschen, die Fähigkeiten ehrenamtlich zur Verfügung stellen, muss also erst einmal genügend andere kennen, um zu wissen, wen man wofür ansprechen kann.

Es lässt sich also geradezu beliebig viel Einsatz leisten, um einen Wert zu stärken und sich mit ihm zu identifizieren. Dennoch ist dies etwas anderes, als im Sinne von Wertephilosophen wie Scheler und Hartmann als Vorbild zu fungieren und für ein Wertbewusstsein zu sorgen, ja einen Wert überhaupt erst dringlich zu machen. Diese seltene Begabung könnte man hingegen – um beim Beispiel ‚Nachhaltigkeit’ zu bleiben – Greta Thunberg attestieren. Sie hat es verstanden, durch ihr eigenwilliges Auftreten und Reden und vor allem durch ungewöhnliche Sätze wie „Ich will, dass Ihr in Panik geratet“ viele Menschen für den Wert einer gesunden Umwelt und eines stabilen Klimas zu sensibilisieren, ihnen etwas, dass sie davor schon irgendwie gespürt hatten, in seiner Bedeutung plastischer zu vergegenwärtigen.

Während ein Wertgenie durch entschlossenes, charismatisches, vorbildhaftes – aber nicht einfach nachahmbares – Agieren beeindruckt, wirkt das Handeln aller anderen eher so, als liefen sie einem bereits als wichtig erfahrenen Wert hinterher und seien streberhaft darum bemüht, sich als moralisch gut zu erweisen. Vielleicht wirkt ihr Engagement für einen Wert dann auch zu bekenntnishaft und etwas plump, nämlich wenn sich ihr Einsatz darauf konzentriert, ihn demonstrativ in Szene zu setzen und eigens als solchen zur Geltung zu bringen. Das suggeriert, man wolle keinen Zweifel daran lassen, den betreffenden Wert richtig erfasst zu haben.[14]

Doch viel gravierender ist eine andere Folge des Eintretens für einen Wert. So erfährt der inegalitäre Charakter einer Wertethik eine – von Scheler und Hartmann übrigens gänzlich unterschlagene – Verschiebung und Verschärfung, wenn statt einer besonderen Begabung Ressourcen und Kompetenzen zum Einsatz kommen. Dann haben nämlich diejenigen die besten Chancen, sich als wertebewusst und im Weiteren als verantwortungsvoll und moralisch zu qualifizieren, die über das meiste Geld, die meiste Zeit, die beste Ausbildung, die tragfähigsten Netzwerke – also über die meisten materiellen Güter – verfügen. Die Art und Weise, wie Werte exklusiv wirken, verlagert sich also nur. Statt einer oder zusätzlich zu einer Begabungselite kann nun die Elite derer, die die meisten materiellen Güter besitzen, am besten darüber bestimmen, welche Werte besonders stark präsent werden und so auch für andere zu gelten haben. Aus einer elitären Genieethik wird die Werteethik also zu einer nicht minder elitären plutokratischen Ethik.

Eigentlich sollte diese ökonomische Ausrichtung einer Berufung auf Werte auch nicht verwundern. Blickt man auf die Geschichte des Begriffs ‚Werte’, ist ihre materielle Fundierung nämlich völlig unstrittig. Lange Zeit verstand man unter Werten sogar primär materielle Güter wie ein Haus, Schmuck oder eine gute Aussteuer. Diese Güter waren aber zugleich ideell überhöht, da sie Tradition, Fleiß oder gesellschaftlichen Status repräsentierten. Erst seit dem späten 19. Jahrhundert haben sich die Akzente verschoben. Nun sind Familie, Heimat oder Nachhaltigkeit Werte, doch lassen diese sich – außer man ist ein Wert-Genie – nur dann leben, wenn man über entsprechende Ressourcen verfügt und etwas einbringen kann. Sich glaubhaft mit Werten zu identifizieren, ist nicht unabhängig von ökonomischen Bedingungen zu leisten, während andere Typen von Ethik – etwa eine Sollens- oder eine Tugendethik – so verfasst sind, dass sich ihre Ansprüche nicht nur unabhängig von besonderen Begabungen, sondern ebenso unabhängig von äußeren – materiellen – Voraussetzungen erfüllen lassen.

