Zwischen Pop und Musique Concrète
Über den Namen Asmus Tietchens bin ich erst vor etwa einem Jahr in einem Artikel von Till Kniola über Industrial und „Geräuschmusik Made in Germany“ gestolpert (Kniola 2017). Dabei ist Tietchens schon sehr lange aktiv und macht sehr hörenswerte instrumentale Musik, die der Entdeckung allemal wert ist. Deshalb möchte ich ihn und seine Musik näher vorstellen, dies aber auch zum Anlass nehmen, einige Überlegungen zu allgemeineren Problemen der Interpretation musikalischer Phänomene anzustellen.
Asmus Tietchens und der akademische Diskurs
Asmus Tietchens, Jahrgang 1947, bringt seit Anfang der 1980er Jahre relativ regelmäßig Alben mit instrumentaler elektronischer Musik heraus. Anfangs erfolgten seine Veröffentlichungen im Kontext von Labels und Kollaborationspartnern aus den Bereichen Industrial, Noise und Ambient, wussten sich aber schon recht bald auch immer wieder festen stilistischen Einordnungen zu entziehen.
Fasziniert und inspiriert von der Musik von Pionieren wie Karlheinz Stockhausen oder Pierre Schaefer, die er einst als Heranwachsender im nächtlichen Radioprogramm gehört hatte, setzte sich der Hamburger bereits in den 1960er Jahren mutig daran, autodidaktisch und lange Zeit ohne damit in die Öffentlichkeit zu treten das Handwerk elektronischer Klanggestaltung zu erlernen. Dieser Zugang, zeitweise unter Mithilfe des niederländischen Musikers und Produzenten Okko Becker (Gräf 2006), mag mit dazu beigetragen haben, dass sich das Werk von Asmus Tietchens zwar als höchst originell und interessant erweist, man sich aber scheut, ihn selbst als Komponisten im klassischen Sinne zu bezeichnen. Denn Tietchens geht das umtriebige konzeptionelle Theoretisieren der genannten Vorbilder weitgehend ab. Allerdings weist ein erfreulicherweise bei YouTube veröffentlichter und höchst hörenswerter Vortrag des Musikschaffenden Tietchens aus dem Jahre 2016 gleichwohl auf ein hohes Maß an Reflexivität bezüglich seiner eigenen künstlerischen Praxis hin (Tietchens 2016).
Der erklärte musikalische Nicht-Akademiker Asmus Tietchens war lange nebenberuflich als Lehrbeauftragter an der Hamburger Hochschule für Angewandte Wissenschaften tätig und scheint sich weitgehend und bewusst dem entzogen zu haben, was die Philosophin Sarah Kofman anhand des Beispiels der Bildenden Kunst als „wuchernden“ oder auch „geschwätzige[n]“ und „lärmenden Diskurs“ (Kofman 2008: 23) bezeichnete, der die figurativ-bildliche in die sprachliche Ordnung zu überführen sucht. Dessen eigentliche Angst ist das Schweigen, die interpretatorische und daher eigentlich auch verbal angebrachte Leerstelle (ebd.). Warum aber viel reden, wenn die Musik und häufig auch die Titel Tietchens für sich sprechen und höchst imaginative Räume zu öffnen vermögen, zumal er selbst dem Hörenden auch nicht intendierte Lesarten seiner Musik ausdrücklich gestattet?
