Sound-Maschinen
von Gunnar Schmidt
4.9.2019

Pathos-Generatoren

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 13, Herbst 2018, S.63-69]

Es gehört zum rhetorischen Repertoire der Musikkritik, dass man virtuosen Musikern attestiert, sie ›verfügten über eine stupende Technik‹. Die mit der Floskel zum Ausdruck gebrachte Bewunderung für die Kunstfertigkeit, die auf jahrelangem intensiven und extensiven Üben beruht, schließt in der Regel auch die Wertschätzung für die künstlerische Ausdruckskraft ein.

Ist im Deutschen von ›Technik‹ die Rede, kommt eine zweite Bedeutung des Wortes ins Spiel, denn neben dem formalisierten Können werden Maschinen, Geräte und Apparate als ›Technik‹ bezeichnet. Gemäß einer bekannten Medientheorie sind diese Sachsysteme verdinglichte Fertigkeiten, die als Prothesen beziehungsweise Erweiterungen der anthropologischen Ausstattung fungieren. 

Formalisiertes Können von Mensch und Maschine hat im Bereich der Klangkünste inzwischen zu einer Entsprechung geführt. Wenn man heute über einen Künstler sagt, er verfüge über Technik, dann wird man nicht ausschließlich den Handwerker-Virtuosen assoziieren, sondern den Besitzer einer Umgebung aus Soundgeneratoren, Effektgeräten und Audio-Editoren.

So sehr elektronische Musik ihre Anfänge in der Avantgarde hatte, die den Schwerpunkt von der strukturellen Zeitorganisation der Musik und den harmonischen Gefügen hin zu einer Suche nach Klangfarben verschob und damit konventionellen Musikgeschmack verstörte, so sehr hat mit der Digitalisierung eine allgemeine Industrialisierung des Musikmachens stattgefunden. Unter Umgehung des disziplinierenden Instrumentelernens, in dem noch symbolisch der archaische Kampf zwischen dem Menschen und den Widerständen der Natur eingefasst ist, wird an der Universalmaschine Computer eine hoffnungsfrohe Techno-Ermächtigung eingeübt. Längst hat sich ein ganzer Kultursektor der Sound-Tüftler entwickelt, in dem Amateure und Professionals nicht immer unterschieden werden können. 

Mit der massenhaften Verwendung vorgegebener Technikdispositive ist allerdings ein altes Paradox der Technikwirkung im Bereich der klanglichen Weltbespielung wirksam geworden: Auf Produktionsseite können sich die Akteure als ästhetische Subjekte im Schiller’schen Sinne erleben. Diese Akteure, ihrem »ästhetischen Bildungstrieb« folgend, bauen an einem »fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.« Aufgrund der weit gestreuten Verfügbarkeit der Produktionsmittel, Distributionskanäle und der dazugehörigen kulturellen Szenen nähert sich die ästhetische Kultur der Utopie Schillers, in der es nicht mehr nur einer künstlerischen Elite vorbehalten ist, »die freie Lust […] und das Unnötige als den besten Teil der Freuden« zu genießen. 

Als Gegenspieler zur Schiller’schen »freien Bewegung, die sich selbst Zweck und Mittel ist«, tritt die formierende Kraft der Maschinendispositive auf, »die zunehmende Unverfügbarkeit für den Menschen, das Überspielen seiner Entschlüsse, Wünsche, Bedürfnisse durch eine Dynamik der Sache, die dem gesamten Leben einer Epoche einen unverkennbaren homogenen ›Stil‹ aufprägt.« Was Hans Blumenberg als Grundzug der technischen Sphäre ausweist, gewinnt vor den empirischen Klang-Tatsachen eine spezifische Gültigkeit: Bereits 2005 haben Klaus Sander und Jan St. Werner in »Vorgemischte Welten« die Preset-Kultur in der Popmusik beklagt. Es bleibt aber ein anzuerkennendes Faktum, dass die von Software-Herstellern bereitgestellten Sample-Bibliotheken und Werkzeuge hohe Attraktivität besitzen. Native Instruments, einer der führenden Anbieter von Soft- und Hardware, wirbt 2018 wie folgt für ein Produkt-Paket: »Expansions enthalten alles, was Sie für Tracks in Ihren Lieblings-Genres brauchen – fantastische Synth-Presets, Drum-Kits, Samples, Loops und vieles mehr. Wählen sie zwischen mehr als 50 Expansions – allesamt von namhaften Sound Designern und Künstlern zusammengestellt.«

Das Werbe-Lingo liefert nicht nur ein Versprechen auf Produktionserleichterung, es beschreibt tatsächliche Verhältnisse, in welchen vorgeprägte Stile von Consumer-Produzenten leichthändig nachgebildet werden. Das technische »Preset« wird zur »Voreinstellung« im Geschmackssinn. Kritikwürdig ist dieser Sachverhalt nur unter der Annahme, dass Subjektivität nach idiosynkratischen Expressionen verlangt. Entsprechend gilt für denjenigen, der im Akt des Maschinengebrauchs nicht die Begrenzung seines Ausdrucks bemerkt, dass er sich an das Gerät verloren hat. 