Viele Phänomene der heutigen Konsumkultur sind Ausdruck des materiellen Einsatzes für Werte – und damit zugleich Treiber vielfältiger und weiterer Ungleichheit. Von zahlreichen Herstellern quer durch die Branchen werden die zwischen Gütern und Werten angelegten Verbindungen mittlerweile eigens betont, in Szene gesetzt, gestärkt, so dass selbst fast jedes noch so alltägliche Konsumprodukt dazu geeignet ist, Werte zu repräsentieren und zu beglaubigen. Beim Kauf eines Joghurts kann man sich entscheiden, ob man sich für den Wert ‚Fitness, den Wert ‚Natur’ oder den Wert ‚Heimat’ einsetzen will. Ein Kosmetikprodukt wirbt damit, die Vitalität zu steigern und zu Leuten zu passen, denen Werte wie Leistung und Performance wichtig sind, eine andere Produktvariante hingegen verspricht Schutz vor negativen Umwelteinflüssen oder beschwört Bilder eines guten Lebens jenseits von Großstadt und Hektik. Mit dem einen Paar Sneaker setzt man sich für ‚Fair Trade’ ein, mit dem anderen für recycelbare Materialien. Und die einen kaufen Produkte aus der eigenen Region aus ökologischen Gründen – dem Wert ‚Nachhaltigkeit’ verpflichtet –, die anderen tun dasselbe, weil sie den Wert ‚Heimat’ stärken wollen. Das Marketing, das derartige Verbindungen zwischen Werten und Produkten stärkt, dürfte längst der wichtigste Dienstleister für alle Menschen sein, die keine Wertgenies sind, sich aber dennoch für einzelne Werte einsetzen wollen.

Konsumprodukte spielen auch deshalb eine wichtige Rolle, weil sie als sichtbare Beweisstücke für Gesinnungen fungieren können, den materiellen Einsatz also besser signalisieren als vieles andere. Dank ihres Designs werden sie zu moralischen Statussymbolen aufgeladen, deren Bedeutung infolge der Macht der Sozialen Medien in den letzten Jahren noch weiter zugenommen hat. So wird mancher Kauf heutzutage sogar vor allem deshalb getätigt, weil man auf dem eigenen Instagram-Account demonstrieren will, was für ein verantwortungs- und wertebewusster Mensch man ist. Polemisch zugespitzt: Gerade in einigen Milieus von Besserverdienenden besteht die Arbeit an der eigenen moralischen Qualifikation mittlerweile primär darin, Fotos werthaltiger Produkte oder Projekte, ergänzt mit passenden Hashtags, zu posten. Das Posen und Posten folgt dabei der Logik von Wettbewerben: Es geht darum, andere auszustechen und zu überbieten, sich also hervorzutun – und damit zu einer Elite zählen zu dürfen.

Werte in Wohlstandsgesellschaften

Dass sich die westlichen Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten zu Wohlstandsgesellschaften entwickelt haben, begünstigte die Tendenz, politische, moralische und weltanschauliche Diskurse lieber über Werte als etwa über Pflichten oder Tugenden zu führen und moralisches Handeln sogar mit dem Einsatz für Werte gleichzusetzen. So ist es für diejenigen, die am Wohlstand teilhaben, ziemlich bequem, schon mit ein paar Konsumakten Wertebewusstsein und damit Verantwortung oder ein moralisches Gewissen demonstrieren zu können. Zudem lässt sich durch die enge Verknüpfung von Gütern mit Werten fast jeder Konsumakt legitimieren, lässt sich damit doch der früher übliche Vorwurf, es handle sich dabei nur um materielle, oberflächlich-banale Bedürfnisbefriedigung, entkräften. Vielmehr ist Shopping in der Wohlstandsgesellschaft mehr als fast alles andere ideell aufgeladenes Handeln.

