Keine weitere Vereinseitigung des Kraftwerk-Mythos zum germanischen Pop-Monument
Mit Mensch Maschinen Musik: Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk (Schütte 2018a) liegt ein Sammelband vor, der einen profunden Beitrag zur akademischen Beschäftigung mit der international wirkungsmächtigsten deutschen Band darstellt. Herausgeber Uwe Schütte organisierte bereits 2014 eine Konferenz zum Thema Kraftwerk an der Aston University in Birmingham und war im Folgejahr Mitkurator des akademischen Symposiums der Electri_City Konferenz in Düsseldorf (vgl. Kaul 2016). Drei der Beiträge des aktuellen Sammelbandes basieren denn auch auf Vorträgen, die bei letztgenannter Veranstaltung gehalten worden waren (Schütte 2018d, Schumacher 2018, Ullmaier 2018), drei weitere (Schiller 2018, Stahl 2018, Kleiner 2018) sowie das Vorwort (Mallinder 2018) stammen aus der Feder von ebenfalls seinerzeit Teilnehmenden, die allerdings überwiegend zur Band DAF (Deutsch Amerikanische Freundschaft) referiert hatten.
Die Beiträge des nun vorliegenden Sammelbands wurden in zwei großen Teilen angeordnet, wobei der erste in chronologischer Reihenfolge der Diskographie folgt und der zweite die Überschrift „Diskurse“ trägt. Dabei dürfte es zweifelsohne klar sein, dass auch die Ausführungen zu den Alben ebenso Bestandteile der Diskurse um die Düsseldorfer Band sind wie fünf als Zwischenspiele ausgewiesene Beiträge in Form von Essays und Interviews, eines davon mit dem einzigen verbliebenen Gründungmitglied und inzwischen alleinigen Kraftwerk-Mastermind Ralf Hütter aus dem Jahr 2015 (Zimmermann 2018).
Schon im ersten, musikhistorisch basierten Teil der Veröffentlichung wird deutlich gemacht, dass in Mensch Maschinen Musik teilweise kritische Perspektiven zum popmusikalischen Mythos Kraftwerk, vor allem aber auch gegenüber der hauseigenen Mythenproduktion der Kraftwerker eingenommen oder diese zumindest mitbedacht werden. Dementsprechend weist etwa Ulrich Adelt in seinem Artikel „Vom Himmel hoch“ (Adelt 2018) völlig zurecht darauf hin, dass der künstlerische und kommerzielle Durchbruch der Band ab Mitte der 1970er keineswegs vom Himmel gefallen war. Vielmehr lässt im sich Frühwerk der ersten drei Kraftwerk-Alben (Kraftwerk 1, 1970, Kraftwerk 2, 1972, Ralf & Florian, 1973), das vom 2009 erschienenen offiziellen Band-Kanon Der Katalog leider bewusst ausgeblendet wird, eine evolutionäre Entwicklung vom Krautrock hin zum immer minimalistischer und repetitiver angelegten Elektro-Pop ab Autobahn (Kraftwerk 1974) feststellen. In diesem Zusammenhang ist auch Melanies Schillers Hinweis darauf zuzustimmen, dass sich lediglich die A-Seite dieses ersten Erfolgsalbums der Düsseldorfer Gruppe tatsächlich durch ein damals innovatives musikalisches Konzept auszeichnet (Schiller 2018, 45 f.).
Mit Sean Nyes Beitrag „Von Electric Cafe zu Techno Pop“ (Nye 2018) wird eine weitere Veröffentlichung Kraftwerks thematisiert, die sich durch ein stilistisches und qualitatives Missverhältnis zweier Plattenseiten auszeichnet. Nye tritt völlig zurecht zur musikhistorischen Ehrenrettung der A-Seite an. Allerdings vermag hierbei weder die Behauptung einer bereits 1977 entstandenen „Trans-Europa-Express-Suite“ (bestehend aus den Stücken „Trans-Europa-Express“, „Abzug“ und „Metall auf Metall“) inhaltlich zu überzeugen noch die, dass „Boing Boom Tschak“, „Techno Pop“ und „Musique Non Stop“ eine analoge „Techno-Pop-Suite“ auf dem Album Electric Cafe aus dem Jahre 1986 darstellten (Nye 2018, 147).
