I try to laugh about it / Cover it all up with lies (The Cure: »Boys don’t cry«)
[aus: Pop. Kultur und Kritik, Herbst 2018, Heft 13, S. 17-22]
Mai 2018: Champions-League-Endspiel in Kiew. Nach einer halben Stunde ringt Real Madrids Abwehrspieler Sergio Ramos Liverpools ägyptischen Star Mohamed Salah derart brutal nieder, dass dieser mit einer Schulterverletzung den Platz verlassen muss. Unter Tränen, wie die Großaufnahmen im Fernsehen dokumentieren, denn nicht nur das Finale ist damit für ihn geplatzt, sondern womöglich auch die in wenigen Wochen anstehende WM. Das Verletzungsschicksal ereilt wenige Minuten später auch Reals Außenverteidiger Dani Carvajal, der ebenfalls weinend vom Spielfeld humpelt. »Ich weiß nicht, was sich da eingebürgert hat«, rätselt zur Halbzeit ZDF-Experte Oliver Kahn: »Jeder weint immer, wenn er verletzt ist, das kann man doch in der Kabine machen«.
Es ließe sich trefflich spotten über ein solches Relikt maskuliner Dissimulation aus einer Zeit, als Kicker noch Kerle waren, wären da nicht massenhaft weitere Weinende, etwa die Zuschauer, Juroren und Interpreten bei Musik-Castingshows: »Tränen beim Pop-Titan. Darum weint Dieter Bohlen wirklich«, enthüllt die Münchner »TZ« (nämlich deshalb, weil er sich bei einem Marianne-Rosenberg-Cover einer siebzehnjährigen Sängerin in die Göttinger Studentenzeit zurückversetzt wähnte, wo er für neunzig D-Mark mit Gemeinschaftsklo hauste und auf Geheiß seiner Eltern BWL studieren musste: »Da war wenig zum Lachen«). Oder Peer Steinbrück, den es zur Abwehr von Vorwürfen, sich mit Honoraren für öffentliche Auftritte maßlos und ganz unsozialdemokratisch bereichert zu haben, im Wahlkampf zur Form des »postideologischen Emo-Managements« auf die »Tränenbühne« zog. »Bewegte Tränenbilder« dieser Art hält Marcel Beyer in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen des Wintersemesters 2015/16 für eine Erfindung des TVs »frühestens der achtziger Jahre«.
Freunde des norwegischen Erfolgsautors Karl-Ove Knausgård wissen, dass in seinen autofiktionalen Romanen heftiges Weinen sogar eine eigene, nicht unbedingt dissimulierende Notationsweise aus vier im Bedarfsfall wiederholbaren ›O‹s bekommt. »Ich begann zu weinen«, heißt es z.B. in »Träumen«, dem zweiten Band der »Min Kamp«-Hexalogie, und nach einem Absatz geht es ohne Anführungsstriche weiter: »Oooo. Oooo. Oooo«.
Er sei froh, dass so viele gekommen seien, trotz des grotesken knausgårdesken Autorenfotos auf den Ankündigungsplakaten. Mit dieser Bemerkung eröffnet Christian Kracht seine mit Spannung erwarteten Frankfurter Poetikvorlesungen des Sommersemesters 2018. Das Bild hatte allerdings der Autor selbst ausgesucht. Aufgenommen wurde es von Krachts Ehefrau, der Filmemacherin Frauke Finsterwalder, und es zierte bereits das 2017 erschienene »Text+Kritik«-Heft zu Kracht. Ein Scherz also, dem dann freilich gut rhetorisch die captatio benevolentiae folgt: Er habe »eine tiefe Angst«, vor einem solch großen Auditorium zu sprechen. Das klingt nun eher nach ›New Sincerity‹ – oder deren Parodie? »Das hier schreibe ich aus Angst«, beginnt auch Simon Strauß seine »Sieben Nächte« mit dem Vorsatz, mehr Eigentlichkeit zu wagen.
Nun hat Christian Kracht uns im Laufe der Jahrzehnte einiges zugemutet, er hat uns verblüfft, genervt, irritiert, zu beeinflussen versucht und an der Nase herumgeführt – aber enttäuscht hat er uns nie. Und so wird auch nicht enttäuscht, wer sich von den Frankfurter Vorlesungen endlich jene Aussagen über Leben und Werk erhofft hatte, mit denen der Autor bislang eher knauserig war. Kracht überrascht alle, die zuvor darüber spekuliert hatten, welche Form abendfüllender Auskunftsverweigerung er denn diesmal wählen würde, durch ein Bekenntnis, das den Hörsaal in Schockstarre versetzt. Er sei als zwölfjähriger Internatsschüler der kanadischen Lakefield College School von einem anglikanischen Schulpastor namens Keith Gleed sexuell missbraucht worden. »Er hieß wirklich so«, bemerkt Kracht und zieht den Namen seines Peinigers bei jeder Nennung fast genüsslich-angeekelt in die Länge. Die eigenen Eltern, denen er am Telefon weinend davon erzählte, glaubten indes, er habe sich das alles nur ausgedacht, nicht zuletzt, weil er (Pop- und Ironiefreunde aufgepasst!) schon bei einem Gedichtwettbewerb in der Primarschule Beatles-Lyrics als seine eigenen ausgegeben hatte. Krachts Vorlesungen wurden durchweg als »spektakulär« gewertet, »haben niemanden kaltgelassen« (I. Mangold, »Zeit«). »Selbst wenn man«, schreiben Miriam Zeh und Kevin Kempke im Blog des »Merkur«, »(wie wir von uns denken) mit allen postmodernen Wassern gewaschen ist, war es schwer, sich Krachts Auftritt zu entziehen«. »Ab sofort« gebe es »eine prä- und eine post-Frankfurt-Lesart Christian Krachts«.
