Überlegungen nach Relotius
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 15, Herbst 2019, S. 103-109]
Dies ist eine ›Geschichte‹ von Lüge, Missverständnis und allzu gutem Verständnis. Die wichtigeren Punkte betreffen die »Spiegel«-Redaktion und andere Journalisten, Verleger, Preisverleiher, Ausbilder aus dem Bereich der sog. Qualitätspresse, nicht den ›Fälscher‹ Claas Relotius. Dem »Spiegel«-Journalisten Relotius kommt das Verdienst zu, für eine Selbstreflexion dieser Sorte ›Qualitätsjournalismus‹ gesorgt zu haben, die bemerkenswert und aufschlussreich ist. Natürlich war das nicht seine Absicht, er wollte lediglich hinschreiben, was von ihm erwartet wurde. Offenbar wusste er genau, was zu tun ist, zum Dank bekam er nicht nur großes Lob von seinen Vorgesetzten, sondern eine enorme Menge an Preisen – Preise, die oftmals Juroren von »Zeit«, »SZ«, »Spiegel« etc. an ihre eigenen Kollegen verleihen und dadurch ein weiteres Mal dokumentieren, welche Art Journalismus sie gut finden: liberale Ansichten, menschelnd verpackt, leicht lesbar, in Langform.
Vielleicht wegen der Kürze der Auftragszeit, vielleicht weil er auf andere Weise überfordert oder zu menschenscheu, perfektionistisch oder tagträumerisch veranlagt war, sparte es sich Relotius häufig, zu den ausdrücklich gewünschten oder als selbstverständlich vorausgesetzten Meinungen und Konstellationen wirkliche Meinungsträger und reale Auseinandersetzungen aufzuspüren. Natürlich wäre das oft nicht unmöglich gewesen; einige White-Trash-Wähler Trumps in Fergus Falls (Minnesota) oder gewaltbereite, selbsternannte Grenzschützer, die lateinamerikanischen Flüchtlingen an der Grenze zu den USA das Leben schwer machen wollen, hätten sich schon auftreiben lassen. Die Welt ist bekanntlich sehr vielgestaltig, Leute zu allem Möglichen bereit; die einzelne Handlung, der konkrete Mensch beweist darum erst einmal nichts über die jeweilige Besonderheit hinaus, kann allerdings dem schlichten Gemüt schlagend als unmittelbar überzeugendes Symbol oder suggestiver Beleg dienen. Relotius dachte sich solche Details und Individuen gerne aus, oder er entnahm Personen und Handlungen bereits erschienenen Zeitungsartikeln, ohne dies kenntlich zu machen. In beiden Fällen hat er also selber nichts gesehen oder gehört, außer in seiner ganz auf das Wirklichkeitsverständnis von konkreten Kollegen und vermuteten Lesern ausgerichteten Fantasie und Lektürepraxis.
Eine vom »Spiegel« beauftragte Kommission – irritierenderweise aus dem engsten Kreis des ›Qualitätsjournalismus‹: eine frühere Chefredakteurin der »Berliner Zeitung« und zwei hochrangige »Spiegel«-Leute – kam daraufhin zu dem Schluss, die Anforderungen an die Überprüfung von Texten zu erhöhen, etwa durch größere Dokumentationspflichten der Journalisten und durch Angabe zweier unabhängiger Quellen (»Spiegel«, Heft 22, 25.5.2019). Diese Regeln sollten allgemein gelten, insbesondere aber für Reportagen, weil sie in speziellem Maße anfällig für Wirklichkeitsvortäuschungen seien.
Das leuchtet insofern ein, als es dem Reporter genregemäß aufgegeben ist, nicht Agenturberichte oder Pressemitteilungen zusammenzufassen oder auf andere Art zu bearbeiten, sondern seine eigenen Beobachtungen zu (nicht unbedingt tagesaktuellen) Ereignissen oder auch von Alltagshandlungen und (mitunter nicht prominenten) Menschen auf eine Weise zu formulieren, die von den Konventionen der Meldung und des Berichts abweicht. Zu überprüfen, ob alltägliche, kleine Begebenheiten und Äußerungen unbekannter Personen im Angesicht des Reporters tatsächlich stattgefunden haben, fällt fraglos schwer. Plausibel erscheint auch die Warnung vor der Methode, sich in die Gedanken eines Protagonisten in einer konkreten Situation ›hineinzuversetzen‹, anstatt lediglich zu notieren, was dieser in einem späteren Moment über seine (angeblichen) damaligen Ideen und Gefühle aussagte. Ebenfalls sinnvoll klingt die Forderung, »störende Fakten«, »Widersprüchliches und Sperriges« innerhalb der Reportage nicht wegzulassen, »Geschichten« also nicht »rund zu machen«, die »Wirklichkeit« nicht einer (evtl. vorgefassten) Tendenz und »Dramaturgie unterzuordnen«.
