1968 – Pop, kulturelle Rebellion, Lebenskunst
von Thomas Hecken
2.5.2018

Hippies, Pop-Underground, Neue Linke, Rock, Konsum

[zuerst erschienen in: Thomas Hecken, 1968. Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik, Transcript Verlag, S. 114-115, 121-123, 127-134]

Was Konservative befürchteten, erhofften sich genau umgekehrt die Neuen Linken. Fühlen sich Erstere etwa von den langen Haaren der Jugendlichen abgestoßen und erkennen darin eine Bedrohung der hergebrachten Ordnung, vertrauen Letztere genau in diesem Sinne darauf, dass es sich tatsächlich um weit mehr als eine Änderung im Bereich der Freizeit und des Privaten handelt. Sie sind in positivem Sinne davon überzeugt, dass solche Änderungen insgesamt eine Abkehr von der bislang durchgesetzten Normalität bedeuten und damit eine wichtige Bedrohung der »für den Produktionsprozeß unumgänglichen Disziplin« darstellen (Amendt 1968: 19), aber natürlich ebenfalls der Disziplin, die nötig ist, um die Gesetze und Anweisungen von politischen Führern zu befolgen.

Die Übereinstimmung mit und der Gegensatz zu bestimmten Hippie-Gruppen wird an der Stelle besonders deutlich. Die Übereinstimmungen sind gut unter dem Titel einer Revolution des Bewusstseins bzw. dem der cultural rebellion zu fassen, wie es z.B. bei dem jugendkulturell interessierten Vertreter der britischen New Left Stuart Hall heißt. Umfassender ausgeführt, steht der Titel für die Überzeugung, dass gesellschaftliche Veränderungen zu kurz greifen, wenn sie bloß im Hinblick auf politische Einrichtungen und ökonomisch-rechtliche Verfügungsgewalt durchgeführt werden; unabdingbar sei vielmehr, tiefer in die Anschauungen und Abläufe des Alltagslebens einzugreifen, um den sozialmoralischen Kitt und die Ordnungsvorstellungen, die alles zusammenhielten, aufzulösen: »›society‹ is not only a power ›out there‹ but also a structure inside the head« (Hall 1969: 196f.).

Während die unpolitischen Hippies aber ihre Verweigerung gegenüber der herrschenden Ordnung und ihre Wendung gegen feste Hierarchien als Auszug aus dem gesellschaftlichen System, als Abschied von der Politik schlechthin begreifen sowie als Versuch, innerlich mit sich selbst ins Reine zu kommen, sehen die Neuen Linken alle Änderungen, die an Personen ansetzen, stets in engem Zusammenhang mit einer politischen Umwälzung der bestehenden Institutionen. Grundlegend für diese Konzeption ist die Auffassung, dass autoritär eingerichtete gesellschaftliche Verhältnisse nicht allein auf Zwang und der Herstellung von Abhängigkeiten beruhen, sondern zu ihrer Aufrechterhaltung der massenhaften Stützung durch autoritäre Charaktere weit abseits der Kommandozentralen politischer oder ökonomischer Macht bedürften. »Society not only requires us to ›collude‹ with its values and way of perceiving reality, but helps us to gain deep satisfactions from that collusion«, um erneut Stuart Hall zu zitieren (1969: 197). Der umgekehrte Versuch, bei den Einzelnen darauf hinzuarbeiten, dass die Verhaltensanforderungen der bestehenden Institutionen auf Unlust und Widerwillen stoßen, ist demnach ein bedeutender politischer Akt und nicht bloß eine individuelle Nebensache.

Als Vertreter einer wesentlich älteren Generation begrüßt auch Herbert Marcuse die Auflösung alter Wahrnehmungsstrukturen. Im Zusammenhang damit feiert er sogar eine »neue Sensibilität«, der das Sinnlich-Spielerische und die phantasievoll, aber nicht aggressiv freigesetzte Lust – sprich: das Ästhetische – »als mögliche Form einer freien Gesellschaft erscheint« (1969: 63, 45f.).