Das aber führt dazu, dass nicht nur noch mehr als ohnehin schon konsumiert wird; zudem droht auch noch eine Beschleunigung von Konsumkreisläufen. Wer sein Verantwortungsgefühl vor allem via Konsum zum Ausdruck bringt, nutzt vieles nämlich nicht, bis es kaputt ist, sondern nur so lange, bis er oder sie in einer anderen Spielart Verantwortung demonstrieren will oder etwas findet, mit dem sich Verantwortungs- und Wertebewusstsein noch aktueller, prägnanter, witziger oder stilvoller zur Geltung bringen lässt. So kauft man vielleicht neue Sneaker ohne umweltschädliche Kunststoffe, obwohl ein anderes Paar aus dem Fair-Trade-Shop erst ein paar Monate alt und eigentlich noch tadellos ist. Man überbietet sich darin, immer noch weitere Kriterien und Werte zu berücksichtigen: Nach den ohne Kinderarbeit produzierten Schuhen landet man als nächstes bei einem zudem vegan hergestellten Paar.

So entsteht die paradoxe Situation, dass diejenigen, die am meisten konsumieren, also am meisten verbrauchen, auch die besten Chancen haben, als besonders wertebewusst und engagiert zu gelten, während diejenigen, die über keinen materiellen Wohlstand verfügen und deren Konsum über Notdurft kaum hinausgeht, im Gegenteil damit rechnen müssen, als wertegleichgültig und unsensibel, gar als unverantwortlich eingeschätzt zu werden. Und je nachdrücklicher man Konsumprodukte mit Werten auflädt, je emphatischer das Konsumieren als verantwortungsvolles Handeln dargestellt wird, desto stärker setzt sich insgesamt eine Idee von Ethik durch, die in ihrer Anlage inegalitär ist und moralisches Handeln an ökonomische Voraussetzungen knüpft.

Selbst wenn es – wie im Fall eines Werts wie ‚Nachhaltigkeit’ – naheläge, auf den Einsatz von Ressourcen so weit wie möglich zu verzichten, erweist sich die Verknüpfung von Werten mit etwas Materiellem als so stark und eingespielt, dass wertebewusstes Handeln doch auch hier meist darin besteht, möglichst viel einzusetzen. Statt den Urlaub zuhause zu verbringen, substituiert man die Flugreise durch eine zeitaufwendigere Reise mit einem ökologisch verträglicheren Verkehrsmittel, opfert dafür also zusätzliche Urlaubszeit und demonstriert damit besonderes Engagement. Noch beliebter ist es, weiterhin in den Urlaub zu fliegen, dafür aber eine Kompensationszahlung für den CO2-Ausstoß zu leisten. Die Zusatzzahlung lässt sich nämlich viel besser als Wertbekenntnis, als bewusste Entscheidung darstellen denn der bloße Verzicht, der genauso Bequemlichkeit oder Armut geschuldet sein könnte.

Für Menschen, die über wenig oder keinen Wohlstand verfügen, ist eine Wertethik im Gegensatz dazu jedoch ausnehmend diskriminierend. Sie können es nicht ausgleichen, keine Wertgenies zu sein, ja sie können sich für Werte nicht genügend einsetzen und nicht einmal das, worauf sie verzichten müssen, fotogen in Szene setzen. Annegret Kramp-Karrenbauers Aussage erscheint damit nochmals in anderem Licht. Da sie mit den „Menschen, die zu uns kommen“, Flüchtlinge meint, benennt sie nicht nur Menschen aus anderen Kulturen, sondern vor allem Menschen, die ziemlich mittellos und auch deshalb darauf beschränkt sind, Werte anderer – nämlich derer, die über Wohlstand verfügen – zu akzeptieren. Sie haben nicht die Ressourcen und Fähigkeiten, selbst Werte zu setzen, während man von den wohlhabenderen eigenen Bürgern erwarten darf, dass sie genügend Gestaltungsmöglichkeiten – Ressourcen – besitzen, um aktiv für Werte einzutreten.