Gleichwohl bleibt das Problem der Deutung musikalischer Phänomene offensichtlich grundsätzlich bestehen, bzw. wird partielle Nicht-Deutbarkeit viel eher zum Problem gemacht als die recht häufig anzutreffende Inflation problematischer Deutungen. In einem Artikel der Taz von 2006 äußerte Tietchens sich denn auch ähnlich: „Das ist immer der kritische Punkt bei meinen Studenten, sobald es keine Vergleiche mehr gibt. Vielleicht klötert es, zischelt oder es klappert.“ (zitiert nach: Gräf 2006). Vielleicht fallen Hörenden derartige assoziative, häufig onomapoetische Begrifflichkeiten aber auch schlichtweg nicht ein oder erscheinen anderen, einmal genannt, nicht als adäquat, das Gehörte zu beschreiben. Beim Bemühen, das Musikalische in Sprachliche zu ,übersetzen‘, werden, gerade von professionell Rezensierenden, neben den vorherrschenden Adjektiven und damit einhergehenden Metaphern, auch gerne Analogien verwendet, die allerdings ebenfalls nur mehr oder weniger zutreffend erscheinen. Tietchens Musik brummt sicher gelegentlich, klingt jedoch nie wie etwa ein Sonnenaufgang auf der Route 66 – selbst wenn dort, entsprechend massenmedial bestens etablierter Klischees, der Motor einer Harley oder eines Chevi brummen oder auch tuckern oder aufheulen könnte.
Besonders schwierig wird das Spiel und Geschäft mit der Deskription des Wahrgenommenen und damit einhergehenden Interpretationen dort, wo Kunstschaffende sich diesem mit ihren Werken bewusst verweigern. Asmus Tietchens hat von diesem vornehmsten aller künstlerischen Grundrechte des öfteren Gebrauch gemacht, wohl am deutlichsten in einer Kollaboration mit dem US-Amerikaner PBK aka Phillip B. Klingler. Ihr gemeinsam veröffentlichtes Album aus dem Jahr 1992 trägt den Titel „Five Manifestoes“ und enthält fünf Stücke unterschiedlicher Länge, die allesamt „Untitled“ benannt worden sind.
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Abgesehen davon, dass auch diese Absage tatsächlich als solche ein Manifest in bester Tradition der künstlerischen Avantgarden darstellt, geben Tietchens‘ Titel durchaus häufiger interpretatorisch nutzbare Hinweise, sind mal deskriptiv, mal assoziativ, mal formal und gelegentlich auch äußerst humorvoll. Allerdings lässt sich über die Jahre seiner musikalischen Tätigkeit eine zunehmende Tendenz zu sich nicht unmittelbar oder auch gar nicht erschließenden Benennungen feststellen, die wohl auch aus den Entwicklungen der Arbeitsweise des Klangsammlers und Bearbeiters resultieren. Deren Ausgangspunkt ist inzwischen zumeist konkretes Klangmaterial, das intensiv belauscht, technisch seziert und mehr oder weniger manipuliert und abstrahierend neu zusammengesetzt wird. Asmus Tietchens bezeichnet sich selbst als einen sehr hörsinnlichen Menschen und macht in seinen Werken ebensolche Erfahrungen möglich, wenn man sich auf das zu Hörende einlässt.
„Zeebrügge“ als musikalischer ‚Text‘
In den letzten Dekaden entstand auch im Bereich der Musik ein erhöhtes Interesse daran, die klassische Hermeneutik um die Semiotik, die Lehre von den Zeichen und ihren kulturell mehr oder weniger genau definierten Bedeutungen, zu erweitern (Kaden 1998). In semiotischer Betrachtungsweise ergeben auch musikalische Klangereignisse einen ,Text‘; der verweisende Charakter der Musik, ihre eigene Zeichenhaftigkeit, wird verstärkt in den Blick genommen. Der jeweilige musikalische ,Text‘ ist im Kontext anderer musikalischer Texte zu betrachten (vgl. Barthes 1978a) und wird, darüber hinausgehend, zugleich zu einem von vielen begleitenden ‚Texten‘, die selbst dort mit der Musik einhergehen, wo diese selbst keinen gesungenen oder gesprochenen Text im engeren Sinne hat, etwa in Form von Titeln, Covern oder auch Live-Auftritten und Video-Clips. Auf dieses komplexe und zunehmend selbstreferentielle Zeichensystem hat unter anderem Diedrich Diederichsen in seiner grundlegenden Reflexion „Über Pop-Musik“ (Diederichsen 2014) hingewiesen, doch ist dieses Phänomen keinesfalls auf den Bereich der Populärkultur beschränkt.