Solche ästhetische Praxis mündete dann beim Neubau der Gesellschaft nicht mehr in Kunstwerke, die in ihrer Form zwar der schlechten Wirklichkeit widerstreben, aber unter den Bedingungen der herrschenden Ordnung des Mangels letztlich etwas Irreales und Fiktives bleiben, sondern sie führte direkt zur allseitigen Umgestaltung der Gesellschaft, glaubt Marcuse. In der Aufhebung der Kunst, der Versöhnung des Ästhetischen mit dem Wirklichen gewönne die Kunst ihren traditionelleren technischen Charakter (etwa als Kochkunst) zurück, sie verbände sich aber auch futuristisch mit der enorm angewachsenen Produktivkraft von Wissenschaft und Technik. Noch würden deren befreiende Möglichkeiten systematisch beschnitten, wie man z.B. an den sozialtechnischen Experimenten zur Verhaltenssteuerung, der Erfindung und Produktion von »minderwertigen Waren und luxuriösem Plunder« sehen könne. Aus den Zwängen des ausbeuterischen, destruktiven Systems entlassen, von der neuen Sensibilität durchdrungen, könnte die technologische Phantasie jedoch dazu beitragen, eine Welt aufzubauen, in welcher das Leben seine hässlichen und aggressiven Züge verlöre. Die Reichweite des Ästhetischen würde sich dabei entscheidend verändern; das ästhetische Vermögen fände Ausdruck in der künstlichen Umgestaltung der Lebenswelt (nicht länger ausschließlich in der Hervorbringung von Kunstwerken, die der interesselosen Kontemplation dienen; ebd.: 69f., 62, 54, 72).

Trotz des sehr weitgehenden Verständnisses für die Ablehnung der bürgerlichen Kultur bleibt Marcuse jedoch ein strikter Gegner aller Verfechter einer aggressiven Anti-Kunst-Haltung, die nach dem Vorbild chinesischer Rotgardisten bis zur Zerstörung bzw. zur Verhinderung von Kunstobjekten bzw. -aufführungen gehen kann. Eine allzu starke Unmittelbarkeit, eine radikale, grobe Wendung gegen Form und Verfremdung hält Marcuse bestenfalls für ein Übergangsphänomen. Dazu zählt er neben den Happenings ebenfalls die neue Popmusik. Deren einfache Negation der sublimierten Formen bürgerlicher Kunst besitzt für ihn zudem den Nachteil, relativ leicht vom Markt absorbiert und entschärft werden zu können. Mit dieser Auffassung entfernt sich Marcuse zumindest zum Teil wieder beträchtlich von der Haltung der antiautoritären Bewegung, selbst wenn er große Sympathien sowohl für die friedliche Sinnlichkeit der Hippies als auch für »surrealistische Protest- und Verweigerungsformen« zeigt.

Bemerkenswert an den Hippies, aber auch den meisten jungen Mitgliedern des amerikanischen SDS, ist nun zweifellos deren Vorliebe für die Rockmusik. Sie richtet sich nicht in erster Linie auf musikalisch unterstützte politische Texte und Slogans bzw. Refrains, wie das noch in der ersten Hälfte der 60er Jahre der Fall ist. Am Beispiel Bob Dylans kann man dies sehr gut zeigen, wie es bereits 1966 der junge Aktivist Frank Bardacke vormacht. Den Vorwurf der Linken, Dylan habe mit seinem Griff zur elektrischen Gitarre und dem Verzicht auf klare Botschaften, habe mit der Folkmusik auch seine politische Position als Sänger der Bürgerrechtsbewegung verraten, teilt Bardacke nicht. In den persönlichen, eigenwilligen und verrätselten Texten Dylans erkennt er eine andere, neue Art der Politik:

»The left has been mistaken. It is not only the Negroes who are in chains, but all Americans who are trapped by an uneasy boredom, by loneliness, and by god knows what else. These are the chains that Dylan wants to break. He is convinced that the only way to freedom is through an understanding of his own personal dilemmas. […] Look at our situation. The most important reason why middle class Americans do not act to change their lives is because they can not conceive of a different kind of life. […] This is what is completely missed by those who claim that Bobby Dylan has deserted radical politics and is now acting out the politics of escape. The very first mission of the American radical is to escape. If he does not escape from American values and the American vision of society, then his political activity is meaningless. […] So Bobby Dylan has escaped. He has held onto his dangerous fantasies. And he intends to ›blow their minds‹. In a society where the most important restrictions of freedom are the limitations on consciousness, ›blow their minds‹ is the rallying cry of freedom fighters. It is roughly equivalent to the cry of an older historical period, ›break your chains‹.« (Bardacke 1970: 379f.)