Allerdings gibt es auch innerhalb einer Wohlstandsgesellschaft große materielle Unterschiede und viele Unterprivilegierte, die nur sehr eingeschränkt an der Konsumkultur teilhaben können. Je schlechter sie sich aber als moralische Persönlichkeiten zu qualifizieren vermögen, desto stärker müssen sie sich auch als Menschen zweiter Klasse, als minderwertig erfahren. Dass sie sich ausdrücklich ausgeschlossen, von einer zwar nicht ganz kleinen, aber gerade deshalb als um so mächtiger empfundenen Elite diskriminiert fühlen, wird noch dadurch gesteigert, dass die Privilegierten, die ihre Werte umfassend ausleben können, dazu neigen, stolz darauf zu sein und sich entsprechend über die Menschen zu erheben, denen weniger moralische Selbstverwirklichung und weniger Konsum von gutem Gewissen möglich ist. Letztere entwickeln daraufhin aber fast unvermeidlich Ressentiments gegenüber der Werte-Elite, und es ist wahrscheinlich, dass sie die von dieser verkörperten Werte ablehnen oder zumindest gegen die ihnen aufoktroyierte aktuelle Spielart einer ‚Herrenmoral’ protestieren.

Gesellschaftliche Folgen der engen Verknüpfung von Werten mit Wohlstand

Aber nicht nur wegen der Steigerung von ökonomischer Ungleichheit zu moralischer Ungleichheit droht der Gesellschaft durch eine wertethische Imprägnierung eine größere und tiefere Spaltung. Vielmehr werden dadurch auch andere Entwicklungen forciert, die den sozialen Frieden gefährden. Dass materieller Reichtum, der Einsatz für Werte und moralische Qualifikation eng miteinander verbunden sind, verleiht dem Werteadel – als neuer Elite – nämlich eine nur sehr bedingte und fragile Überlegenheit. Denn sosehr Wohlstand damit mehr als nur materielle Privilegiertheit bedeutet, so sehr hieße sein Verlust, dass man zugleich als moralische Persönlichkeit diskreditiert zu werden droht. Wer plötzlich viel weniger Ressourcen zur Verfügung hätte, könnte sich entsprechend schlechter für Werte einsetzen und sie nicht mehr leben, sondern höchstens noch passiv akzeptieren. Wohlstandsverlust ist in einer wertethisch geprägten Gesellschaft also schlimmer als in einer an einer Pflicht- oder Tugendethik orientierten Welt: Es ist ein doppelter Verlust. Und nicht nur das: Da materieller Wohlstand immer unsicher und diversen individuellen wie gesamtgesellschaftlichen Gefährdungen ausgesetzt ist, steht die Qualifikation als moralische Persönlichkeit in einer wertethisch verfassten Gesellschaft auch auf besonders wackligen Füßen. Entsprechend groß können die Ängste vor einem Wohlstandsverlust werden.