Bezeichnenderweise wird jedoch auch von Diederichsen der musikalische Code prinzipiell dem sprachlichen untergeordnet (vgl. auch Petras 2011)[1], was er unter anderem am Beispiel des Einsatzes der Querflöten in der Komposition „La Mer“ des Impressionisten Claude Debussy aus dem Jahr 1905 verdeutlicht. Deren Sechzehntelläufe sollen die Schaumkronen des „Jeux de vages“, des Spieles der Wellen darstellen, was durch vorherige Verwendungen ähnlicher musikalischer Zeichen in Werken anderer Komponisten bereits etabliert worden war (Diederichsen 2014: 105 f.). Die semiotisch höchst spannende Frage diesbezüglich wäre jedoch, ob das kinetic anaphone (Tagg 2013: 498 ff.), also die musikalisch-lautmalerische Analogie der schnellen Läufe im hohen Register des Orchesterklangs, nicht eigentlich die visuelle Wahrnehmung des wogenden Meeres und der schäumenden Gischt besser umzusetzen vermag als die sprachliche Metapher der Schaumkrone, zumal deren Verständlichkeit ja auch auf der Etablierung einer sprachlichen Konvention innerhalb des Codes der deutschen Sprache beruht.
In dem Stück „Zeebrügge“ (Tietchens 1983) lassen sich dann auch im noch recht poppig orientierten Frühwerk von Asmus Tietchens langgezogene Wogen und auch ein höchst bewegtes Perlen erhören oder zumindest erahnen. Die Deutung dieser beiden kinetic anaphones als erneutes „Jeux des vages“, bleibt jedoch deutlich vager als das sonic anaphone (Tagg 2013: 487 ff.) eines kurzen, trockenen Tutens. Dieses verstärkt das durch den gewählten Titel vorgegebene maritime Moment und wird in dem Titel durch seine Rhythmisierung zum strukturierenden Leitmotiv. Es handelt sich dabei jedoch nicht um das mächtige tiefe Tuten eines Dampfers im Hafen, sondern eher um ein weiter entferntes. Ein musikalisch in Szene gesetzter Strandspaziergangs oder einer Fährfahrt über den Ärmelkanal wären mögliche Deutungen der Ansammlung klanglicher Ereignisse, denen aus uns ohne weitere Informationen unbekannt bleibenden Motiven heraus der Name „Zeebrügge“ gegeben worden war.[2]
Gerade zumindest potentiell darstellende Musik dieser Art erscheint allerdings zunächst als besonders geeignet, eine Semiotik musikalischer Zeichen und Codes weiter zu entwickeln, zumal wenn sie überdies offensichtliche Referenzen aufweist, wie beispielsweise Tietchens Adaptionen von „Trans Europa Express“ (Kraftwerk 1977) in seinem „Spät-Europa“ (Tietchens 1982).
In Anschluss und kritischer Auseinandersetzung mit dem britischen Musikwissenschaftler Philip Tagg und anderen bestünde die Aufgabe einer (pop-)musikalischen Semiotik darin, die jeweils kulturell bedingten Bedeutungen von Melodien, Patterns und Akkorden sowie Sounds von Instrumenten und Stimmen, Besetzungen sowie Rhythmen, also den eigentlich musikalischen ,Text‘ sowie dessen potentiell verweisenden Bedeutungen oder auch diskursiven Zuschreibungen näher und kritisch zu analysieren (vgl. Kaul 2016). Auch der ,Text‘ von Asmus Tietchens musikalischem Portrait „Zeebrügge“ schreibt sich in einen weiter reichenden ,Text‘, den musikalischen Kontext ein. Die einfache Melodie der klaren Gitarre, vor allem aber die engen Rückungen der Keyboardakkorde und der simple Beat der Drum-Machine mit signifikanten Fills der Snaredrum im Mittelteil nimmt Bezug auf Stilmittel der populären Musik der frühen 1980er Jahre, vielleicht sogar auf die höchst spannenden belgischen Vertreter und Varianten des New Wave.