In dem gegebenen popmusikalischen Kontext wäre es sinnvoller gewesen, auf deren Formmodelle anstatt auf barocke zu rekurrieren, und dementsprechend die genannten Stücke im Zusammenhang der Entwicklung von Funk und Disco zum Format Track zu betrachten (vgl. Kaul 2015, 207 ff..). Insofern ließe sich schon der Arbeitstitel des Albums Electric Cafe (Kraftwerk 1986), der „Techno Pop“ lautete, als sicherlich nicht beabsichtigter Hinweis auf absolut überzeugende trackartige Strukturen der A-Seite und relativ banale Pop-Songs der B-Seite lesen – letztere durchaus mit Anklängen an die seinerzeit bereits abflauende Neue Deutsche Welle. So betrachtet, erschienen ,Techno’ und Pop als nebeneinander gestellt. Überarbeitungen und Ergänzungen der B-Seite anlässlich der Neuveröffentlichung des Albums im Rahmen der, wie beschrieben, bereits selektiven Sammelbox Der Katalog (Kraftwerk 2009) sowie dessen damit einhergehende Umbenennung in den einstiegen Projekttitel „Techno-Pop“ lassen vermuten, dass sich Ralf Hütter dieser konzeptionellen Schwäche bewusst war und im Zuge der eigenen Selbststilisierung und Selbsthistorisierung zu kaschieren versuchte.
Diesen längst nicht nur hieran abzulesenden Bestrebungen geht Uwe Schütte in seinem Beitrag „Arbeit am Gesamtkunstwerk“ (Schütte 2018c) sehr detailliert nach. Die kritische Frage wäre jedoch, in wie weit die bisher stattgefundenen Überarbeitungen, Umstellungen und teilweise stattfindenden Ergänzungen des musikalischen und visuellen Materials tatsächlich ästhetisch substantiell Neues zu generieren vermochten. Diese Anfrage erscheint selbst dann nicht als obsolet, wenn in Mensch Maschinen Musik mit Bezug auf die Konzerte Kraftwerks in der Berliner Nationalgalerie im Januar 2015 völlig zurecht darauf hingewiesen wird, dass das reenactment, die Wiederaufführung eigentlich temporär konzipierter Kunstereignisse, auch in anderen Bereichen spätestens seit dem Millenium verstärkt anzutreffen ist (Lorenzen 2018).
Pop wird ,Gesamtkunstwerk‘
Die Veröffentlichung des Sammelbandes Mensch Maschinen Musik erfolgte rechtzeitig zum 40-jährigen Jubiläum der Veröffentlichung des Albums Die Mensch-Maschine (Kraftwerk 1978), welches sich, gemeinsam mit dem Nachfolgealbum Computerwelt (Kraftwerk 1981), als besonders paradigmatisch für die visuelle Präsentation der Kraftwerker und auch damit einhergehende künstlerische Botschaften und Prophezeiungen erwies. Bereits die Musik der Band zeichnete sich zunehmend durch minimalistische Reduktion aus, und dieses Prinzip wurde, durchaus in sich stimmig, auf andere Bedeutungsebenen des Zeichensystems Pop übertragen, wie etwa die Texte (Schütte 2018d) oder die Bühnenshows, Cover und Fotos der Band (Schütte 2018c). Insofern ist es Kraftwerk, ausgehend von den Pop-Art-inspirierten Pylonen auf den Covers der ersten beiden Kraftwerkalben und lange unter der gemeinsamen Federführung von Ralf Hütter und Florian Schneider-Esleben, äußerst erfolgreich gelungen, eine technizistische Gesamtästhetik zu entwickeln. Deren Kanonisierung und Musealisierung treibt nun das einzig verbliebene Gründungsmitglied Ralf Hütter mit altbekannten und neuen Kooperationspartnern voran. Die Ergebnisse dieses jahrzehntelangen Prozesses kann man, wenn man denn mag, mit dem inhaltlich wie auch historisch nicht unproblematischen Begriff des ‚Gesamtkunstwerks‘ bezeichnen.