Die Parole des blow your mind kann im Laufe der zweiten Hälfte der 60er Jahre auch wesentlich aggressivere Züge annehmen, etwa wenn 1967 eine Gruppe von politisierten West Coast-Fans der Rolling Stones (»they call us dropouts and delinquents and draftdodgers and punks«) in der Musik der Stones ein Gegenstück zum militanten Aufruhr erkennt (zit. n. Gleason 1969: 72) – oder wenn der Mitbegründer der White Panther in dem high-energy guerilla rock der MC5 einen kulturrevolutionären Anschlag ausmacht (Sinclair 1972: 104f.).

Eine Intensität, die aus dem bürgerlichen Leben herausführt, kann jedoch ebenfalls auf weniger martialische Weise erzeugt werden (und zudem ohne Schlagworte wie street, fighting, kick out, revolution auskommen). Die psychedelische und experimentelle Rockmusik von Grateful Dead oder Pink Floyd löst zum Teil vertraute Songstrukturen der Rock ’n’ Roll- und Beatmusik auf oder verzerrt deren gewohnte Klänge, hält aber an deren Anspruch fest, eine enorme, durchschlagende Wirkung zu entfalten – mit dem bedeutenden Unterschied, dass die angestrebte Intensität weniger punktuell ekstatisch und isoliert reizvoll, sondern ganzheitlich, alle Wahrnehmungsformen und Lebensbereiche einnehmend sein soll. Gegen den »Ruf nach Klarheit in der Popmusik« stellen die psychedelischen Hippies im Namen der Bewusstseinserweiterung das »Mehrfachkodierte«, die Komplexität und die Vielfalt von Bedeutungen, wie Paul Willis (1981: 201) im Rahmen seiner empirischen englischen Studie festhält.

Im erweiterten Bereich der Kunst prägt die angestrebte avantgardistische Aufhebung herkömmlicher Trennungen um 1968 ebenfalls unterschiedlichste Versuche und Projekte, etwa (teilweise auch auflagenstarke) Subkulturzeitschriften, die selbstständig. ohne Einhaltung gängiger professioneller Standards hergestellt werden und eine Ästhetik des Unfertigen, Collagenhaften, Heterogenen, auch Schmutzigen ausbilden.

Ein weiteres bedeutendes Zeugnis der nachhaltigen Bestrebungen, überkommene Trennungen hinter sich zu lassen, liefert die Debatte um die postmoderne bzw. Popliteratur. Der bekannteste Beitrag zu dieser Debatte heißt auch gleich Cross the Border, Close the Gap. Leslie Fiedler, der seine Thesen 1968 bei einem Vortrag in Deutschland vorstellt (1968a; 1968b), wendet sich im Namen einer Postmoderne gegen die intellektualistische, moderne Literatur eines Joyce oder Proust. Im Gegenschlag tritt Fiedler aber nicht einfach für die Produkte der Populärkultur ein. Sein erklärtes Anliegen ist vielmehr, die Lücke zwischen »belles-lettres und pop art« zu schließen. Die gleichzeitige Übertretung der Grenze nach beiden Seiten hin geht zum einen durch die Travestie der klassischen Kunst voran, zum anderen durch die Abwandlung und Neuaneignung populärer Genres wie vor allem Western, Science Fiction und Pornographie, durch die »Übernahme und Verfeinerung [camping] von Pop-Formen«. Verbunden damit ist nach Fiedlers Vorstellung eine Vielzahl weiterer Auflösungen; in solch postmoderner Kultur werde die Kluft zwischen Elite- und Massenkultur überbrückt, die Kluft zwischen der Kunst unterschiedlicher Klassen und Generationen, zwischen Erwachsenen- und Jugendliteratur, Kritikern und Publikum, Profis und Amateuren.