Angesichts der hier lediglich nur angedeuteten interpretatorischen Problematiken bliebe eine musikalische Semiotik dieser Art aber offensichtlich stets auch auf die ,klassische‘ Hermeneutik angewiesen, welche die näheren Begleitumstände der Entstehung von Kunstwerken[3] und vor allem auch die je eigene Position des Analysierenden mit bedenkt. Die bereits erwähnte Sarah Kofman merkte völlig zurecht an, dass es im Bereich der Malerei nicht etwa das Bild ist, das den Diskurs führt, dass dieses von sich aus doch eigentlich nichts aussagen will (Kofman 2008: 21). Gemeinhin – wenn auch längst nicht immer – wollen Kunstschaffende dies jedoch, äußern sich aber in recht unterschiedlichem Maße zu ihren Motivationen, Vorgehensweisen und Inspirationen. Vor allem aber sind es die Rezipierenden und insbesondere ein Teil dieser Gruppe, die Kunstwerken und Künstlern stets deren Geheimnisse entlocken wollen und ersteren damit vielleicht dann doch einen Teil des ihnen innewohnenden Zaubers nehmen. Man kann instrumentale Musik jedoch auch gerade deshalb mögen, weil sie gar nicht viel ,sagt‘ bzw. nur sehr wenig zweifelsfrei Decodierbares in Form von (eindeutigen) Denotaten enthält (vgl. Kaden 1998: 2156 f.). Gleichwohl müssen sich analytische Überlegungen semiotischer sowie hermeneutischer Art und der Genuss des Hörsinnlichen oder auch der freien träumerischen Assoziation keinesfalls ausschließen, vielmehr vermögen sie sich sogar zu ergänzen.
Asmus Tietchens zwischen Pop und Musique Concrète
Nach Diedrich Diederichsens Verständnis von potentiell gegenkulturellem Pop (Diederichsen 2014: XII ff.) wäre auch die Musik von Asmus Tietchens wohl in diesem Bereich anzusiedeln. Das macht zunächst, vor allem soziologisch betrachtet, durchaus Sinn. Denn Tietchens verweigerte sich ebenso konsequent der Hochkultur, ihren vorgeschriebenen Zugangsvoraussetzungen und Mechanismen, wie den Verlockungen des Marktes für populäre Musik und veröffentlicht und präsentiert seine Werke nach wie vor in subkulturell orientierten Institutionen und Zusammenhängen. Gerade der Beginn der musikalischen Karriere von Asmus Tietchens im Kontext des Plattenprojektes „Liliental“, einer späten Blüte des Krautrock aus dem Jahre 1978, und die ersten eigenen Veröffentlichungen Tietchens lassen sich zweifelsohne als Teil des von Diederichsen weit gefassten und dementsprechend vielgestaltigen Feldes Pop bezeichnen. Gleichwohl sträubt sich das musikalische Material der vielen Alben, die „Lithia“ seit dem Jahr 1983 folgten, jedoch in wohl zunehmendem Maße gegen diese Zuordnung. Asmus Tietchens verwies dementsprechend in seinem bereits erwähnten Vortrag auch darauf, dass die Ära des Post-Punk seiner Musik erstmals Chancen zu Veröffentlichungen unter eigenem Namen bot, weil sich diese Zeit unter anderem auch durch eine neue Offenheit gegenüber experimenteller Musik jeglicher Art auszeichnete (Tietchens 2016). Doch gilt es hierbei durchaus unterschiedliche Traditionslinien bezüglich der Produktion, Präsentation und Rezeption von Musik zu beachten. Denn anders als unter anderem auch von Till Kniola angenommen, führt nicht wirklich ein gerader Weg von der Integration der Geräusche in die europäische Kunstmusik durch den futuristischen Komponisten Luigi Russolo zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum, letztendlich dann doch popkulturell verankerten, Genre Industrial (Kniola 2017: 123) oder gar zum höchst tanzbaren Techno (Anz/ Mayer, 1999 [1995]: 12). Zwar eint diese Stile ihr Interesse für technische Klänge und technische Klangmanipulationen, es ist jedoch auch auf erhebliche Unterschiede hinzuweisen.