Manch andere Begründung der Kommission kann hingegen kaum überzeugen. Teilweise fallen die Einschätzungen und Pointierungen unüberlegt oder eigenartig aus, teilweise ist der Bericht von gravierenden Missverständnissen und Versäumnissen geprägt. Die Aussagen der »Spiegel«-Kommission geraten deshalb (wenn man es wenig wohlwollend ausdrücken möchte) mitunter in die Nähe des Selbstbetrugs – und daran trägt Relotius keine Schuld, um das gleich vorwegzunehmen. Zuerst zu den Eigentümlichkeiten: Die Kommission spricht vom »Genre«, der »Gattung« der Reportage, bestimmt die Reportage aber auf eine Weise, die deutlich von Missverständnissen und fragwürdigen Einschätzungen geprägt ist, nicht von einer lexikalischen Definition oder einem wissenschaftlichen Ansatz. So heißt es etwa: »Sprachliche Ausschmückung von Szenen oder die Illumination von Orten, Verhältnissen, Gedanken und Beziehungen verwischen die Grenze zur Literatur. Die Reportage ist dort das richtige Genre, wo es für den Betrachter viel zu sehen und zu erkunden gibt, wo er teilhaben kann an Ereignissen und Gesprächen. Jedes Adjektiv birgt die Gefahr einer subjektiven Interpretation und öffnet die Tür zur Erfindung.« Hier ist nun so ziemlich alles falsch: Wenn »es viel zu sehen und zu erkunden gibt«, kann das genauso gut Gegenstand eines (Hintergrund-)Berichts sein; wieso die Reportage umgekehrt bei einem kleinen Alltagsausschnitt ohne sofort ins Auge springenden Detailreichtum unangemessen sein soll, bleibt gattungsgemäß unerfindlich. Die sprachliche »Ausschmückung« muss auch den Realitätsgehalt nicht mindern, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun; eine Metapher, eine Alliteration, ein Chiasmus verringern keineswegs kategorisch den Wahrheitsgehalt, ebenso wenig ein Adjektiv. Hingegen ist eine Interpretation von einer »Erfindung« (im Sinne der nicht gekennzeichneten Aufstellung fiktionaler, im journalistischen Rahmen demnach falscher, zumindest irreführender Aussagen) kategorial getrennt. Nebenbei gesagt: Die Interpretation könnte gerade in einer Reportage, die deutlich macht, dass sie nicht nur auf die Wahrnehmungen einer (reportierenden) Person zurückgeht, sondern an einem bestimmten Punkt auch auf deren über das Sichtbare hinausgehende Sinnstiftung, erlaubt sein; schließlich ist sie ja direkt und manchmal exklusiv an die Person des Reporters gebunden, an seine Beobachtungen und damit verbundenen Auffassungen.
Es gibt ein recht einfaches Mittel, diesen Status dem Leser zu verdeutlichen: Über dem Artikel müsste eine Angabe jener Textsorte stehen, um die es sich der Auffassung der Redaktion nach bei dem jeweiligen Beitrag handelt: Nachricht, Glosse, Kommentar, Rezension, Interview, Essay, Feuilleton, Witz, Hintergrundbericht etc. Im »Spiegel« fehlt das zumeist. Wiederholt als Textsorte gekennzeichnet ist im Jahrgang 2019 nur der »Leitartikel«, die »Meinung«, das »Gespräch«, die »Analyse«, die (ironisch bzw. kreativ so rubrizierte) »Homestory«, der »Kommentar«, die »Literatur«-, »Film«- oder »Popkritik«, der »Nachruf«. Wie schon bei den einschlägigen Texten Relotiusʼ gibt es auch nach dem Bericht der Kommission in den Heften weiterhin keinen redaktionellen Hinweis auf die ›Reportage‹.