Die jüngeren Anhänger Fiedlers, wie etwa der deutsche Autor Rolf Dieter Brinkmann, widersprechen dem in keinem Punkt, sie sind aber über Fiedler hinaus schnell bereit, die Literatur zugunsten anderer, aus ihrer Sicht unmittelbarerer Reize und Sensationen preiszugeben, für die »Photos von Vogue-Beauties«, die »Glätte … die Oberfläche eines Bildes« oder für die Rockmusik, von Brinkmann umständlich definiert als ein »durch Handhabung hochtechnischer Geräte provoziertes sinnliches Erleben: die Erschließung neuer Gefühlsqualitäten im Menschen« (1983: 399, 388, 393).

Solche Ansichten gehen zurück auf Marshall McLuhans in der zweiten Hälfte der 60er Jahre stark beachtete Spekulationen über eine neue televisionäre Ära des gleichzeitigen total involvement aller Sinne, welche das alte Zeitalter der mit dem Buchdruck verbundenen Rationalität glücklich ablöse; im Gegensatz zu dem starren Auge, das auf die Verfolgung linear angeordneter Wordsequenzen fixiert sei, beziehe das Fernsehen wie alle anderen elektrischen Phänomene die beweglichen Sinne in einem hohen Maße ein (McLuhan/Fiore 1996: 61, 44, 125). Entsprechend feiern intellektuelle Parteigänger die Rockmusik – »it engages the entire sensorium« (Anderson 1968: 61) –, sie können aber auch »flickering TV beauties with all the subliminal delights of pulsating Coke ads« schätzen (Wagner 1968: 234).

Als Absagen an ein ästhetisches interesseloses, weitgehend unkörperliches Wohlgefallen stellen solche Pop-Thesen einen klaren Affront bildungsbürgerlicher Kunstauffassungen dar. Weil sie wegen ihrer postulierten Abneigung gegen narrative und traditionell sinnstiftende Zusammenhänge zudem vielen Formen der Populärkultur (z.B. Hollywoods) entgegenstehen, kann sich »Pop« am Ende der 60er Jahre als neue Variante der Avantgarde verstehen. Pop und Underground stimmen augenblicklich überein. Der Schock, den z.B. die manchmal glatt stilisierten, zumeist jedoch unordentlichen Adaptionen pornographischer Vorlagen bei einem herkömmlich kunstsinnigen Publikum auslösen, das Unverständnis dieses Publikums gegenüber laut mäandernder Musik und irritierenden, nervös machenden Lightshows bestärkt die Anhänger der Pop-Avantgarde in ihrem Selbstverständnis, Teil einer Gegenkultur zu sein, die mit ihrer Absage an die bürgerliche Autorität und Ordnung einen – im erweiterten Sinne der neulinken Auffassungen jener Zeit – eminent politischen Charakter besitzt.

Elle-Schönheiten, die (in einem Godard-Film) aus brennenden Autowracks kriechen, Gerümpel, Flohmarkt-Ästhetik, aber auch neueste technische, artifizielle Geräte, die Musik der Mothers of Invention, die »Titten einer 19jährigen«, Jim Morrisons exaltiert-intime Bühnenshow, Texte, die das Nebensächliche zur Hauptsache machen, »taumelige psychodelische Gebilde«, Auflösung der Geschlechteridentität, eine von den Konditionierungen der Sprache, der abstrakten Begriffe gelöste Sensibilität – das alles findet man bei Brinkmann (1983) unter dem Schlagwort eines »totalen Angriffs auf die Kultur« versammelt.

Die antiautoritäre Überzeugung, dass es äußerst wichtig sei, nicht allein die Institutionen zu verändern, wird dadurch aufrechterhalten. Sie wird aber ebenfalls zugespitzt, politisch-ökonomische Bedingungen spielen in den Texten solch westlicher Kultur-Revolutionäre kaum mehr eine Rolle; und sie erfährt ein zeitgenössischeres Design, sie bekommt verstärkt den Habitus und das Outfit der aktuellen jugendlichen Rock-Subkultur zugewiesen, zu der auch (vorgeblich) subversive, reizstarke Ausrisse und Entlehnungen aus dem konventionelleren Bereich von Pop und Pornographie gehören.