Ein Politiker, der damit beworben wird, auf Werte zu schauen oder Werte „noch“ zu leben, reagiert damit nicht zuletzt auf die Verlustängste derer, denen es ‚noch’ gut geht. Ihnen wird signalisiert, dass ihr komfortabler Status-quo zwar gefährdet sein mag, dass es aber auch die Chance gibt, ihn zu bewahren. Die Berufung auf Werte und die Warnung vor ihrer Bedrohtheit entspringt also einer konservativen Grundhaltung. Je mehr jemand – doppelt – zu verlieren hat, desto größer wird sein oder ihr Interesse sein, es zu bewahren und zu sichern. Die eigentliche Botschaft der Wahlkampfslogans lautet somit: Ein Politiker, der sich um Werte kümmert, kümmert sich auch um deren materielle Grundlagen, also um den Wohlstand. Dabei klingt diese Botschaft umso verheißungsvoller, je größer die Gefährdung des Wohlstands erscheint. So neigen Politiker, die sich als Bewahrer von Werten (und Wohlstand) rühmen, dazu, das als geradezu heroische Tat, als kämpferische Leistung, als Akt des Widerstands gegen feindliche Mächte in Szene zu setzen. Sie wecken und steigern – einerseits – die Verlustängste, um sich – andererseits – umso wirkungsvoller als Retter zu präsentieren. Sie stellen die Werte als akut bedroht heraus und verkünden zugleich die Überzeugung, sie könnten sie zu einem starken Bollwerk machen.

Tatsächlich ist in den letzten Jahren vermehrt zu beobachten, wie Parteien, Bewegungen und Einzelfiguren besonders viel Resonanz bekommen, wenn es ihnen gelingt, Verlustängste zu stimulieren. Das mag ein Indikator dafür sein, wie konservativ die (Wohlstands)gesellschaft (geworden) ist, es ist aber vor allem auch die geradezu logische Folge davon, dass viele moralische und politische Diskurse zu Wertediskursen geworden sind. Dadurch kommt es in der politischen Landschaft zu neuen Polaritäten, die nicht mehr dem vertrauten Links-Rechts-Schema folgen, sondern sich um die gängigsten Verlustangst-Narrative herum bilden, für die jeweils Teile der Werteliten empfänglich sind, die dann im weiteren auch andere Menschen zu beeinflussen vermögen. Die Dramatik dieser Narrative lässt sich einerseits nahezu beliebig steigern, während sie andererseits – da es sich um Zukunftsszenarien handelt – nicht beweisbar, vor allem aber nicht widerlegbar sind. Das macht die Auseinandersetzung damit schwierig, und wer erst einmal von einer Variante von Verlustangst affiziert ist, neigt dazu, die eigene Umwelt fast nur noch entsprechend dem dazugehörigen Narrativ wahrzunehmen und alles andere auszublenden.

Einem erfolgreichen Narrativ zufolge sind Wohlstand und Werte vor allem durch Flüchtlinge bedroht – nämlich dann, wenn sie ‚unsere’ Werte nicht akzeptieren, sondern eigene Werte mitbringen. Geschürt wird die Angst vor Parallelgesellschaften und Überfremdung, in der extremeren Variante des Narrativs ist sogar von einer ‚Umvolkung’ oder einem ‚Großen Austausch’ die Rede, also von mehr oder weniger gezielten Programmen einer Multikulturalisierung der Gesellschaft, gegen die dann zum Kampf aufgerufen wird. Die Berufung auf Werte dient hier einer klaren Grenzziehung zwischen dem Eigenen, das man bewahren will, und allem Fremden. Noch markanter als in Kramp-Karrenbauers Aussage werden die Werte also zum Instrument einer Exklusion: Eine westliche Wohlstandselite grenzt sich damit von Menschen anderer Kulturen ab, die man in ökonomischer sowie weltanschaulicher – religiöser und moralischer – Hinsicht als weniger entwickelt empfindet. Dass sich der rechte Flügel der CDU, der gegen Angela Merkels Flüchtlingspolitik protestiert, als „WerteUnion“ bezeichnet und als einzige wirklich konservative – bewahrende – Bewegung versteht, zeugt davon, wie selbstverständlich die Vorstellung von Werten als Bollwerk bereits etabliert ist. Im Manifest der „WerteUnion“ vertritt man die Überzeugung, „langfristig“ könnten „unsere Werte und unsere Kultur“ nur gesichert werden, wenn sich die Einwanderer „nicht nur integrieren, sondern assimilieren“. Das wiederum verlangt ein starkes Vorleben ‚unserer Werte’. „Bekennen“, „eintreten“ und „dazu stehen“ sind daher auch die beliebtesten Verben des Manifests.[15]