Umso interessanter ist es daher, aus dem Kommissionsbericht etwas über das Reportage-Verständnis der ›Qualitätsjournalisten‹ zu erfahren. Die Kommission hält ihren Kollegen ironisch oder direkt kritisch vor, sie hätten bei der Gattung Reportage regelmäßig den »schön geschriebenen Text«, die »außergewöhnliche Story«, den Modus, »schwarz-weiß zu erzählen«, verlangt und prämiert. Merkwürdigerweise setzt die Kommission diese »toll komponierte« Geschichte, die über eine »stringente« »Dramaturgie« verfügt, mit »Literatur« gleich, als habe es über 200 Jahre moderner Literatur, die sich seit der Frühromantik genau gegen diese geschlossene Form und gegen eine klassizistische Vorstellung des ›Schönen‹ wendet, nie gegeben.
Die Kommission verlangt von der Reportage nun »Fakten«, »Tatsachen«, »Authentizität«, Festhalten des »Wesentlichen«; auch »in Dramaturgie und Ablauf« müsse die »Wirklichkeit wiedergegeben« werden. Zur Verdeutlichung soll u.a. eine Abgrenzung zur »Literatur, also der Fiktion«, dienen. Auch hier zeigt sich wieder ein eingeschränktes Verständnis von ›Literatur‹; ›Dokumentarliteratur‹ z.B. müsste nach Ansicht der Kommission ein Widerspruch in sich sein. Aber gut, solch eine enge Definition von ›Literatur‹ soll hier nicht weiter stören, wichtiger ist die direkt anschließende Erläuterung, welche »Erzählweise« Journalisten dem »Werkzeugkasten« der »Literatur, also der Fiktion«, mitunter entnähmen: Sie folgten bereits seit ihrer Ausbildung an Journalistenschulen manchmal den vielzitierten Merksätzen E.M. Forsters. Bei »The king died, and then the queen died« handle es sich um eine »Story«, ein »Plot« hingegen sei erst mit einer Verknüpfung gegeben, die eine zeitliche Abfolge übersteigt: »The king died, and then the queen died of grief.« Solch einen »Plot« dürften Journalisten aber im Gegensatz zu ihrer oft üblichen Praxis nur einer Reportage zugrunde legen, falls es hinreichende Anhaltspunkte und Beweise gäbe. Wenn es für Journalisten nicht möglich sei, über die Koinzidenz hinaus eine kausale Korrelation sicher festzustellen, müssten sie in der Reportage in entschiedener Abwandlung Forsters schreiben: »The king died, and then the queen died, and we donʼt know why.«
Am Rande sei vermerkt, dass ihr eigener »Literatur«-Begriff (in seiner Gleichsetzung mit »Fiktion«) von der Kommission hier falsch eingesetzt wird. Egal ob Story oder Plot, in fiktionaler Literatur bleibt beides Fiktion. In der Reportage hingegen gibt es keine Fiktion (ausgenommen, jemand kündigte innerhalb der Reportage an, für ein oder mehrere Absätze ein Märchen, eine erfundene Anekdote, eine Sage etc. zu erzählen), sondern eine mehr oder minder unbegründete Spekulation, eine daraus entstandene unwahre Aussage oder schlicht eine Lüge des Reporters. Unabhängig davon erkennt man aber zweifelsfrei das Anliegen der Kommission, in der Reportage bloße Mutmaßungen über Zusammenhänge aller Art zu unterbinden.
Hier könnte die Debatte darum ihren Abschluss finden, man müsste ›nur‹ noch genauer überlegen oder festlegen, wie in der Reportage (im Unterschied zur Nachricht, zum Bericht, zum wissenschaftlichen Aufsatz etc.) die angemessene ›Wirklichkeitswiedergabe‹ durch Wörter erfolgen soll. So weit zu sehen, gelangte die Debatte in den ›Qualitätsmedien‹ mit der Veröffentlichung des Kommissionsberichts aber sogar ohne solche Überlegungen rasch an ein Ende. Inhaltlich wurde der Bericht kaum diskutiert oder kritisiert (etwa sz.de v. 25.5.2019; faz.de v. 25.5.2019). Über den Tenor des Kommissionsberichts hinaus ergingen auf welt.de (24.5.2019) und übermedien.de (24.5.2019) lediglich Forderungen nach Entlassungen oder Degradierungen der für Relotiusʼ Veröffentlichungen unmittelbar Verantwortlichen und nach noch größeren Überprüfungsanstrengungen.