Interessanterweise weist Uwe Schütte im Zusammenhang mit dem Fehlen von Bandfotos im Rahmen von Der Katalog (2009) auf eine „Enthistorisierung“ hin, welche die jeweiligen Musiker der Band zu „anonymen Musikarbeitern“ mache (Schütte 2018c, 192). Allerdings erscheint es in diesem Zusammenhang sinnvoll, besagte Enthistorisierung etwa auch hinsichtlich der bei der Neuausgabe veränderten Covers von „Autobahn“ (Kraftwerk 1974) und Radio-Aktivität (Kraftwerk 1975) zu konstatieren. Denn gerade diese beiden ikonischen Plattenhüllen verloren dadurch ihre ihnen vormals jeweils eigene Ambivalenz, die expliziten und impliziten Verweise auf technischen Fortschritt und NS-Vergangenheit, zugunsten eindeutiger, da kodifizierter Zeichen für Autobahn und Radioaktivität. Noch weitgehender ließe sich formulieren, dass das einst Irritationen erzeugende und im (auch politisch) kritischen Sinne retro-futuristische Potential der Ikonographie Kraftwerks mittlerweile – trotz weiterer Virulenz vieler der angesprochenen Themen – zum rückwärtsgewandten und nostalgischen 3-D-Kaleidoskop der alten Bundesrepublik erstarrt ist (vgl. Kaul 201, 222 f.). Dieses wirkt dann paradoxerweise eben genau durch das Abrufen allseits bekannter, aber dekontextualisierter historischer Reminiszenzen enthistorisierend – der TEE wird zur Modelleisenbahn, das Neonlicht illuminiert das pittoreske Diorama der Hochhausschluchten.
Im Jahre 2003 hatte die Band Kraftwerk einen letzten Versuch unternommen, musikalisches Neuland zu betreten, der dem an sie herangetragenen, aber mittlerweile eigenen Anspruch der popmusikalischen Avantgarde gerecht werden sollte. Ausgehend von der zwanzig Jahre zuvor entstandenen Single „Tour de France“, entfaltete das Album „Tour de France Soundtracks“ die Programmatik des „Radfahrer[s] […] (analog zum elektronischen Musikarbeiter) zur ‚Mensch-Maschine‘“ (Stahl 2018, 175). Diese Veröffentlichung war zwar kommerziell erfolgreich, ist aber angesichts der rasanten Entwicklungen der am Dancefloor orientierten elektronischen Musik nicht sonderlich positiv rezensiert worden (a.a.O., 179 ff.).
Recht simple Analogien, wie etwa die folgende, erscheinen wenig geeignet, dem Album, bei allem durchaus nachvollziehbaren persönlichem Wohlgefallen, im Nachhinein eine größere ästhetische und musikhistorische Relevanz zuzusprechen: „Neben der strukturellen Klarheit, der Reinheit der Klänge besitzt die Musik auch eine gewisse Frische, ja, vielleicht ist es die frische Luft des Radfahrens, eine Offenheit in den Klangräumen, sie atmet Weite und lässt die kümmerlichen 45 Quadratmeter Fläche des ehemaligen Kling-Klang-Studios in der Düsseldorfer Mintropstraße vergessen“ (a.a.O., 182). Vielversprechender erscheint hier der Ansatz, sich der Veröffentlichung und konzeptionell bedeutsamen Aspekten anhand textlicher Analysen zu nähern. Dabei verweist, so Uwe Schütte, das Stück „Elektro-Kardiogramm“ auf das für Kraftwerk konstitutiv gewordene „Dispostiv aus Mensch und Maschine“ und gerade dieser Titel „muss [… darüber hinaus auch] als ein Paradigma dafür gelten, wie aus minimalen Mitteln maximaler semantischer Gehalt gewonnen und ästhetischer Profit geschlagen werden kann.“ (Schütte 2018d, 242).