Neben den industriellen Vorprägungen sind aber vor allem die grundlegenden Änderungen in den Praktiken zu betrachten, die das Verständnis von Sound beeinflussen. Anstatt Tag für Tag Feinmotorik-Übungen auszuführen, um die Möglichkeiten eines Musikinstruments zu erkunden und auszudehnen, bedient der Techno-Musiker Funktionen über Interfaces. Er justiert Regler und nutzt Knöpfe zum Umschalten – im Grunde aber läuft die Maschine von selbst. Man muss nicht mit konservativer Skepsis die tendenzielle Entleiblichung des elektronischen Klangzauberns mit der Entseelung des Resultats gleichsetzen, doch ist festzustellen, dass das User-Verhalten oft von einer konzentrierten Reglosigkeit geprägt ist. Zugegeben, die Skizze vereinfacht die Verhältnisse, denn mit den maschinellen Techniken sind auch professionelle Fertigkeitskompetenzen entstanden. Mögen bei Live-Auftritten von E-Musikern, die wie Magier an undurchschaubaren Geräten hantieren, habituelle Ähnlichkeiten mit dem klassischen Konzertvirtuosen bestehen, was auch deren Verehrung durch das Publikum einschließt, so würde man gleichwohl deren Leistung kaum als ›stupend‹ oder ›virtuos‹ bezeichnen. Da die Anschaulichkeit des Tuns nicht in gleichem Maße wie bei der traditionellen Instrumentenbehandlung gegeben ist, fehlt die Dimension der ›permanenten Überbietung‹ des Könnens. Es kommt mehr auf die Beherrschung des Tricks an als auf die bewunderungswürdige Selbstkonditionierung des Instrumentalisten. Nicht zufällig werden die enthusiastischen Elektroniker adorierend als ›Bastler‹ und ›Frickler‹ bezeichnet, was ungewollt auch eine soziologische Charakterisierung einschließt: Die so Bezeichneten sind mehr Heimwerker als Erfinder, mehr Macher als Schöpfer.

Dennoch ist zu konstatieren, dass jenseits der Schemata ein Klangreichtum und damit einhergehend eine erweiterte Erfahrbarkeit von Sound entstanden sind, die weit über das Gewohnte des klassischen Konzerts oder des Dance Clubs hinausgehen. Nichtsdestotrotz ist auch für die Bereiche der freien Klang- oder Installationskunst festzustellen, dass diese Kunstformen von affirmativen Sounddesigns heimgesucht werden. Die erfolgreichen Arbeiten von Ryōji Ikeda und Carsten Nicolai liefern Beispiele für diese Tendenz. 

Die Diffusion von Avanciertem und Populärem, von Avantgarde- und Massenkultur hat Diedrich Diederichsen in einem Aufsatz zu »Sampling und Montage« analysiert und auch die damit verbundenen Handlungslogiken thematisiert. Zum Sampling, das in juristischer Diktion weitaus präziser »fremdreferenzielles Komponieren« genannt wird, merkt er an, dass es »den rezeptiven Praktiken immer noch sehr nahe ist – was bei seinem Ursprung im Plattenauflegen auch gar nicht so verwundert. Die Grenze zwischen produzierendem Samplen und Montieren und dem Zappen […] daheim vor dem Fernseher ist oft nicht so groß.« Der Diebstahl, den man dem Sample-Künstler vorwirft, ist nicht nur einer des Soundmaterials, an dessen entlehnter Expressivität und teilweise Wiedererkennbarkeit dem Künstler gelegen ist; es sind auch die Gesten des Sammelns, Collagierens oder des Spielens mit ›objets trouvés‹, die den historischen Avantgarde-Vorläufern entlehnt sind. Mit der ästhetischen Moderne ist ein Künstlertypus entstanden, der handwerkliche Meisterschaft dezidiert ablehnt, ein Habitus, der bis heute Vorbildcharakter hat. 