Deshalb darf man wohl sagen, dass die Kommission im Sinne des »Spiegel« sehr gute Arbeit geleistet hat; mit ihrem Bericht war die Sache – der »Fälschungsskandal«, wie es in der medialen Öffentlichkeit meist hieß – zumindest innerhalb des ›Qualitätsjournalismus‹ keine weiteren Artikel mehr wert. Auch die Auflage ist seitdem nicht überdurchschnittlich gesunken, der »Spiegel« bleibt – zumal unter Führungskräften, wie in der LAE-Statistik (»Leseranalyse Entscheidungsträger in Wirtschaft und Verwaltung«) belegt – eine sehr populäre Zeitschrift (etwa Heft 24/2019 mit einer verkauften Auflage von 714.010 Exemplaren, darunter 99.399 ePaper bzw. »Spiegel-Plus«-Kunden; Reichweite unter den 2,9 Millionen »Entscheidungsträgern« 2019 bisher 29,2%).
Die relativ stabilen Zahlen – spiegel.de zudem mit über 266 Millionen Visits im Mai 2019 hinter bild.de auf Platz 2 in den IVW-Charts (»Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern«) – müssen natürlich nicht unbedingt etwas mit dem Kommissionsbericht und den Reaktionen auf ihn zu tun haben. Deutlich hervorzuheben bleibt jedoch, dass Abschlussbericht wie Rezeption die kritischen Reflexionen vorschnell eingestellt bzw. zu ihrer Weiterführung wenig bis gar nichts beigetragen haben. Zwar ist anzuerkennen, dass die Kommission keineswegs nur Relotius als Urheber des Problems identifiziert, sondern eine Reihe struktureller und organisatorischer Gründe für die unrichtigen Passagen und Artikel benennt, dennoch verhindert sie mit ihrer Konzentration auf das Genre der Reportage eine angemessene Einschätzung.
Der Grund für dieses Defizit liegt weniger in der bereits aufgezeigten Halbbildung der Kommission, was ›Literatur‹ und ›Reportage‹ anbelangt, sondern in stärkerem Maße in dem Umstand, dass die Textsorte ›Reportage‹ innerhalb der »Spiegel«-Ausgaben keine wichtige Stellung besitzt. Zwar hat die Chefredaktion innerhalb der letzten Jahre die Zahl der Reportagen (ebenso wie die der Glossen, Kolumnen, Kommentare, Leitartikel, kurzen Berichte) weiter erhöht, sie verbleiben jedoch immer noch alle auf einem relativ niedrigen quantitativen Niveau. Beim Blättern durch die aktuellen Ausgaben sieht man rasch: Es dominiert ein anderer Artikeltyp, in Ermangelung eines gut eingeführten und einigermaßen präzisen Begriffs (manchmal liest man von »Nachrichtenmagazingeschichte« oder »Magazingeschichte«) sei er vorläufig ›Magazin-Mischform‹ genannt; die »Spiegel«-Redaktion selbst markiert solche Artikel nie mit einer Textsortenangabe.
Diese Magazin-Mischform steht wie etwa das Feuilleton, die Glosse, die Rezension, die Kolumne und die Reportage (spätestens in der Manier des New Journalism) für das Anliegen, dem Dualismus von Meldung/Bericht und Kommentar zu entkommen. Gerade wie man ihn im »Spiegel« antrifft, zählt dieser Artikeltyp, der dort mindestens den Umfang einer Seite aufweist, zu den journalistischen Textsorten mit dem größten Potenzial an Genremischungen. Elemente und Partien des Berichts, Kommentars, der Glosse, der Rezension, der Reportage u.a. mehr können in ihn eingehen.