Mancherorts nimmt man die Vorstellung von Werten als Bollwerk noch wörtlicher. So ging es 2017 durch die Presse, als der Weihnachtsmarkt in Krefeld nicht nur mit Pollern vor Lastwagen-Attentätern geschützt wurde, sondern als man sie zudem mit Begriffen von Werten wie ‚Toleranz’, ‚Frieden’, ‚Sicherheit’ beklebte. Sich auf dem Markt innerhalb des von den Pollern geschützten Bereichs zu befinden, hieß damit, Teil einer Wertegemeinschaft zu sein und sich zu den Werten zu bekennen, die durch Angriffe von außen bedroht sind, bestenfalls aber auch jeden Angriff abwehren können.

Das zweite große Verlustangst-Narrativ sieht den Status-quo der Wohlstandsgesellschaften durch einen Klimawandel oder gar eine Klimakatastrophe bedroht. Dabei wirken die Werte derer, die diesem Narrativ anhängen, auf andere Weise grenzziehend und exkludierend. So erkennen sie ihren Wohlstand – im Unterschied zu den Anhängern des Überfremdungs-Narrativs – als Teil des Problems an, sehen sich also als mitschuldig am befürchteten Verlust des Status-quo: mitschuldig an Erderwärmung, CO2-Produktion und Ressourcenverbrauch. Entsprechend wollen sie den Wohlstand wahren, indem sie ihn anders als bisher nutzen und daher etwa den Wert ‚Nachhaltigkeit’ zu stärken versuchen. Doch gerade das Eingeständnis eigener Schuld am drohenden Wohlstandsverlust verführt die Anhänger des Klimawandel-Narrativs auch leicht dazu, sich als einsichtiger, sensibler, verantwortungsbewusster und moralischer einzuschätzen als alle diejenigen, die diesem Narrativ nicht folgen. Sie werten letztere oft sogar ausdrücklich ab und bekunden so ihre empfundene Überlegenheit. Sie verfallen in den Modus des Moralisierens.

Die durch Werte konstituierte Grenze ist in diesem Fall also keine Grenze, die vornehmlich zwischen verschiedenen Gesellschaften oder Kulturen gezogen wird, sondern manifestiert und verschärft eine Trennlinie viel eher innerhalb der Gesellschaft. Werten die Anhänger des Überfremdungs-Narrativs andere Religionen – wie den Islam – oder andere Regionen – wie Afrika – als unterentwickelt ab und sehen darin eine Bedrohung des eigenen Wohlstands und der eigenen Werte, so handeln aus Sicht der Vertreter des Klimawandel-Narrativs SUV-Fahrer, Fleischesser und Kohlestrombefürworter – also oft die eigenen Nachbarn und Kollegen – unverantwortlich und wohlstandsgefährdend.

Gewiss polemisieren auch die Verfechter des Überfremdungs-Narrativs gegen diejenigen in der eigenen Gesellschaft, die ihre Ängste nicht teilen, aber da sie ihr Agieren nicht in Kategorien von Schuld und Buße beschreiben, fehlt es ihnen an der Autorität, den Gegner durch Moralisierung zu disqualifizieren. Sie treten primär als westliche (weiße, männliche) Wohlstands-Elite auf, die ihre Privilegien gegen den globalen Rest verteidigt und sich nicht zu ändern bereit ist, während die Protagonisten des Klimawandel-Narrativs eine Moral-Elite darstellen, die sich selbst als Vorbilder sehen, von ihren Gegnern jedoch genervt-süffisant als ‚Gutmenschen’ tituliert werden.

Wie geht es jenseits der Werteliten weiter?