Aber wie könnte die Post-Lesart lauten? Etwa so, wie sie Felix Stephan in der »SZ« schon nach der ersten Vorlesung verkündet? »Ein Spiel ist es nie gewesen. Der Christian Kracht, der dort am Pult stand, hat noch nie einen ironischen Satz geschrieben. Es ging immer um alles, um den Menschen, den Humanismus«. Weg mit der Ironie, weg mit dem Spiel, hin zum Ernst, zum ›factum brutum‹, Tränen beim Pop-Titan? Ist es das, was unsere autofiktional trainierte Dekade als ›New Sincerity‹ erheischt? Eine Rückkehr in jenes postironische »Früher«, von dem Straussʼ Erzähler träumt, als man noch »das Leben liebte, in der Schwere zu Hause war«, »(nicht gleich mit einer Schusswunde vielleicht, aber wenigstens mit einer blutigen Nassrasur)«?
Erinnert sich noch jemand an die Frankfurter Poetikvorlesungen, die Bodo Kirchhoff im Wintersemester 1994/95 hielt? Auch dort war von einer Internatszeit mit einem »päderastischen Religionserzieher und Kantor« die Rede, der allerdings Pierre Brice zum Verwechseln ähnlich sah: »Das Kind […] fühlte sich auserwählt, als es eine Nacht mit Winnetou verbringen durfte und zum ersten Mal ein übermächtiges, mit einer ganz eigenen Angst – der Angst, zu zerrinnen – und einer ganz eigenen Würde – der Würde Winnetous, der es trocken tupfte – verbundenes Vergnügen an sich erlebte«. Der Missbrauch nicht als autofiktionales Bekenntnis, sondern als verstörendes, sexuell-künstlerisches Erweckungserlebnis, als apollinisch-dionysisches Doppelspiel. Für schlimmer als die Tat gilt dem Autor nämlich deren simples Hinschreiben, bedeute dies doch ein »sprachlich verloren Sein« (sic!), wie er es auch einer Orgasmusszene aus Nicholson Bakers Telefonsexroman »Vox« bescheinigt: »Oh! Nnnnnnnnn! Nnn! Nnn! Nnn! Nnn! Nnn! Es spritzt raus. Ich kann nicht anders. Ah! Ah! Ooooooooo.« Mit neun ›O‹s. »Beim Abtippen geriet ich, aus Texttreue, automatisch ins Zählen«, so Kirchhoff.
White Boy Problems? Nicht nur: »I was confused about why I didn’t fight, why I had an erection while I was being raped«, bemerkt im April 2018, auf dem Höhepunkt der Me-too-Debatte, Junot Díaz im »New Yorker«. Dem afro-dominikanisch-amerikanischen Autor und Pulitzerpreisjuror geht es aber weniger um die Emanzipation als Künstler denn um einen Offenbarungseid als Mensch: »It fucked up my whole life. More than being Dominican, more than being an immigrant, more, even, than being of African descent, my rape defined me«. Und dann ist der autofiktionale Held seines preisgekrönten Romans »The Brief Wondrous Life of Oscar Wao«, ein »ghetto nerd« und Stephen-King-Leser, auch noch zu fett, um die spezifischen Rollenerwartungen an ein »Dominican kid« zu erfüllen: »dude was supposed to have Atomic Level G, was supposed to be pulling in the bitches with both hands.« Oooo. Bzw.: uh oh! Nur kurz darauf bezichtigt die Autorin Zinzi Clemmons auf einem Schriftstellerkongress in Sydney den anwesenden Díaz diverser sexueller Übergriffe, sodass das identitätspolitisch eingefärbte Bekenntnis irritierenderweise wie eine präventive Verteidigungsstrategie wirkt.