Bezüglich des musikalischen Innovationspotentials der Band ist jedoch Eckhard Schumacher voll und ganz zustimmen, der in seinem Beitrag „Re-Make/Re-Model: Kraftwerk international“ (Schumacher 2018) darauf hinweist, dass zumindest diesbezüglich die kreative Stafette schon lange vor Kraftwerks Andockversuchen an House, Minimal Techno und technoides Electro-Revival weitergewandert war. Und so kamen der „vermeintlich ‚typisch deutsche‘ Sound“, ja, sozusagen auch „Kraftwerk [selbst bereits] seit den frühen 1980er Jahren nicht mehr nur aus Düsseldorf, sondern, zumindest in Teilen, auch aus Tokio, New York, Detroit, aus Sheffield und London.“ (a.a.O. 262).
Die popmusikalisch konstitutive Vorgehensweise des „Remake/Remodel“ (Schumacher hat hier einen Titel der Band Roxy Music aus dem Jahr 1972 adaptiert) gilt allerdings auch für Kraftwerk selbst, die beispielsweise James Brown rezipierten und entsprechende Elemente in ihre Musik übernahmen. Dies wiederum ließ die Düsseldorfer Musiker zu einem Einfluss – stets neben anderen – bei der Entstehung des Detroit Techno werden (a.a.O., 269 ff.) und ermöglichte jene Verbindungen zur afro-futuristischen Traditionslinie, denen Heinrich Deisl am Beispiel von Drexciya in seinem Artikel in Mensch Maschinen Musik nachgeht (Deisl 2018). Anders als auch in diesem Sammelband erneut behauptet, stellen Kraftwerk und ihr Album Computerwelt (Kraftwerk 1981) jedoch keineswegs die „Stunde null des Techno“ dar (Winne 2018), wenngleich es sich bei dem darauf enthaltenen Stück „Nummern“ zweifelsohne um Proto-Electro handelt.
Im Zusammenhang der bereits erwähnten Selbstkanonisierung Kraftwerks mit behutsamen Updates der bandeigenen Gesamtästhetik stellt das Stück „Radio-Aktivität“ eine bemerkenswerte Ausnahme dar. Denn dieses erfuhr bereits mit der ersten Überarbeitung von in der Zwischenzeit zu ,Klassikern‘ der elektronischen Populärmusik gewordenen Kraftwerk-Stücken im Rahmen von The Mix (Kraftwerk 1991) eine grundlegende textliche Überarbeitung und fungiert seitdem als explizit politisches Anti-Atomkraft-Statement. Der Titel „Radio-Aktivität“, wie auch das gleichnamige Album zeichnete sich allerdings ursprünglich durch „elektronische Entsinnlichung“ (Kleiner 2018, 61) im körperlichen und emotionalen wie auch semantischen Sinne aus, eben durch eine „elektronische Coolness“ (a.a.O.). Diese stand nicht nur, so der Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner weiter, in Opposition zur „Hitze“ anderer, die erste Hälfte der Dekade dominierender Popmusik (ebda.), sondern verzichtete bewusst auf eigene Positionierungen im Rahmen der künstlerisch skizzierten, seinerzeit virulenten (und noch immer aktuellen) medialen und technologischen Diskurse, die Radio-Aktivität (im doppelten Sinne gelesen) betreffend.
In seinem sehr lesenswerten Beitrag zu Mensch Maschinen Musik geht der österreichische Musik- und Kulturjournalist Didi Neidhart (Neidhart 2018) unter anderem auch der weiteren buchstäblichen Entsinnlichung der Düsseldorfer Band im Rahmen des Albums „Trans-Europa-Express“ (Kraftwerk 1977) durch den von da an verstärkten Einsatzes von Musik-Maschinen anstelle künstlerisch-handwerklicher Produktion nach, aber auch im übertragenen Sinne in Form der Selbststilisierung der Musiker als Schaufensterpuppen. Diese lassen sich als Übergangsstadium zu den Robotern von Mensch-Maschine (Kraftwerk 1978) deuten, allerdings betraten Kraftwerk bereits mit dem Song „Spiegelsaal“, so Neidhart völlig zutreffend, „im wahrsten Sinne des Wortes das Feld der identity politics“.