Für Asmus Tietchens dürfte die von Pierre Schaeffer initiierte Musique Concrète den wichtigsten Bezugspunkt innerhalb der europäischen Musikgeschichte darstellen, zumal technische Klänge nur einen Teil seines Klanguniversums darstellen. In diesem Zusammenhang erscheint es auch von Interesse, dass Rhythmen in den Veröffentlichungen Tietchens, zumindest über die frühen 80er Jahre hinaus, keine wichtige oder gar zentrale Rolle zu spielen scheinen. Vielleicht vermag dies eine schon früh erfolgte Absage an den Rock’n’Roll und der zunehmende Verzicht auf sonstige popmusikalische Versatzstücke ebenso mitzuerklären wie die Tatsache, dass Bezüge zum Körper und Körperlichkeit in seiner Musik erklärtermaßen nicht auftauchen (Tietchens 2016, vgl. Gräf 2006) bzw. ihn der menschliche Körper in der Serie „Mund zu Mund“ (Tietchens 1999-2000) im Rahmen seines musikalischen Schaffens lediglich als weitere Quelle von gestaltbaren Klängen zu interessieren scheint.[4] Dementsprechend dürfte der angemessene Rezeptionsmodus der Musik Tietchens wohl auch der einer „freischwebenden Kontemplation“ (Benjamin 2010: 32) sein, was im Gegensatz zu den „taktilen“ und „zerstreuten“ Rezeptionspraxen (a.a.O.: 70ff.) der meisten popmusikalischen Genres steht.
Von besonderem Interesse hinsichtlich des Skizzierens unterschiedlicher Traditionslinien erscheint jedoch die Verwendung von Field Recordings. Während diese in Genres wie etwa Psychedelic Rock, Krautrock oder Ambient zwar durchaus häufig anzutreffen sind, aber wohl überwiegend der Schaffung von ,Atmosphäre‘ dienen, gewinnen diese gesammelten Geräusche bei Asmus Tietchens, eben in direkter konzeptioneller Anknüpfung an die Musique Concrète, häufig die konstitutive Funktion der Klangerzeugung. Insofern trifft für Tietchens Musik die von Till Kniola verwendete Sammelbezeichnung der „Geräuschmusik“ zwar zu, hier sogar im wahrsten Sinne des Wortes, bleibt aber zugleich in der Abgrenzung zu den anderen genannten Ansätzen notwendigerweise unscharf. Denn die jeweilige Verwendung von Geräuschen erfolgt in sehr unterschiedlichen musikalischen, konzeptionellen, funktionalen, musiksoziologischen, ästhetischen und auch politisch-ideologischen Kontexten. Und ebendies hat zur Folge, dass auch die Einteilung der „Geräuschmusik“ in unterschiedliche Genres, jenseits markstrategischer und distinktiver Praktiken, analytisch sinnvoll bleibt.[5]
Asmus Tietchens schafft seit langem, wie bereits angedeutet, eine Musik, die sich zugleich durch reiche Hörsinnlichkeit und bewusste Askese auszeichnet, eine nur zunächst vielleicht spröde wirkende Musik der künstlerisch motivierten Verarbeitung unterschiedlichster Klangmaterialien, bei gleichzeitiger Absage an die Verwendung potentiell gewinnversprechender Stilmittel. Doch auch für diesen höchst faszinierenden Ansatz gilt, dass es keinen Platz von veröffentlichter Musik außerhalb der diskursiven Deutungsversuche gibt. Die bereits erwähnte konsequente Verwendung der negativen Titelbezeichnung „Untitled“ auf „Five Manifestoes“ (1992) bleibt ja gerade in ihrer dezidierten Absage höchst interpretationswürdig.