Das gerne angeführte »Spiegel«-Statut aus dem Jahr 1949 hilft bei der Analyse dieser Mischform nicht mehr weiter, weil es sehr stark jene »Story« betont, die durch die beschriebene Handlung einer Person mitsamt Ursachen und Auswirkungen zustande kommt (in Forsters Terminologie also: den »Plot«). Solch eine ›Geschichte‹ ist heutzutage nicht mehr häufig anzutreffen (wenn sie es je war). Die wiederholte Kritik an Machart und Komposition der »Spiegel«-Artikel, die sich gegen eine abgeschlossene, »gedichtete« Geschichte mit (aristotelischem) Anfang, Mitte, Ende, Held und durchgehender Handlung richtet (im Anschluss an den Kommissionsbericht jüngst sz.de v. 29.5.2019), geht demnach oftmals fehl und trifft wiederum zumeist bloß die Reportage.
Es gibt zwar handelnde Personen in vielen »Spiegel«-Artikeln (in jedem Heft auch mindestens ein Porträt und ein Gespräch mit einer Führungskraft), oftmals dienen die konkreten Angaben zu ihnen (ihrem Aussehen, ihrem Alter, ihren Bewegungen, einzelnen Aktionen usf.) aber überwiegend dazu, entweder den Text aufzulockern oder den Einzelbeleg für eine abstrakte These oder mehr oder minder repräsentative Zahl zu liefern. Fallen diese Angaben ausführlicher aus – und könnten so Teil einer Reportage sein –, dienen sie zudem dem Nachweis oder der Suggestion, sich nah an den Phänomenen zu befinden oder (im Falle von Prominenten) intimen Zugang zu ihnen zu bekommen, also über besondere Kenntnisse und Macht zu verfügen.
Solche Passagen stehen oft auch am Anfang des Artikels, sie bilden jedoch nicht den Auftakt zu einer Reportage, sondern wechseln sich ab mit teilweise mindestens ebenso ausführlichen Partien, die wegen ihrer Häufigkeit und Länge den Eindruck, man läse eine Reportage, schnell zerstreuen. In ihnen werden regelmäßig (wenn auch nicht in jedem Artikel gleichermaßen und in ähnlicher Frequenz) Experten zitiert, historische Informationen geliefert, Statistiken ausgewertet, Hintergründe geschildert, eigene Meinungen geäußert, Entdeckungen sowie Gerüchte, Mutmaßungen und nicht offiziell Berichtetes von genannten oder anonymisierten Insidern weitergegeben, allgemeinere Reflexionen angestellt, Prognosen formuliert und Ratschläge gegeben.
Fast jeder Artikel dieser Mischform liefert durch quantitative Gewichtung der Aussagen, stark konnotierte Wörter und oft auch durch direkte Bewertungen der Journalisten deutliche Hinweise oder ausdrückliche Maximen, was gut ist und was schlecht, was nicht mehr geschehen sollte, aber in Zukunft geschehen müsste, und was geschähe, falls das Richtige nicht getan würde. Diese Einschätzungen beruhen auch auf den gemachten Beobachtungen und den recherchierten Einzelangaben – jedenfalls signalisiert kein Artikel, dass man an einer bestimmten Stelle von der Sammlung erst einmal beliebiger Eindrücke zur mehr oder minder gesetzmäßigen oder empirisch überprüften Angabe z.B. bestimmter kausaler Verbindungen übergehe. Darum verhalten sich alle Anekdoten, sinnliche Einzelheiten, Zahlenangaben, Wiedergaben der Gedanken anderer, Handlungsbeschreibungen, Charakterdarstellungen, Dialogpassagen etc. funktional zum Ganzen – zur Tendenz des Artikels – und verlieren darüber ihren Status als besonderes, kontingentes, bloß unterhaltendes, bedeutungsloses oder in seiner Bedeutung noch unerkanntes Material.
Von einer Zurückhaltung, Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, Besonderem und Allgemeinem, Individuum und Typus, Motiv und Tat, Charakter und Äußerung zu behaupten, kann demnach beim Großteil der längeren »Spiegel«-Artikel keine Rede sein. Der Hinweis der Relotius-Kommission, die Reportage sei in der praktizierten ›literarischen‹ Form besonders anfällig für fingierte Plots, stellt darum ein Missverständnis oder eine Art des Selbstbetrugs dar, weil er das unverfälschte Konstruktionsprinzip der meisten anderen Beiträge gar nicht in den Blick bekommt. Wenn die Forderung der Kommission, solche Zusammenhangsstiftungen weitgehend zu vermeiden, nicht nur die Reportage beträfe, käme dies dem Ende des »Spiegel« gleich.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlags. Nähere Hinweise zum Heft hier.