Von Mensch-Maschinen, deutschen und anderweitigen Identitäten
Das Thema Identität wird in Mensch Maschinen Musik vor allem als posthumaner und nationaler Diskurs behandelt. Hinsichtlich des erst genannten Aspekts zeichnet bereits Herausgeber Uwe Schütte in seinem Beitrag zum Album Die Mensch-Maschine (Kraftwerk 1978), nach einer fundierten kulturhistorischen Einordnung der damit einsetzenden Roboter-Metaphorik und weiterer posthumaner Aspekte im Werk Kraftwerks, eine vorgebliche Entwicklungslinie der Band von deutscher hin zu europäischer und schließlich posthumaner Identität (Schütte 2018b, 103 f.). Der noch weiterführende Versuch Alexander Hardens, „das vermeintliche Paradox einen ‚posthumanen Authentizität‘“ (Harden 2018, 219) der Persona Kraftwerk (hier als Kollektivkörper gedacht) darzulegen, bleibt wohl noch diskussionswürdiger. Neben anderen möglichen Einwänden, erscheint in diesem Zusammenhang zumindest ein Hinweis auf poststrukturalistisch inspirierte Lesarten des Verhältnisses von elektronischer Musik und den Konstrukten von Authentizität und Identität geboten (u.a. Gilbert/ Pearson 1999).
Eine andere, stets erneut aufgeworfene Frage bei Kraftwerk, wie auch bei der Rezeption des Krautrock, ist die nach dem ,Deutsch-Sein‘. In diesem Kontext behauptet Ulrich Adelt in Mensch Maschinen Musik aufs Neue, dass es für die Gruppen des Krautrock, zu denen seinerzeit auch Kraftwerk gehörte, „um das Entwickeln eines neuen Nationalbewusstseins nach dem Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit“ (Adelt 2018, 19) gegangen war. Auch wenn diese Meinung gerade im anglo-amerikanischen Bereich weit verbreitet zu sein scheint, wird dabei die gegenkulturelle und damit auch dezidiert anti-nationalistische Haltung der Mehrzahl der seinerzeitigen Akteur*innen ignoriert, denen gerade das ,Deutsche‘ vielfach als spießig, wenn nicht gar als ,faschistoid’ erschien. Melanie Schiller gelingt es, in ihrem Beitrag zum Album Autobahn (Kraftwerk 1974), „Wie klingt die Bundesrepublik?“ (Schiller 2018), ungleich besser, die Ambivalenzen und Verwerfungen der damaligen Suchbewegungen von Kraftwerk und auch von deren Ergebnissen aufzuzeigen.
Wie bereits angemerkt, hat sich Kraftwerk mit „Trans-Europa-Express“ (Kraftwerk) explizit mit Fragen der Identität auseinandergesetzt. Diese wurden zum einen, wenn überhaupt definitiv, offensichtlich eher europäisch-kosmopolitisch denn patriotisch-deutsch beantwortet, Vor allem aber ergeben sich diesbezüglich „viele (lose) Fäden […], die sie [die Musiker der Band] zwar selbst nicht alle weiterbearbeiten, die jedoch gerade in ihrer Schwebe […] Freiräume eröffnen“ (Neidhart 2018, 71). Insbesondere dieses Werk fungiert daher hinsichtlich der wieder höchst aktuellen Frage selbst proklamierter oder von außen herangetragener Identitäten wohl weiterhin als ein „mannigfaltiges Diskurstrampolin.“ (ebda.).