Auch Krachts Offenbarungen haben mitunter Verteidigungscharakter. Etwa gegen den unsäglichen Faschismus-Vorwurf: »Ich habe mit diesen Tellkamps und ihren Winzerhüten und ihrem Willen nach Abgrenzung nicht das Geringste gemein«. (NB: Das stimmt. Siehe die definitive Tellkamp-Rezension in Heinz Strunks »Intimschatulle« unter dem Datum des 14. April 2018; Diagnose u.a.: »Verminderte Kausalaffekte, abnormer Zungenbiß, temporär Mundklemme erforderlich, sauermannscher Konflikt mit expansiver Fischatmung, dabei löffelartige Haltung der Lippen. Allgemeine Konstitution: mittel, schlecht, schwach, dick.«) Oder gegen den Vorwurf, nichts als »Popliteraturschmäh« und »aufgeblähten Dandy-Unsinn« verfasst zu haben. Pop-Skepsis in eigener Sache ist bei Kracht nicht neu. Dem 2007 erschienenen Kompendium »Pop – Seit 1964« von Eckhard Schumacher und Kerstin Gleba verweigert er als so ziemlich einziger namhafter Autor aus diesem Kontext einen Beitrag. Insgesamt scheint das Pop-Label ja inzwischen eher Verwirrung auszulösen, wie man auch bei der diesjährigen Jury in Klagenfurt sah: Ist Pop »Stigma einer überkommenen Ästhetik«, oder schreibt jemand wie Jakob Nolte inzwischen eine reflektierte Art von Meta-Pop?
Im Verlauf von Krachts Frankfurter Vorlesungen jedenfalls wird zumindest uns Nerds aus dem akademischen Ghetto schnell klar, dass ihm Pop und Camp wesentliche Versatzstücke bleiben. Seine ›education sentimentale‹ erfährt der kanadische Internatsjunge am Fernseher eines freundlichen Assistenzlehrers, der ihn stundenlang Serien sehen lässt: »Leave It To Beaver«, »Star Trek«, »Flipper«, »Bonanza«, »Lassie«, »Mission Impossible« oder »The Jean Genie« – so Kracht in aller Ausführlichkeit. Oder ist der dadurch vermittelte »tiefe Glaube an die Populärkultur als identitätsstiftendes Moment« am Ende auch ein Übergriff? Nein, denn: »Alles, was sich zu ernst nimmt, ist reif für die Parodie; auch diese Vorlesung«, stellt Kracht klar und bestätigt das, indem er sehr ernsthaft das einzige Pop-Poem des später zum Anglikanismus konvertierten »Hochstaplers«, »fake Anglos« und »Effekthaschers« (Kracht) T.S. Eliot zu Gehör bringt (»›Do I dare?‹ and, ›Do I dare?‹«). »Man muss nicht mal den ganzen J. Alfred Prufrock von T.S. Eliot mit so viel Herz und Würde vortragen, um mich zum Heulen zu bringen«, schreibt Clemens Setz, der zu allen drei Vorlesungen angereist war, auf Twitter, »aber dann kam tatsächlich das ganze Gedicht.« Und während Kracht noch darüber räsonierte, vielleicht selbst den Anglikanern beizutreten, liefert Setzʼ Twitter-Account nur wenige Tage später auch den bislang klügsten, schönsten und witzigsten Satz des Jahres zum Thema Existentialität der Literatur: »›Ein Buch muss sein der Warentrennstab für das gefrorene Meer in uns‹ murmeln während ich alle Handschuhe in der Wohnung umstülpe damit sie so aussehen wie überfahrene Federvieh«.
PS: Das nächste Buch dieser Art ist gerade erschienen, und es ist wieder ein Pop-Roman: »Junger Mann« von Wolf Haas. Gleich zu Beginn rast der titelgebende Held im Alter von vier Jahren auf eine selbstgebaute Sprungschanze zu, worauf es heißt: »Doch als ich den Blick hob, ergriff mich eine unvorhergesehene Nachdenklichkeit«. Man verrät nicht zu viel, wenn man sagt: Die hier absehbare Sportverletzung will fuck up his whole life, jedenfalls bis zur Erzählgegenwart, denn die anschließende Gips-Diät (»Mars und Nuts und Milky Way, aber auch Bounty und gewöhnliche Milka«) macht ihn bis ins Teenageralter fett wie Oscar Wao. Aber auch so sensibel, dass seine Angebetete ihn schon als künftigen Pfarrer sieht. Seine Überlebensstrategie als Mann: 0-Diät. »Eine Tasse Kaffee: null Kalorien. Man fragt sich zwar, wo die Schwärze herkommt, aber ohne Milch und ohne Zucker und ohne Kuchen war Kaffee völlig in Ordnung«. Unvorhergesehene Nachdenklichkeit, das ist vielleicht die Pop-Variante der ›New Sincerity‹. Wir haben bei der Lektüre geweint.
Literatur
Baker, Nicholson (1992): Vox. London.
Beyer, Marcel (2017): Das blindgeweinte Jahrhundert. Bild und Ton. Frankfurt am Main.
Díaz, Junot (2007): The Brief Wondrous Life of Oscar Wao. New York.
Haas, Wolf (2018): Junger Mann. Roman. Reinbek bei Hamburg.
Kirchhoff, Bodo (1995): Legenden um den eigenen Körper. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main.
Knausgård, Karl-Ove (2015): Träumen. München.
Kracht, Christian (2018): Emigration. Frankfurter Poetikvorlesungen (unveröffentlichter Vortrag).
Setz, Clemens (2018): @clemenssetz. Twitter-Account.
Strauß, Simon (2017): Sieben Nächte. Berlin.
Strunk, Heinz (2018): Intimschatulle 38: »Ich, Reinhold«. In: »Titanic«, H. 5, S. 36f.