Unauflösbar scheint das dialektische Verhältnis von Subjekt und technischem Objekt zu sein, in dem grandiose Experimentiermöglichkeiten einerseits und die entsubjektivierende Gleichschaltung von Mensch und Apparatur andererseits in eins geraten. In diesem Spannungsfeld entstehen vielfältige Verhältnisse, in denen Körper, Handlung und klanggebendes Werkzeug immer wieder umorganisiert werden. Da es unmöglich ist, diese Phänomene in toto darzustellen, soll nur auf eine in jüngster Zeit prominenter werdende Hard-/Software-Technologie eingegangen werden. 

Mit der Erfindung des Tablet-Computers entstanden recht schnell auch Musik-Apps, deren anwachsende Fülle mittlerweile kaum zu überblicken ist. Einen Eindruck von der Produktvielfalt vermittelt der YouTube-Channel »thesoundtestroom«, der mehr als 22.000 Abonnenten hat. Unter den diversen Klangerzeugern bilden die Applikationen, die auf Granularsynthese basieren, ein kleines Segment. Programme wie »Borderlands Granular«, »iDensity«, »iPulsaret« oder »Curtis« nutzen als Rohstoff vorgefertigte Soundfiles, die jedoch nicht mehr als Einheiten wie im traditionellen Sampling aufgefasst werden, sondern in sehr kurze Fragmente (Grains) zerteilt werden. Der Spieler kann Anzahl, Dichte, Schwingungsgeschwindigkeit, Länge und Position dieser Grains im Sample definieren, was zu tiefgreifenden Veränderungen des Ausgangsmaterials führt. Es entstehen Texturen eher als Töne, oftmals in sich modulierende Klangereignisse. Zwar gibt es Anwendungen, bei denen diese multiplen Einheiten über eine Tastatur angesteuert werden; historisch neu sind jedoch jene Applikationen, bei denen die Wellenform des Samples im Interface abgebildet wird. Diese Formen kann der Spieler über den berührungsempfindlichen Bildschirm gleichsam anfassen und gestisch bespielen. Mittels des Berührungsdispositivs wird eine traditionelle Instrumentenhandhabung emuliert, denn durch die Stellung der Finger auf den Samples, die Geschwindigkeit der Bewegungen und das Vor- und Zurückstreichen werden unmittelbar Klang- und Dynamikänderungen bewirkt. Aufgrund der Aufwertung des Pathosorgans Hand ähnelt der Elektroniker wieder den Instrumentalisten von Saiteninstrumenten, die in sinnlichem Kontakt mit der Geige oder Gitarre stehen.

Sucht man nun nach Stichproben auf YouTube, die Auskunft über die musikalische Praxis geben, so fällt zweierlei auf: Neben der Vielzahl an Demo- und Tutorial-Videos, die den Möglichkeitsreichtum der Apps demonstrieren, finden sich nur wenige Videos, die das tatsächliche Musizieren mit den Granular-Samplern vorführen. Diese wiederum sind in der Mehrzahl dadurch charakterisiert, dass sie gerade nicht das aufsprengende Potential der Technologie oder der erweiterten Spieloptionen nutzen. Meist werden die Tools an das konventionelle Musizieren zurückgebunden, um gängige Rhythmen und harmonische Fügungen zu reproduzieren. Ein Spieler beschreibt seine Komposition denn auch mit explizitem Hinweis auf die Vorbilder: »Another strings demo with Borderlands Granular for iPad […]. Going for dark and broody, Hollywood style :-)«

Das Zitat soll nicht als Anlass für ein Lamento über die Zwingwirkung ästhetischer Klischees dienen. Kommentierungswürdig ist die Rolle des Granular-Werkzeugs innerhalb dieser Soundkultur. Entgegen der angeführten Rückorientierung auf die Spielmodalitäten traditioneller Saiteninstrumente lässt sich der Akt der Soundgenerierung auch ganz anders auffassen: Während der Spieler eines Streichinstruments hart an seinem Ton arbeiten muss, vermag der Maschinist mit wenigen Eingriffen eine ausgreifende, komplexe Klangwelt zu erzeugen; anstatt Ton für Ton zu setzen, stapelt er Soundfiles aufeinander, wobei jedes Sample bereits aus Klangschichten bestehen kann. Insofern verschiebt sich der Charakter des Spielers vom Instrumentalisten zum Dirigenten, der einen Klangkörper beherrscht. Die Ergonomie dieser Souveränität zielt also auf Orchestrierung, deren Hauptmerkmal die Evokation von Opulenz ist. Überlegenheit realisiert sich im Kalkül des Effekts. Effektproduktion – im ästhetischen wie technischen Sinne – bedeutet ausschließlich die Hervorbringung von Stimmungsdesigns. Musik verengt sich auf das Moment des Gefühligen. 