Es gibt aber auch keinen Platz außerhalb der kulturellen, sozialen sowie der damit einhergehenden ökonomischen Verortung. Das mehrfach erwähnte Wuchern des Diskurses resultiert keineswegs lediglich aus den Wünschen der Rezipienten nach ,Verstehen‘, sondern gerade auch aus den gegebenen gesellschaftlichen, d.h. kapitalistisch marktbasierten Rahmenbedingungen. Der Musiker Tietchens sowie seine Mitstreiter und Hörer agieren dabei ebenfalls höchst distinktiv im subkulturell orientierten Segment des Kulturlebens (vgl. Crane 1992), und die Preise älterer Platten von Asmus Tietchens bei der Musik-Internetbörse Discogs belegen die Wertschätzung einer – vermutlich aber mehrer – nerdiger Szenen. Denn durch seine lange Karriere, den hohen künstlerischen Output und vor allem ein stilistisch recht disparates Oeuvre, können sich halbwegs aufgeschlossen Hörende jeweils ,ihren‘ Tietchens aussuchen. Aber dies können auch diejenigen, die lediglich ihrer Distinktionsbedürftigkeit durch möglichst erlesenen Musikgeschmack Ausdruck verleihen wollen. Die diesbezüglichen Grenzen der Motivationen sind vermutlich fließend, beziehungsweise auch eine Frage der Perspektive und Interpretation, in diesem Falle primär soziologisch basierter.
Das Material der Musik: Töne, Klänge und Geräusche
Der Hamburger Klangkünstler Asmus Tietchens scheint langsam, aber stetig jene Aufmerksamkeit und Würdigung erlangt zu haben, die er zweifelsohne verdient. Zu seinem 70. Geburtstag widmete ihm der WDR im Jahre 2017 sogar eine komplette Sendung, womit sich wohl insofern der Kreis seiner Karriere geschlossen hat, als er spätestens nunmehr als anerkannter Produzent an jenem nächtlichen Sendeplatz für avantgardistische Klänge ankam, der vor mehr als 50 Jahren deren biographischen Ausgangspunkt bildet. Die Entwicklung dahin ist sicherlich auch Till Kniola zu verdanken, auf dessen Label „Auf Abwegen“ viele der neueren Werke von Tietchens erschienen sind und der unter dem Namen DJ Zippo die Konzerte des autodidaktischen Meisters auch musikalisch begleitet. Asmus Tietchens sitzt mit seiner „Geräuschmusik“ bewusst zwischen den Stühlen von Hoch- und Popkultur, betont das eigene Vergnügen an seinem Schaffen, und dieses bleibt Interpretationsansätzen gegenüber, zumindest zunächst, erfreulich sperrig. Doch auch wenn er ausführt, dass seine Musik in ihrer Vielgestaltigkeit erklärtermaßen nicht narrativ angelegt ist, bleibt sie zumindest doch aussagefähig, potentiell sogar höchst aussagekräftig. Ihre aus Geräuschen gewonnenen und sonstigen musikalischen Zeichen bieten reichlich konnotatives und assoziatives Potential.