Monumentalisierungen und Leerstellen: Der Mythos Kraftwerk
Die Liste der Mitautor*innen von Mensch Maschinen Musik ist erfreulich transnational, weist aber mit dem leider alles andere als untypischen Fehlen von Vertreter*innen der Musikwissenschaft eine Leerstelle auf. Dies kann man dem Herausgeber allerdings wohl nur bedingt vorhalten, da diese Zunft der populären Musik im Allgemeinen und ihren elektronischen Varianten im Speziellen leider nach wie vor überwiegend die kalte Schulter zeigt. Darüber hinaus ist eine männliche Dominanz bei den zum Sammelband Beitragenden zu verzeichnen, die leider auch keineswegs untypisch im Hinblick auf die akademische Reflexion populärer Musik ist. Durchaus interessant erscheint hierbei, dass sich die elektronische Supergroup Kraftwerk unter anderem auch durch eine überwiegend männliche Fanschar auszeichnet und bei den Fan-Diskursen im Netz häufig vorgeblich ,männliche’ Themen präsent sind – ein Umstand, auf den Christoph Jacke und Kristina Flieger in ihrem gemeinsamen Vortrag bei dem eingangs erwähnten Düsseldorfer Electri_city-Symposium aufmerksam gemacht hatten (vgl. Kaul 2016).
Das gerade im Kontext elektronischer Musik wichtig erscheinende Thema Gender wird zwar an einigen Punkten von Mensch Maschinen Musik am Rande oder in den Fußnoten erwähnt, ein eigener Beitrag wäre aber wünschenswert gewesen. Auffällig ist auch, wie wenig auf den Rezeptionsmodus der Besucher von aktuellen Kraftwerk-Konzerten eingegangen wird. Denn einerseits ist die Musik der Gruppe durch die Adaption von Grooves des Electro, House und Techno tanzbarer denn je geworden, andererseits ist es aber die simultane 3-D-Show, also das visuelle Element, welches das Publikum überwiegend in seinen Bann zieht. Deshalb mag der eine oder andere (oder auch die eine oder andere) vielleicht trotzdem die Hüften schwingen oder gar Kraftwerk akusmatisch oder auch schizophon (vgl. Harden, 223 f.) mit geschlossenen Augen lauschen und vielleicht dabei auch kenntnisreich goutieren. Als vorherrschender Rezeptionsmodus des multimedialen Geschehens erweist sich denn aber beim Besuch von Kraftwerk-Events – trotz gegebener technischer Reproduzierbarkeit – der kontemplative (vgl. Benjamin 2010 [1936], 70), das ehrfürchtige Bestaunen des aufwendig auratisierten ,Gesamtkunstwerks‘ Kraftwerk mit Hilfe einer recht profan daherkommenden 3-D-Brille.
Erfreulicherweise ist im Zusammenhang mit Mensch Maschinen Musik aber nicht nur von vorhandenen Leerstellen zu berichten, die ein Sammelband zu einem höchst komplexen Thema, wie es die Band Kraftwerk nun einmal darstellt, sicherlich auch zwangsläufig aufweist. Vielmehr macht der bereits erwähnte Beitrag von Heinrich Deisl (Deisl 2018) auf eine gerade in Deutschland bis dato viel zu wenig beachtete Verbindung von Kraftwerk zur afro-futuristischen Traditionslinie aufmerksam. Interessant erscheint auch, dass Herausgeber Schütte die bereits angesprochene kulturhistorische Herleitung der Roboter-Metaphorik von Mensch-Maschine (Kraftwerk 1978) in einem gesonderten Beitrag ausweitet auf „die Geburt des Roboters aus dem Geist des Dramas“ (Schütte 2018e, 303) im Rahmen des Theaterstückes RUR (Rossum’s Universal Robots) von Karel Čapek.
Ein Großteil der Beiträge von Mensch Maschinen Musik erfolgt – um Uwe Schüttes offensichtliche Anspielung auf Friedrich Nietzsche [1] mit Bezug auf ein anderes Werk dieses wichtigen Denkers aufzugreifen- im Modus der monumentalistischen Historie oder ihrer detailversessenen antiquarischen Variante (Nietzsche 2009 [1874]: 20 ff.). Diese (durchaus üblichen) Modi der Pop-Geschichtsschreibung dürften in diesem Falle auch speziell der Grundthese vom ,Gesamtkunstwerk‘ Kraftwerk geschuldet sein. Allerdings sind in Schüttes Publikation erfreulicherweise auch immer wieder Anklänge kritischer Geschichtsschreibung zu finden (a.a.O., 33 ff..), die am allzu oft übergroßen Denkmal und Nimbus der Düsseldorfer Elektro-Pioniere kratzt.