Die kritische Einschätzung liegt darum nahe, dass die auffälligen Abgrenzungen, Reizsteigerungen und hedonistisch-nonkonformistischen Lebensentwürfe der Rock- und Underground-Szene recht leicht vereinnahmbar seien, dass sie gegen ihre erklärte Absicht jener stets auf Neuerungen und Distinktionen angewiesenen kapitalistischen Konsumkultur tatsächlich eine attraktive, kommerziell hochgradig nutzbare Vorlage lieferten – zumal die neue Szene die reichhaltigen Facetten und Produkte eines ganzen Lebensstils umfasst, ohne dass deren Symbolgehalt direkt mit einer parteipolitischen Richtung verbunden ist, sondern diffuser als Ausdruck der Jugendlichkeit und Offenheit gelesen werden kann. Auf ausführliche Abhandlungen dieses kritischen Tenors trifft man in den letzten Jahren häufiger; vielleicht aus Unkenntnis (wahrscheinlich eher um die Originalität der eigenen Ansicht zu bewahren) bleibt in ihnen jedoch fast durchgängig unerwähnt, dass solche kritischen Überlegungen bereits in der subkulturellen Szene selbst und ebenfalls bei den Neuen Linken einen bedeutenden Platz eingenommen haben.

Der anti-kommerzielle Impuls ist bei ihnen allen stark ausgeprägt. Dies bleibt von ihrer Seite auch zumeist kein bloßes Lippenbekenntnis, welches durch den eifrigen Konsum von Waren nach eigenem alternativen Geschmack als wohlfeile Phrase entlarvt würde; die Abneigung betrifft keineswegs allein Konsumgegenstände nach Geschmack des Spießers. Angeschmutzte oder eingerissene Hosen und Hemden, Kleidungsstücke aus zweiter Hand, karg möblierte Zimmer, unfrisierte Haare belegen die Bemühungen, zu einer ständigen profitablen Ersetzung von Waren aus bloßen modischen Gründen zumindest auf der Käuferseite selbst keinen Beitrag leisten zu wollen. Um ein frühes Beispiel der gängigen Kritikformel anzuführen: Kurz nach der Eröffnung des Psychedelic Shop 1966 in San Francisco wird dem Besitzer unmissverständlich mitgeteilt: »You’re selling out the revolution … You’re putting it on the market« (zit. n. Anderson 1994: 196).

Gründe für den negativen Bescheid sind reich an Zahl. Erstens glauben auch diejenigen, welche grundsätzlich den materiellen Fortschritt und den Überfluss an Gütern begrüßen, dass die »Ideologie des Konsumierbaren« die Waren wie ein Fabrikationsfehler entstelle, weil ihre Aneignung in dem Zusammenhang nur zur vorherrschenden Passivität und zur Aufrechterhaltung der zu ihrem Erwerb notwendigen, entfremdenden Lohnarbeit beitrüge. Der Gebrauchswert selbst der Kunstwerke, nämlich ihr aufklärerischer Gehalt, werde durch die kapitalistische Kulturindustrie ausgehöhlt; der Tauschwert ihrer Produkte bemesse sich an Kriterien der Seltenheit, der Virtuosität sowie des Reizwerts von Modeerscheinungen.

In einer zweiten, schwächeren Ausprägung des Arguments nehmen viele Angehörige der Subkultur an, die von ihnen favorisierten Dinge und Einstellungen würden von kommerziellen Unternehmen (und parlamentarischen Parteien) nur aufgegriffen, um sie zu verwässern; diesen Vorgang fürchten sie als falsche Form der Vereinnahmung, der graduellen Verbreitung ihrer Vorstellungen können sie nichts Positives abgewinnen.

Das Ausmaß des Erfolgs gegenkultureller Aktivitäten bei einem Publikum außerhalb der Szene wird darum äußerst besorgt registriert. Solchen Erfolg interpretieren die Anhänger des Pop-Underground keineswegs als Anzeichen einer begrüßenswerten Liberalisierung des Geschmacks und der Meinungen. Sie distanzieren sich oftmals sogar nicht nur von solchem ›Erfolg‹ mit dem Argument, es handele sich bloß um eine abgeschwächte, verfälschte Variante ihrer Bestrebungen, sondern sie fassen ihn als Hinweis auf, zu wenig radikal agiert zu haben.