Für ihre höchst lesenswerten Interpretationen moderner, oftmals abstrakter Werke der Bildenden Kunst hatte die Kunsthistorikerin Monika Wagner verstärkt auch „[d]as Material der Kunst“ (Wagner 2001) in den Blick genommen. Eine analoge Art des Zugangs an die grundlegenden musikalischen Materialien, die Töne, Klänge und Geräusche, ihre Sounds (vgl. Pfleiderer 2003), eben auch über den Aspekt von deren sukzessiver und simultaner zeitlichen Anordnung in einer wie auch immer gearteten musikalischen Struktur hinaus, könnte vielleicht auch eine Möglichkeit sein, einige Tücken der Interpretation zu umschiffen, die Tietchens Musik reichlich bietet. Dabei bliebe jedoch zu beachten, dass deren Urheber weitaus mehr die jeweiligen Klangspezifika, die rein klangliche Materialität, als deren Herkunft zu interessieren scheinen. Vielleicht ist Asmus Tietchens am immer nur vermeintlichen Ende eigentlich nie enden wollender interpretatorischer Prozesse (methodisch: des um semiotische Aspekte ergänzten hermeneutischen Zirkels) dann sogar darin Recht zu geben, dass seine Klangexplorationen und deren musikalisch strukturierende Anordnungen an sich nicht sonderlich kompliziert sind; vielleicht stellt diese Aussage aber auch eines jener höchst sympathischen Understatements dar, die dem Nordlicht Tietchens nicht ganz fremd zu sein scheinen.
Anmerkungen
[1] Petras weist völlig zurecht auf folgende Ebenen der Bedeutungsproduktion hin: Komposition, Produktion, Rezeption, Illustration, Distribution und Akquisition. Erstaunlicherweise reduziert er diese anschließend aber auf ,Subtexte’ von Songlyrics. Das dadurch behauptete Primat des sprachliches Codes erscheint zum einen gerade aus semiotischer Perspektive und im Hinblick auf musikalische Phänomene bedenklich (Barthes 1977c) und ist, darüber hinaus gehend, für die Analyse instrumentaler Musik schlichtweg ungeeignet.
[2] Eine sprachliche Darstellung des an der belgischen Kanalküste gelegenen Badeortes und Fährhafens bräuchte auch eine dementsprechende lokalisierende Überschrift und das Geschriebene böte bekanntlich ebenfalls Interpretationsspielräume. Ohne nähere Hintergrundinformationen ließe sich noch nicht einmal erschließen, ob die jeweils verwendeten sprachlichen oder musikalischen Zeichen, Impressionen oder Imagination von Zeebrügge sind und selbst eine malerische oder fotografische Darstellung bedürfte, zumindest ohne nähere Ortskenntnisse, der Erläuterungen durch eine Bildunterschrift oder etwa ein Bahnhofsschild. Hinsichtlich der möglichen Abstufungen des Tutens und anderer möglicher Ursprünge dieses Tones, ist das musikalische Zeichen dem sprachlichen sogar überlegen, da letzteres näherer Erläuterungen bedarf, um aussagekräftig zu werden. Bildliche Codes vermögen Tuten nur mittelbar darstellen, etwa durch das Entströmen von Dampf, was dann aber Anknüpfungen an entsprechende vorherige, kombiniert akustische und visuelle Erfahrungen der Betrachtenden notwendig macht. Diese Erfahrungen erfolgen heutzutage immer häufiger nicht unmittelbar, sondern medial vermittelt.