Am deutlichsten wird diese auch grundsätzlich dringend stets gebotene Perspektive (ebda.) im letzten Beitrag des Sammelbandes „Kraftwerk, Kraftwerk unter anderem: Anmerkungen zu einem deutschen Mythos “ (Ullmaier 2018), dessen Platzierung dem Herausgeber hoch anzurechnen ist. Denn in diesem Artikel besitzt der Autor Johannes Ullmaier die Chuzpe „selbst am Mythos mitzustricken“ (a.a.O. 333), anstatt weiter zu versuchen, diesen durch Fakten zu widerlegen, bzw. Korrekturen vorzunehmen. Und so entwirft er ausgangs das erfrischend freche Gegenbild zum dem des kongenialen Künstler-Duos Ralf und Florian: zwei Pop-Unternehmer, die, nach in den Sand gesetztem Start-Up und mehrfachen Korrekturen auf der Basis von Marktanalysen, dann mit Autobahn (Kraftwerk 1974) ihre Marktnische gefunden hatten und die eigene Selbstvermarktung perfektionierten, in deren Verlauf sich sogar noch die deutsche Herkunft als merkantiler Glücksfall erweisen sollte (a.a.O., 342 f.). Denn woher sollten Mensch-Maschinen denn auch stammen, wenn nicht aus dem ebenso bewunderten wie gefürchteten Industrieland Deutschland?! (vgl. Witts 2011).
Derart, im Rahmen des beständig wuchernden Mythos um die Gruppe und dessen Anschluss an Kategorien wie Nation und Identität, betrachtet, kann Kraftwerk dann auch als ,wahrhaft deutsches Gesamtkunstwerk‘ erscheinen. Allerdings zeichnet sich die „deutscheste[…] aller deutschen Musikgruppen“ unter anderem auch durch eine „progressive Austreibung der deutschen Sprache“ (Schütte 2018d) aus ihren Texten aus, wie auch ihre Gesamtästhetik summa summarum ebenso bildungs- wie weltbürgerlich erscheint. Vielleicht ist am Ende der – bekanntlich wagnerisch konnotierte – Begriff des Gesamtkunstwerks dann doch nicht so unpassend zur Umschreibung des eigentlich romantischen Technizismus von Kraftwerk, zumal dieser sich, in nunmehr umfassend medialisierter Form, mittlerweile in den Tempeln der Kunst zu etablieren wusste. Aber zu einer weiteren „Vereinseitigung des Kraftwerk-Mythos zum germanischen Pop-Monument“ (Ullmaier 2018, 334) möchte Mensch Maschinen Musik: Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk dankenswerterweise nicht beitragen.
Anmerkung
[1] In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Nietzsche seine Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik 1871 zunächst Richard Wagner gewidmet hatte, auf dessen Verbindung von (germanischen) Mythen und Musik er auch in der Schrift eingeht. In einem weiteren Vorwort, das aus dem Jahre 1886 stammt, setzte er sich auch kritisch mit seiner vorherigen Wagner-Verehrung und enttäuscht mit dem eigenen nationalistischen Überschwang im zeitgeschichtlichen Kontext der Reichsgründung auseinander (Nietzsche 1993 [1871], 5 ff..). Interessant erscheint, darüber hinaus, dass sich hinsichtlich des von Marcus S. Kleiner auch in Mensch Maschinen Musik (Schütte 2018) vertretene Modells von ,heißer’ und ,kalter’ Popmusik, Bezüge zu Nietzsches Unterscheidung appolinischer und dionysischer Kunst ergeben (Nietzsche 1993 [1871], 19 ff..).
Literatur
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Bibliografischer Nachweis
Uwe Schütte
Mensch Maschinen Musik: Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk
Düsseldorf 2018
C.W.Leske Verlag
ISBN 978-3-946595-01-4
320 Seiten
Timor Kaul promoviert mit seinem Vorhaben „Lebenswelt House / Techno: DJs und ihre Musik“ am Institut für Europäische Musikethnologie der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Darüber hinaus betätigt er sich als freier Autor und Referent vor allem zu Themen der elektronischen Populärmusik.