So klagt Ralf-Rainer Rygulla, ein Mitstreiter Rolf Dieter Brinkmanns, etwa: »Warhols letzter Film über lesbische Mädchen und süchtige Schwule wurde von der offiziellen Kritik wohlwollend aufgenommen. Die Massenmedia nehmen sich Learys LSD Parties an.« Seine Schlussfolgerung und endgültige Forderung lautet deshalb: »Der kulturelle countdown muß beschleunigt werden« (zit. n. Ohff 1968: 38). Dadurch soll der Umschlagspunkt, an dem keine Vereinnahmung mehr möglich ist, herausgefunden werden, wie es sehr pointiert in der Frage eines amerikanischen Kritikers zum Ausdruck kommt: »But how much spontaneity, rebelliousness and sexuality can this society absorb?« (Cohen 1970)

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Man könnte meinen, die Frage lasse sich im Sinne des antiautoritären, avantgardistischen Programms der Aufhebung konventioneller Grenzen bündig beantworten. Der wirklich rebellische Punkt wäre dann erreicht, wenn die als nonkonform oder revolutionär eingeschätzten Aktivitäten sich nicht auf die Freizeit oder Privatsphäre und schon gar nicht auf den Kauf von Produkten mit gegenkulturellen oder antiautoritären Inhalten beschränkten. Immerhin gibt es ja um 1968 neben den vielen hochinteressanten Gruppen, die in verschiedenster Weise die Beschränkungen eines Genres mit neuen Verknüpfungen und Mischformen überwinden – Byrds, Grateful Dead, Mothers of Invention, Flying Burrito Brothers, Incredible String Band, Beach Boys, Tony Williams Lifetime, Miles Davis – tatsächlich bereits auf Seite der Produktion ein Label, das die Aufnahmen ganz von den Künstlern bestimmen lässt (ESP; mit solch außergewöhnlichen Ergebnissen wie den LPs von Sun Ra, Albert Ayler, Holy Modal Rounders oder Patty Waters), oder Musiker, die sich als Kollektiv verstehen (das Art Ensemble of Chicago, das Jazz Composers Orchestra).

 

Selbst solche und vergleichbare andere Unternehmungen gelten jedoch am Ende der 60er Jahre nicht allen als hinreichend. Die öffentliche Politisierung des (im bürgerlichen Sinne) Privaten sowie eine Aktivität, die über den passiven Konsum von Artefakten weit hinausreicht, ist aus Sicht der meisten Neuen Linken noch lange kein zuverlässiges Anzeichen für die umwälzende Kraft solcher Handlungen: Die »Ausweich- und Weigerungs-Proteste« der Provos, Hippies, Kommunarden könnten relativ leicht als skurril und exotisch aufgefasst und damit ihres politischen Potentials beraubt werden; auf die Art und Weise sei es möglich, sie zum Beleg scheinbarer Liberalität in »kontrollierten Spielräumen einer manipulierten Freiheit« zu tolerieren und ihre Protestattitüden und -symbole wiederum für ein breiteres Publikum »konsumfähig« zu machen (Neusüss 1968: 63).

Oftmals wird die entsprechende Kritik am Beispiel der sog. freien Sexualität formuliert. Auch die Kommune I muss sich vorhalten lassen, an ihnen zeige sich der »Warencharakter der kollektiven Liebe« (Salvatore 1968: 111). Direkt verbunden mit diesem Argument ist in der Regel ein zweites, das sogar noch stärker das Selbstverständnis der Antiautoritären insgesamt betrifft: Aus dem Versuch der Provos und radikalen Hippies, die gesamte bürgerliche Kultur und mit ihr die Institution der Familie zerschlagen zu wollen, gingen letztlich weder wahrhaft antiautoritäre Charaktere hervor noch würde dadurch die kapitalistische Ordnung substantiell herausgefordert (Reiche 1971: 156). Dieser Einwand der Neuen Linken liegt ganz auf der Linie der Frankfurter Schule; Horkheimer hatte bereits frühzeitig darauf verwiesen, dass die Auflösung der bürgerlichen kulturellen Werte und Ordnungen von der Wirtschaft selbst betrieben werde (1977: 359); und hinter Herbert Marcuses viel zitierter Formel von der »repressiven Entsublimierung« verbirgt sich genau diese Einschätzung; wiederum am Beispiel der Sexualität besagt sie, dass eine Lockerung sexualmoralischer Verbote keineswegs automatisch zu einer Versöhnung von Lust, Spiel und befriedigender Arbeit führen muss, sondern, wie gegenwärtig, Anfang der 60er Jahre, schon gut zu beobachten sei, zu einer Sexualisierung der Öffentlichkeit, die ganz im Sinne  moderner Konsum- und Leistungsimperative liege (1989: 94).