[3] Im Falle von „Zeebrügge“ könnte es sein, dass Asmus Tietchens in dem gleichnamigen Ort gewesen war und die Ergebnisse dort eventuell gemachter Field Recordings elektronisch verfremdet für sein Stück verwendet hat. Es wäre aber auch möglich, dass er sich, im heimischen Studio sitzend an einen Aufenthalt in Zeebrügge erinnert hat oder auch nur vorstellte und der Stadt ein musikalisches Portrait gewidmet hat, das eventuell auch nur synthetisch erzeugte Klänge verwendet, die tatsächlich anzutreffende imitieren. Denkbar wären noch weitergehende Alternativen: dass etwa eine bereits realisierte musikalische Idee in assoziativer oder gar rein willkürlich arbiträrer oder auch zufällig aleatorischer Art und Weise den Namen „Zeebrügge“ erhielt oder auch, dass Tietchens Klangmaterialien aus dem Hamburger Hafen verwendete, wo eventuell dann aber ein Schiff aus Zeebrügge anlegte oder abfuhr. Vielleicht hatte er aber auch seinerzeit einen TV-Bericht zu Zeebrügge gesehen und am Ende gar Field Recordings am heimischen Fernseher gemacht, die dann Verwendung fanden? Zu betonen wäre hierbei noch, das „Zeebrügge“ bereits vor der revolutionierenden Einführung des Sampler entstanden war, der künstlerisch-technische Möglichkeiten dieser Art potenziert hat. Durch die Wahl des Titels „Zeebrügge“ ’erzählt’ Asmus Tietchens allerdings musikalisch auf jeden Fall von der belgischen Stadt. Der Hörer kann die verwendeten musikalischen Zeichen zwar semiotisch deuten, aber über deren Herkunft und die Motive des Künstlers Tietchens für ihre Verwendung und Anordnung allerdings nur mehr oder weniger plausibel erscheinende Vermutungen anstellen.
[4] Semiotisch betrachtet hat die Musik von Asmus Tietchens auch hier höchst indexikalischen Charakter, denn ihre akustischen Zeichen verweisen auf deren Herkunft, doch bleibt diese Qualität durch die Bearbeitungen stets erkennbar artifiziell und ist zumeist nur noch bedingt rein auditiv erkennbar. Auch dies unterscheidet sie von der Verwendung indexlexikalischer Zeichen in vielen popmusikalischen Genres, wo diese gerade unmittelbare körperliche Präsenz und damit einhergehende handwerklich-künstlerische Authentizität vermitteln sollen. Die diesbezügliche Bezugnahme Diederichsens auf Roland Barthes (Diederichsen 2014: XIX) wären um dessen Gedanken zur Rhetorik des Bildes (Barthes 1978 b) im Allgemeinen und der Photographischen Botschaft (Barthes 1978 c) im Speziellen zu ergänzen, deren „quasi-identischer“ (a.a.O.: 36), scheinbar rein dokumentarischer Charakter den stets auch gegebenen Aspekt der Bedeutungsproduktion zu überspielen vermag. Insofern gehören auch die von Diedrich Diederichsen analysierten indexlexikalischen Verweise des Pop zu dessen ideologischen und marktorientierten Körperrhetoriken.
[5] Dies bedeutet keinesfalls, dass es nicht auch höchst sinnvoll bleibt, offensichtlich kommerziell oder distinktiv motivierte Genrebezeichnungen analytisch zu betrachten. Dabei wäre gerade kritisch zu erörtern, in wie weit diese auch hinsichtlich der genannten Kategorien sinnvoll erscheinen.
Literatur
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Petras, Ole (2011). Wie Popmusik bedeutet: Eine synchrone Beschreibung popmusikalischer Zeichenverwendung. Bielefeld: Transcript.
Pfleiderer, Martin (2003). Sound: Anmerkungen zu einem populären Begriff. In Phleps, Thomas, Appen, Ralf, von (Hg.). Pop Sounds: Klangtexturen in der Pop- und Rockmusik. Bielefeld: Transcript. 19-29.
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Tietchens, Asmus (2016). Rede vor Konzert 2016, Düsseldorf. Unter: https://www.youtube.com/watch?v=ik3StlsE35E, 24.05.2018, 17:20.
Wagner Monika (2001). Das Material der Kunst. München: C.H. Beck.
Timor Kaul promoviert mit seinem Vorhaben „Lebenswelt House / Techno: DJs und ihre Musik“ am Institut für Europäische Musikethnologie der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Darüber hinaus betätigt er sich als freier Autor und Referent vor allem zu Themen der elektronischen Populärmusik.