Die Verlustangst-Narrative sind in den letzten Jahren so erfolgreich geworden, dass diejenigen, die ihnen nicht folgen, es zunehmend schwer haben, überhaupt noch als gleichermaßen relevante Akteure des politischen Diskurses anerkannt zu werden. Sie verlieren zumindest den Anspruch, selbst noch einer wertesetzenden Elite anzugehören. Dass sie nicht von Zukunftsangst getrieben sind, lässt sie gar als leichtfertig und verantwortungslos erscheinen – als laue, fragwürdige Zeitgenossen, die nicht für ihre Werte kämpfen. Doch vielleicht haben viele derer, die hier in den Verdacht moralischer Gleichgültigkeit geraten, allein deshalb keine großen Zukunftsängste, weil sie weniger als andere zu verlieren haben – weil ihr Wohlstand geringer, ihr Status-quo nicht gerade großartig ist? Vielleicht sind ihre Probleme in der Gegenwart so groß, dass sie sich eine schlimmere Zukunft kaum ausmalen können. Vielleicht leiden sie unter Armut, Krankheit, schlechter Ausbildung oder Einsamkeit, können sich also weder selbst für Werte starkmachen, noch das Gefühl entwickeln, diese seien bedroht.

Je mehr die politische Agenda von negativen Zukunftserwartungen beherrscht wird, desto weniger finden diejenigen noch Gehör, die aktuell mit negativen Lebensverhältnissen zu kämpfen haben. Aber auch Parteien, deren Ausrichtung darin besteht, bestehende mangelhafte Verhältnisse zu verbessern statt vorhandenen Wohlstand zu verteidigen, geraten in die Defensive. Sowohl Linke, die auf soziale und emanzipatorische Projekte setzen und für mehr Lohngleichheit, bessere Aufstiegschancen oder die Anerkennung von Minderheiten, aber ebenso gegen Altersarmut oder ungleiche Bildungsniveaus kämpfen, als auch Liberale, die mehr Bürgerrechte und eine Stärkung des Individuums durchsetzen wollen, tun sich schwer, gegen die Dringlichkeit der Verlustangst-Narrative überhaupt noch anzukommen. Im Vergleich zu diesen wirken ihre Fortschritts-Narrative vielleicht sogar naiv und altmodisch.

Die Wohlstandsgesellschaft frisst also ihre eigenen Eltern, und ihre Werteseligkeit ist so umfassend, dass diejenigen, die jenseits der Eliten stehen, keine alternativen Diskursformen durchsetzen können. Im Zweifel folgen sie dann allerdings denen, die sie nicht explizit moralisch abwerten, denen, die sich ihrerseits gegen ‚Gutmenschen’ richten, denen, die eine harte Grenze zwischen Kulturen und nicht innerhalb der Gesellschaft markieren. Sie folgen eher dem Teil der Wertelite, der dem Überfremdungs-Narrativ folgt, als den Anhängern des Klimawandel-Narrativs. (Und sie dürften von denen, denen sie folgen, ziemlich enttäuscht werden, da es sich dabei eben selbst um eine Elite handelt, die sich nicht sehr für die Belange der Nicht-Privilegierten interessiert.)