Aus Sicht der an Marcuse geschulten Neuen Linken bilden viele antiautoritäre Bestrebungen darum gar keinen Gegensatz zur zeitgenössischen Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft. Die moderne, an der Konsumsteigerung ausgerichtete Ökonomie benötige nun hedonistischere und zugleich flexiblere, auf wechselnde Reize reagierende, immer wieder neu manipulierbare Charaktere, nicht mehr den puritanischen Menschen, der an den väterlich-autoritär eingepflanzten Pflicht- und Tugendidealen um ihrer selbst willen festhält (Böckelmann 1987: 34ff.; Horn 1969: 334ff.). Die Gefahr der antiautoritären, radikalen Revolte gegen die Formen bürgerlicher Autorität bestehe folglich darin, gegen die erklärte eigene Absicht doch nur ich-schwache, zu konzentrierter, entsagungsreicher politischer Arbeit unfähige Personen hervorzubringen (Reiche 1971: 157), die sich zudem den erotisierten Lockungen der Waren-Werbung kaum entziehen könnten (Jaffe/Dohrn 1970: 358).

Vor allem den vielen jungen, gerade an den Formen der neuen Rockkultur interessierten Anhängern der Protestbewegung wird so bedeutet, dass sie mit ihrer Herausforderung konservativer Eltern, Lehrer, Vermieter, Professoren, Feuilletonisten eigentlich nichts anderes als überlebte Generationen treffen, deren rigidere, puritanische und autoritäre Vorstellungen und Verhaltensmuster bereits der kapitalistisch-liberalen Zersetzung ausgesetzt seien und darum ohnehin bald vergessen wären. Auch von dieser Seite her steht demnach die Beschreibung der 68er als einer Bewegung, die für mehr Liberalität und offenere Umgangsformen gesorgt habe, in Zweifel. Wie auf der anderen Seite bereits gesehen, zielten die antiautoritären Anläufe der 68er keineswegs darauf ab, Freiräume für die Entscheidung von Individuen zu schaffen, sondern genau umgekehrt darauf, die Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem zugunsten einer ganz spezifischen Ausgestaltung aller Arbeits-, Freizeit-, Gesellschaftsbereiche aufzuheben, einer Ausgestaltung, die überall die Bedingungen für ein Leben ohne hierarchische Strukturen und ohne persönlichen ökonomischen oder sexuellen Besitz schaffen soll. Liberale Wirkungen können den 68ern also höchstens indirekt zugestanden werden, man kann allenfalls von Effekten sprechen, die sich gegen ihre erklärten Absichten, wegen des Widerstands und der Moderation anderer gesellschaftlicher Kräfte, eingestellt haben.

Folgt man den Argumenten der Marcusianer, kann man nun über die antiautoritären Aktivitäten um 1968 nicht einmal behaupten, dass sie einen bedeutenden Anstoß zu der in den 70er Jahren dann auf breiterer Front strafrechtlich, pädagogisch und alltäglich vollzogenen Liberalisierung der Sitten und Verhaltensregeln gegeben hätten. Für diese These spricht, dass die diagnostizierte Umstellung von einer puritanischen zu einer fun-Moral bereits in den 50er Jahren zu einem Gemeinplatz der amerikanischen Soziologie und des modernen Marketing zählt. Für die These spricht ebenfalls, dass der bestimmende, unter den jungen Leuten erstmals schnell schichtenübergreifende Poptrend der 60er Jahre, nämlich die englische Mod- und Beatmusik, anfänglich ganz ohne die Zeichen und Ideologeme amerikanischer Gegen- bzw. Hippie-Kultur auskommt und gleichwohl direkt gegen konservative Einstellungen gerichtet ist. Schon die frühen Filme der Beatles sind durch nichts so geprägt wie den Anspruch und den Gestus, die seriöse, erwachsene, autoritätsfixierte Welt respektlos und albern-unpolitisch in die Schranken zu weisen. Teilweise ähnlich geartete, aber natürlich sich auf ganz andere Weise vollziehende Verschiebungen im juristischen und parteipolitischen Feld ab Mitte der 60er Jahre verstärken den Eindruck, dass auch ohne die avantgardistisch-politische, illiberale Überhöhung und Generalisierung des antiautoritären Prinzips eine Verbreiterung des Wählbaren und Möglichen, des Widerspruchsrechts und der Diskussionspflicht erfolgt wäre (wie es auch von einzelnen Antiautoritären damals bereits gesehen wird; Böckelmann 2000: 50).