Mag die romantische Kompensationsfunktion von Musik auf einer tief verwurzelten Tradition beruhen, so verknüpft sie sich heute mit einem medialen Paradigma – dem Paradigma der Immersion. Mit diesem Begriff ist nicht nur ein physisches oder medial-imaginäres Eintauchen in einen Gegenraum gemeint. Immersion meint vor allem Intensitätssteigerung durch die künstliche Generierung von kenntlichen und damit abrufbaren Gefühlen. Mario Perniola hat für diese Mechanik in seiner Untersuchung »Über das Fühlen« den Terminus des »Bereits-Gefühlten« geprägt, eine bürokratisierte Form der Affektbildung. Die den Maschinen eingebaute Potenz zur wagnerianischen Überhöhung musikalischen Materials erlaubt auf vergleichsweise mühelose Weise die Verwaltung von melodramatischen Emotionen (Friedrich Nietzsche schreibt über Wagner: »dies Nichtmehr-loslassen-Wollen eines extremen Gefühls«). »Going dark and broody« – das ist weniger die Veräußerlichung von authentisch Empfundenem, vielmehr »stellvertretendes Fühlen als Widerschein«.

Was der italienische Philosoph im Tonfall der Kritik formuliert, lässt sich weicher als Problem darstellen: Die Soundmaschinen haben den unzweifelhaften Vorteil, dass mit ihnen Gefühlsambiente in spielerischer Heiterkeit zu gestalten sind. Findet damit Entfremdung bei gleichzeitiger Illusion der Selbstverfügung statt oder ein Entwicklungssprung in der anthropologischen Evolution? Im zweiten Fall wären nicht das Authentische oder Neue das Gebot der Praxis, sondern die künstlerische Verfügbarkeit für viele ohne dogmatische Maßgabe. Die Frage aber, was es mit den Expressionswünschen auf sich habe, ist damit noch nicht beantwortet. Die Medien zur affektiven Selbstgestaltung sind vorhanden und werden stetig optimiert – welche Funktion die Affektion durch Musik darin übernimmt, wird sich daran entscheiden, welche Vorstellung vom Spielen kulturelle Anerkennung findet. Bekanntlich hat Friedrich Schiller das Spielen als Grundlage wahren Menschseins postuliert. War seine utopische Anthropologie gegen Entfremdung in der sich versachlichenden Welt gerichtet, haben wir es inzwischen mit digitaler Souveränität zu tun. Es bleibt offen, ob in dieser Situation die Widerstands- oder die Mitmachhaltung, die alte Hoffnung auf ästhetischen Protest oder die Demokratisierung der Produktionsmittel die Idee des Spielens und der humanen Verfügung befeuern werden.

Vielleicht betritt aber bald ein dritter Spieler die Szene, der die Verhältnisse aufmischt. Dieser Spieler heißt Künstliche Intelligenz (KI). Mit dem Programm »Watson Beat« aus dem KI-Labor von IBM ist es bereits möglich, auf Basis eines kurzen Melodiefragments automatisiert ganze Stücke zu komponieren. Derzeit können diese auf sechs Grundstimmungen ausgelegt werden: amped, dark, romantic, angst, spooky, wordly. Für die Zukunft wird eine erweiterte Emo-Augmentierung erhofft, denn erzeugt werden sollen Stimmungslagen, die noch keine Bezeichnung haben. Die IBM-Labortheologen glauben an eine Maschine, in der behavioristische Psychologie und Schöpfertum formalisiert werden können: »The neural network understands music theory and how emotions are connected to different musical elements, and then it takes your basic ideas and creates something completely new.« 

Dieser Ingenieurstraum ist einer der Industrie, die vom Phantasma des passenden Produkts angetrieben wird. Soll man nun befürchten, dass im KI-Labor entschieden wird, was es mit der Seele, der Musik und dem Neuen auf sich hat? Man kann die Entwicklung entspannt beobachten, denn was als überraschend, unvorhergesehen und unähnlich im Ästhetischen erlebt wird, hat wohl noch ganz andere Voraussetzungen als Mustererkennung.