Zugleich aber erliegen diejenigen, die jenseits der Eliten stehen, selbst häufig der Verführung, von Werten zu sprechen – und machen sich nicht klar, wie sehr sie damit einer inegalitären Eliten-Logik zuarbeiten, die sie vermeintlich bekämpfen. Wenn ein linker Politiker von „unseren Werten“ spricht oder wenn eine führende Repräsentantin der evangelischen Kirche – in diesem Fall die frühere EKD-Ratsvorsitzende Margot Käßmann – „Nächstenliebe und Barmherzigkeit“ als „christliche Werte“ bezeichnet, dann ist das also zumindest unreflektiert.[16] Um beim letzten Beispiel zu bleiben: Gerade der Protestantismus war bekanntlich aus einem starken egalitären Impetus heraus entstanden und ersetzte alle Aussichten, durch materielle Aufwendungen – etwa für Ablässe – zum Seelenheil zu gelangen, durch die Prinzipien ‚sola fide’ und ‚sola gratia’. Wer Nächstenliebe als Wert ausgibt, macht diese Prinzipien jedoch wieder zunichte, ist damit doch schon nahegelegt, diejenigen für besser als andere zu halten, die mehr an Hilfsorganisationen spenden, sich Kampagnen ausdenken, die viral gehen, oder es auch nur verstehen, ihr Engagement mit den passenden Bildern und Hashtags zu kommunizieren. Das alles spielt hingegen keine Rolle, wenn man Nächstenliebe etwa als Tugend begreift. Dann kann die kleinste Geste – das richtige Wort im richtigen Moment – genauso gut von moralischer Sensibilität zeugen wie eine große Kampagne – und dann kann sich ein mittelloser Mensch genauso moralisch bewähren wie ein Wohlhabender.

Gewiss profitieren zu viele von der Wohlstandsgesellschaft, von der Konsumkultur und den Möglichkeiten, sich zu Werten zu bekennen, als dass es gegenwärtig erfolgversprechend sein könnte, die wertethische Orientierung der Gesellschaft überwinden zu wollen und etwa wieder vermehrt auf pflichtenethische oder tugendethische Konzepte zu dringen. Doch ließe sich zumindest die politische Auseinandersetzung klarer und bestimmter führen, würde man die Wertediskurse eigens zum Thema – und gerne auch zum Problem – erklären. Es würde besser sichtbar, welchen Voraussetzungen sie entspringen und welche Folgen sie für verschiedene Milieus der Gesellschaft haben. Man könnte die anti-egalitäre, ja elitäre Dynamik von Wertbeschwörungen als solche fassen und schließlich vielleicht sogar den Verlustangst-Narrativen gezielt Narrative entgegensetzen, die nicht von einer schlechteren, sondern von einer besseren Zukunft erzählen.

 

Wolfgang Ullrich ist freier Autor.

[Dieser Beitrag basiert auf einem Vortrag beim 23. Philosophicum Lech und kann hier nachgehört werden.]

 

Anmerkungen

[1] https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Mitschrift/Pressekonferenzen/2015/09/2015-09-07-merkel-gabriel.html.

[2] Andreas Urs Sommer: Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt, Stuttgart 2016, S. 156f.

[3] https://twitter.com/emil_goldberg/status/1166628262564552704/photo/1.

[4] https://www.facebook.com/norberthofer2019/photos/a.1650590858551542/2445779725699314/?type= 3&theater.

[5] https://twitter.com/sebastiankurz/status/914387603159420928.

[6] https://www.gruene.de/programm.

[7] https://www.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse/pressemitteilung/pid/wir-verteidigen-unsere-werte-und-unsere-freiheit.

[8] „Menschen suchen nach Halt, nach Werten“ (2017), auf: https://rp-online.de/politik/deutschland/robert-habeck-im-interview-menschen-suchen-nach-halt-nach-werten_aid-17677113.

[9] https://twitter.com/CDU/status/1091330466425262080.

[10] Nicolai Hartmann: Ethik (1925), Göttingen 1949, S. 11.

[11] Max Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materielle Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, Halle 1916, S. 268f.

[12] Ebd., S. 508.

[13] Hartmann, a.a.O. (Anm. 10), S. 9.

[14] Vgl. Wolfgang Ullrich: Wahre Meisterwerte. Stilkritik einer neuen Bekenntniskultur, Berlin 2017.

[15] https://werteunion.net/wofuer-wir-kaempfen/konservatives-manifest/ [Seite nicht mehr verfügbar]

[16] https://rp-online.de/politik/deutschland/margot-kaessmann-ich-kann-nicht-verstehen-wenn-christen-afd-waehlen_aid-17917037