Charakteristisch für solche Prozesse der Liberalisierung ist, dass sie zum einen den Spielraum der Individuen erweitern, bei ihren privaten Entscheidungen, in ihrer Privatsphäre ein größeres Maß an Eigenständigkeit gegenüber staatlichen Institutionen oder gesellschaftlichen Gruppen bzw. deren religiösen, sexualmoralischen u.a. Ansprüchen zu wahren – und zum anderen, dass sie die private Verfügungsgewalt über das Eigentum ebenso unangetastet lassen wie das Prinzip indirekter, repräsentativer Demokratie. Gegen genau all das richtet sich der Einsatz der radikalen Antiautoritären. Ihre Agitation wider manche konservative oder reaktionäre Position läuft darum keineswegs auf eine liberale Haltung hinaus; im Gegenteil, liberale Errungenschaften, wie etwa vergrößerte Wahlmöglichkeiten auf dem Felde der Kultur und der Konsumgüter sowie im Rahmen der eigenen Lebensführung, müssen ihnen sogar als Teil einer besonders perfiden Strategie erscheinen, die Bevölkerung ruhig zu stellen und im Banne von Scheinfreiheiten zu halten. Was sie wollen, ist nicht eine Wahlfreiheit zwischen Produkten, politischen Parteien oder bestimmten privaten Lebensformen, sondern eine ganz bestimmte Gesellschaft ohne feste familiäre und hierarchische Strukturen, ohne fixierte Eigentumstitel und individuelle Entscheidungsbefugnisse, mit allgemeinen Partizipationsmöglichkeiten auch in den Bereichen der Ökonomie und der konkreten politischen Gesetzgebung.

Darüber sind sich in manchmal klar artikulierter, manchmal eher intuitiver oder konformistischer Manier die beiden Ausprägungen der antiautoritären Bewegung einig, sowohl das organisiertere, etwas traditioneller politisch argumentierende Lager als auch jene viel größere, aber diffusere, zu Teilen lediglich medial oder über den gemeinsamen Kleidungsstil vergemeinschaftete Gruppe der Rockmusikanhänger und (ideellen) Aussteiger, die sich nicht wie einige Teile der Hippies als vollkommen antipolitisch verstehen. Einigkeit besteht auch darüber, dass bereits hier und jetzt durch antiautoritäre Verhaltensformen die große, gesamtgesellschaftliche Umwälzung zumindest teilweise vorweggenommen und symbolisiert werden soll. Zwar stehen die Theoretiker und Politiker der Neuen Linken den vehementen Versuchen, abseits der Arbeits- und Ausbildungsstätten Bereiche eines von Lohnabhängigkeit, institutionalisierter Autorität und konventioneller Moral unabhängigen Lebens zu etablieren, häufig reserviert gegenüber, auch wenn sie viele Elemente daraus ebenfalls in ihre eigene Lebenspraxis aufnehmen; die Auffassung, dass es unmöglich sei, im bestehenden falschen kapitalistisch-demokratischen System ein richtiges Leben zu führen, und die damit direkt verbundene These, dass gegenkulturelle Entwürfe relativ leicht manipulativ vereinnahmt werden könnten, liefern oftmals den Grund für die Reserve. Die Differenz ist aber demnach nur eine zeitlich begrenzte; unter anderen politischen, ökonomischen Bedingungen müssten viele Lebensformen der radikalen Hippies, Kommunarden und Underground-Aktivisten uneingeschränkt im Mittelpunkt der dann ununterscheidbaren antiautoritären Alltags-Politik stehen.

 

Literatur

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Online-Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des transcript Verlags.

Thomas Hecken: 1968. Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik, Bielefeld 2008.